Tilmann Moser

Doppelübertragung

Tilmann Moser (2013)

Alle Psychoanalytiker wissen, dass Übertragungen sich oft fast mit Urgewalt in den Vordergrund, aus dem Unbewussten ins Vorbewusste drängen, und damit verstehbar werden, wenn der Therapeut fähig ist, sie zu entziffern und zu deuten, vorausgesetzt, er hat genug Assoziationen, Träume, Verhaltens- oder körperliche Hinweise erhalten. Es mag ihm auch sein bisheriges Wissen über die Lebensschicksale des Patienten zuhilfe kommen, seine Intuition, oder Gegenübertragungsgefühle, deren Impulse ihm zuerst vielleicht fremd, vielleicht bekannt vorkomme. Sie wissen auch, dass oft mehrere Übertragungen gleichzeitig darauf warten, aktiviert und erkannt zu werden. Verschiedener Anlässe, die als Trigger wirken, können zu abrupten Übertragungsveränderungen führen, etwa wenn bei länger dauernder Vaterübertragung durch eine Ereignis, das ein Erlebnis mit der Mutter erinnert, diese als Übertragungsfigur in den Vordergrund rückt.

Ein Hilfsmittel zu Entzifferung eines “Übertragungssalates“ kann es bedeuten, die in Frage kommenden, manchmal miteinander um Priorität rivalisierenden Introjekte auf leeren Stühlen simultan präsent zu machen, ein Verfahren, dass in der klassischen Analyse noch viel zu wenig zur Orientierung in verwirrenden Konstellationen benutzt wird.

Die Übertragungsfiguren können sich psychisch auf einer ähnlichen Etage im Unbewussten gespeichert sein und auf Entdeckung warten, soweit sie sich nicht längst vorgedrängt haben und das Klima der Therapie massiv bestimmen. Nicht selten sind massive Übertragungen auf verschiedene Personen auch auf weit auseinander liegenden Etagen angesiedelt, Beispiel: eine unbewusste prägende Erinnerung an ein Klima zwischen Mutter und erstem Kind aus dem ersten Lebensjahr, und eine Übertragung auf die Mutter, die durch ein drittes Kind vier Jahr später sich vom Erstgeborenen auf entwertende Weise abwendet. Es ist das typische Schicksal von mehrfach entthronten Kronprinzen oder Kronprinzessinnen. Der Patient kann gelegentlich schwelgen im Gefühl früher Verschmelzung mit dem Analytiker; dann beobachtet er den für seine Wahrnehmung fröhlich triumphierenden Gesichtsausdruck seiner Vorgängerpatienten auf der Couch oder dem Sessel, und es durchfährt ihn ein stechender Schmerz, den er noch nicht orten kann, der aber ein Ergebnis seines Gefühls unaufhebbarer Zurücksetzung durch die Mutter ist. Wenn er Glück gehabt hat und in der Analyse weiter Glück hat, bemerkt er beim Abschied, wie sehr ihn eine bestimmte Geste des Therapeuten ihn plötzlich an tröstende Spaziergänge mit dem Vater erinnert zu jener Zeit, und er fühlt sich von seinem Schmerz abgelenkt, liebevoll an der Hand genommen und vorerst gerettet vom emotionalen Absturz. Es hat sich zu den zwei Mutterübertragungen ein positives Vaterfragment eingestellt, das ihn damals vielleicht gerettet hat vor einer schlimmen und dauerhaften Prägung durch den Verrat der Mutter. Es können weiter Übertragungsteile dazu treten, die Sache verkompliziert sich, wenn sich eine tief verborgene Rachebindung an die Mutter darunter schiebt, die aber aus Überlebensgründen noch tiefer verdrängt werden muss. Und die oft mühsame Bindung an den oft abwesenden Vater kann überlagert werden durch eine wiederum abgespaltene Idealisierung als den verständnisvollen Retter aus der Entthronungsnot.

Das nicht leicht zu überschauende Übertragungsbündel kann sich beliebig komplizieren durch die Beziehung zu den Geschwistern, zu Hausmädchen, intime Schulfreunde, Großeltern, kultisch verehrte Stars oder je nach religiösem Hintergrund der Familie Beziehungen zu Gott, Jesus oder Maria.

Es gibt außerdem durchaus wirksame Übertragungsmöglichkeiten auf das Klima der Elternehe, das Selbstverständnis der Familie nach außen, und andere Variablen, die ebenfalls je nach Trigger aktiviert werden können.

Nicht alle Übertragungen werden auch in einer langen Analyse gleich gründlich angegangen werden können. Es ist aber sinnvoll, im Laufe der Arbeit immer wieder einmal nachzufragen, in welchem Seelenregal sich die verschiedenen Inrojekte befinden, ob sie ruhig gestellt sind oder sich in Träume und überraschende Befindlichkeiten einmischen. Er gibt also nicht nur sich kompliziert durchmischende Doppel- , sondern auch Mehrfachübertragungen, deren Schicksal eng mit dem Grad der Kooperation oder des Widerstandes zusammenhängen, weil es diesem gelingen kann, sie gegeneinander auszuspielen, das Tempo zu verlangsamen oder den Analytiker zu verwirren.

