Tilmann Moser

Die täglichen Schrecken des Weltgeschehens

Wie lässt sich die tägliche Text- und Bilderflut verarbeiten?

Tilmann Moser (2014)

Wegschauen und Weglesen: Goethe hat die Seelenruhe des Spießers auch in der damaligen Zeit von Kriegen und Katastrophen unnachahmlich im Faust in Worte gefasst: „Wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen…“, um sich damit abzufinden, wie geschützt sich viele Zeitgenossen fühlten in ihrer Bierruhe. Es kam ja noch hinzu, dass alle Nachrichten nur mit unterschiedlich großen Verzögerung in die Öffentlichkeit drangen, höchstens von phantasiereichen Zeichnungen oder Stichen untermalt. Das schonende Filter war also groß. Heute stürzt uns alles von Tag zu Tag, von Stunde, von Minute ins Haus, in vielen Fällen durch die aktuelle Fernsehberichterstattung vom Ort des Geschehen aus, quasi zeitgleich, und wenn wir nicht sofort ausschalten, sind wir den Bildern oder den aktuellsten Rundfunknachrichten ausgeliefert, auch wenn sie dadurch oft schon redaktionell „aufbereitet“ erscheinen. Wer es nicht für sich selbst dosieren lernt, erliegt der Überschwemmung, mit welchen Folgen?

Die Möglichkeiten, unter anderen:

Wegschauen und Weghören, oder Weglesen; auf Gleichgültigkeit Schalten; immer wieder entsetzt Sein; oder empört; oder Partei Ergreifen, als ein Wut und Ohnmacht kanalisierendes und entlastendes Scheinhandeln; den Schrecken Aufnehmen, ohne zu wissen, wo er in der Seele, wissend oder im Unbewussten, sich sammelt und häuft; sich der Resignation Ergeben; ihn in die Träume Mitnehmen; Diskutieren mit Freunden zur Entlastung; aber auch: sich einer Schreckens- und Grausamkeits- und Zerstörungsneugier überlassen, ja sie sogar zu suchen, weil sie inneren Zuständen und Konflikten entsprechen; Mitleiden oder Mitschauern, je nach der Perspektive oder Identifikation: Täter oder Opfer oder beides gleichzeitig.

Wie kann man sich, auch wenn man willens sich, laufend informiert zu sein, den täglichen Strom konsumieren, aushalten, verdauen, bewältigen, verdünnen, filtern. Welche Art von Interesse vermag man aufzubringen? Hilft die Haltung: Was geht mich das an, es gibt für mich und hier im Land genug Probleme. Und ist Ablenkung unmoralisch? Und nach welchen Maßstäben. Ja, die ethischen Maßstäbe geraten durcheinander, und zuletzt ist man ratlos obendrein, weil quer durch die unübersichtlich grausamen Fakten die Orientierung fehlt. Bei ungebremster Auslieferung drohen Abstumpfung oder Schlaflosigkeit, Dauererregung, schlichter Überdruss oder Lähmung.

Die psychologische Forschung über die Judenschlächter hinter der Front, die „ganz normalen Männer“, wie ein Historiker sie nannte, die aus der heimischen Polizeiroutine unvorbereitet in die Ausrottung geschickt wurden, hat ergeben, dass die traumatischen Erinnerungen zum Teil behandelt wurden, als sei man nur in einem Horrorfilm gewesen und sei glücklicherweise wieder zuhause, man war ja außerdem noch durch den reichlich verabreichten Schnaps ja ziemlich angetrunken gewesen. Und Befehl war doch Befehl. Mitleid war nach Hitlers und Himmlers Reden schon Verrat am Vernichtungskrieg.

Also: die Arten seelischer Gegenwehr sind vielfältig, eine haben die Mitscherlichs mit dem Ausdruck „Entwirklichung“ benannt, dass heißt, den affektiven Bezug auf beinahe Null herunterschrauben, weil die eigene emotionale Kapazität nicht ausreicht zum bewältigen: ein Mechanismus, auf den man in vielen Psychotherapien stößt, wenn die Erlebnisse nicht aushaltbar waren. Alternativ: erstarren, depersonalisieren oder eben verrückt werden, wenn Abstumpfung nichts mehr nützt.

Wie die heutigen Zeitgenossen auf den schrecklichen Dauer-Informationsfluss kollektiv reagieren, bedürfte noch gründlicher Erforschung: noch ist nicht von massenhafter Angst die Rede, das Übel scheint eher schleichend; die Konsumlaune schwankt nur geringfügig, der Ablenkungs- und Reisemarkt boomt, es gibt die neue Edelfresswelle und die unaufhörlichen Kochkurse am Fernsehen, das grüne Weltrettungsengagement, usw. Und wer Aktien besitzt, der erlebt Aufregung und möglichen Schrecken beim Börsenbericht oder beim Lesen der täglich ins Haus flatternden Tabelle. Hier findet man eine ganz neue Form der besorgten Teilnahme an den Frontverläufen und der eher hilflosen Häufung der friedenssuchenden Tagungen der Außen- und Verteidigungsminister oder der Regierungschefs. Der Faszination des Schrecken steht dass Auf und Ab der Hoffnungen oder der Verlautbarungen der hochrangigen Hoffnungssucher.

Was die gegenwärtigen Dramatisierungen: Putin und die Ukraine, der vorwärtsstürmende Terrorismus der Islamistengruppen, die drohenden oder schon in Gang befindlichen Bürgerkriege usw. zusätzlich auslösen werden, ist noch weitgehend unbekannt, bis auf das zunehmende Kurzittern der Börse kurz vor dem derzeitigen Hochstand, volatil heißt der Fachausdruck. Das Geschachere um die Wirkung oder Erhöhung Sanktionen gegen Putin bietet ja auch spannende Ablenkung und ausreichend Diskussionsstoff zwischen Hoffnung und Zynismus.

Überhaupt Zynismus: Für viele ist er bereits eine letzte Zuflucht geworden, als die bitterste Variante der Abkehr vom politischen Interesse. Und da über uns schon lange kein sorgender Gott waltet, der unsere Geschicke nach seinem uneinsehbaren Rat und Willen lenkt, neigen sogar zuletzt die Kirchen dazu, Waffen in bedrohliche Kriegsgebiete zu schicken, um ein wenig Hoffnung und verzweifelte Stärke gegen die Angst zu setzen.

Was ist gegen die Überflutung des Schreckens zu tun?

Eines wurde schon genannt. Das Wichtigste ist die Dosierung mit der Frage: Wie viel an Information und Schau traue ich mir zu, wie viel brauche ich, um mich informiert zu fühlen, wie viel Lust am Grauen steckt in mir, wahrlich keine überflüssige Frage angesichts der massenhaft konsumierten Krimis (die ja auch wegen dem sicher zu erwarteten polizeilich guten Ende gesucht werden) und den immer grausamer werdenden Ballerspielen; wie viel neurotische Anteile hindern mich, den Ausschaltknopf zu drücken oder die Zeitung im die Ecke zu schleudern?

Was wäre der Konsum von Märchen mit ihrer Grausamkeit ohne die Lust am Gruseleffekt? Wie viel unverdaute und unbewusst Racheaffekte finden sich in mir, das tägliche Brot des Psychotherapeuten, der auf Hass auf Menschen auch Hass auf die Welt gehört, die vernichtet gehört, mit dem Hass der Gekränkten und Betrogenen, der so vielen zu eigen ist.

Also, was könnte helfen? Mit selbst helfen Gespräche, Diskussionen, um den Irrsinn wenigsten zu verstehen. Um mich bitter damit zu trösten, wie hilflos und desorientiert derzeit die Staatsmänner erscheinen, die einen Ausweg finden oder wenigstens versprechen müssten. Lange habe ich das viele Lesen und Zuschauen für eine staatsbürgerliche Pflicht de Information gehalten. Ich schraube meine Pflicht herunter, was die öffentlichen Hinrichtungen angeht, die angedeuteten Folterszenen, die Einschläge von Granaten und Raketen, der Einsturz ganzer Stadtteile. Ich über mich im Dosieren und im Diskutieren, um nüchtern zu bleiben ohne zu ersticken.