Wenn man einem Patienten erklärt, dass der Therapeut gelegentlich eine zusätzliche Orientierung braucht über das Gestrüpp der Übertragungen, so erhält man leicht die Zustimmung zur Inszenierung der komplizierten Verknotungen. Wenn Analytiker und Patient das Coucharrangement als feststehendes Setting nicht aufgeben wollen, weil sie Störungen befürchten oder einen Wechsel in den vorübergehend veränderten Rollen nicht eingehen wollen, so bietet es sich auch an, im Liegen den Stand der Übertragungsbeziehungen zu den Introjekten nacheinander anzusprechen. Auch dies kann zunächst Erstaunen auslösen bei ersten Mal, aber beide Partner werden belohnt durch einen wachsenden Überblick über die noch anstehende Konfliktspannung zu den betroffenen Personen. Im Zusammenhang mit der vieldiskutierten und vielschichtigen Frage der „negativen therapeutischen Reaktion“ verweise ich nur andeutend auf die Wirksamkeit einer sehr geheimen Übertragung, der ich den Namen eines Introjekts gegeben habe: Es ist der „Saboteur“ des Fortschritts der Behandlung, und man ist schon ein gutes Stück weiter mit der Erhellung einer destruktiven Doppel- oder Mehrfachübertragung, wenn man ihn mit Namen und Funktion dingfest gemacht hat, in der Hoffnung, seinen Ursprung und seine Macht zu entschlüsseln und zu bekämpfen. Hinter seiner Existenz können sich aber wiederum eine Vielfalt von hemmenden Faktoren verstecken.

Den Anlass zu diesen Überlegungen bekenne ich mit leichter Beschämung: über ein Jahr arbeitete ich vierstündig pro Woche mit einer 45-jährigen Psychotherapeutin, die seit sehr früher Jugend den Zugang zu ihren Gefühlen verloren hatte. Sie war, obwohl erstes Kind, als Mädchen unwillkommen, eine in einer Kampfehe verbitterte Mutter ließ sie die Last spüren und verlangte dennoch aufopferungsvolle Hilfe der Tochter gegen ihre Krankheiten, ihre Lebensenttäuschung und Depression. Der Vater erwählte sie dagegen zu seinem Harzblättchen, unter der Bedingung, dass sie extrem fügsam sich seinem Willen unterwarf, seine Ansichten teilte und ihn damit stützte in seinem zerbrechlichen Selbstbewusstsein. Sie wurde sozusagen sein seelisches Eigentum, einschließlich einer wachsenden übergriffigen, aber nicht körperlich ausagierten erotischen Inanspruchnahme, die ihr aber von Anfang an zuwider war, aber gegen die sie sich zunehmend durch Nichtbeachtung der übergriffigen Anspielungen zu wehren wusste, wenngleich um den Preis der Nichtbeachtung und der strafenden Abwendung. Zwischen den Eltern tobten, neben der spürbaren wechselseitigen Entwertung, ideologische Kämpfe religiöser Art, sodass sie immer zerrissen war zwischen den wechselnden Loyalitäten und stets des Verrats des jeweils anderen Elternteil bezichtigt wurde. Es gab kaum Gespräche, dafür oft erbittertes Schweigen oder hasserfüllte Ausbrüche der Mutter mit viel Geschrei und Schlägen. Das Mädchen gewöhnte sich an, „nichts zu fühlen“, was die schlagende Mutter noch mehr in Rage brachte.

Die Patientin kam oft leblos und tief resigniert in die Stunde. Sie hatte eine langjährige Analyse absolviert, ohne ins Leben zurückzufinden. Sie liebte so abgöttisch wie dienend ihre zwei Kinder, aber zwischen ihr und ihrem Mann hatte sich eine ähnliche Atmosphäre der Entwertung, des Missbverstehe3nds und der Häme eingeschlichen, sodass die mit haltgebender Berührung verbundenen Stunden trotz deutlicher Belebung in ihrem Ergebnis immer wieder untergingen und sich immer wieder ein Stimmung der Hoffnungslosigkeit breit machte.

Viele Deutungen über die3 Gründe eines regemäßigen Wiederverschwindens zaghafte Lebenszeichen führten zu nichts. Das zerstörerische Eheklima entfaltete eine so lähmende Wirkung, sodass ich in meiner Not ihr nahezubringen versuchte, dass ich ohne einen vorübergehenden Auszug aus der Wohnung keine Chance für einen Erfolg sähe. Sie hing an unserer Arbeit, verurteilte sich hart wegen der mangelnden Fortschritte, sah die vorübergehende Trennung gedanklich ein, aber machte keinerlei Vorbereitungen für eine Initiative, schob die Kinder und das Durchhalten eines Ehegelöbnisses vor, und ich selbst übernahm schließlich zunehmend ihre tiefe Resignation und ein belastendes Ohnmachtsgefühl.

Über einige Monate häuften sich gegen Ende des Jahres die stereotypen Behauptungen, dass ich wohl einen „schweren Anschiss“ vorbereite oder gar plane, sie rauszuschmeißen. Für die massiven Übertragungen, mit denen sie die Stunden eröffnete, fand ich keinen inneren Widerhall, um so mehr, als ein verborgener charmanter und zutraulicher Teil, verbunden mit starker Idealisierung, meine Sympathie am Leben erhielt. Ich glaubte auf einen zähen Trotz zu stoßen, aber sobald ich das Wort verwendete, sank sie in sich zusammen und bekam körperlich fühlbare Ängste, sodass ich einmal sagte, sie mache den Eindruck, als ob sie geschlagen würde.

Ich hatte einen ein halbes Jahr vorausliegenden Zeitpunkt genannt, zu dem ich die Analyse unterbrechen würde, bis sie sich einen von der Familienwohnung getrennten Schutzraum gesucht habe. Sie wirkte ungläubig, entsetzt, fassungslos und verbreitete eine Stimmung von Weltuntergang, die mich immer wieder zweifeln ließ an meinen harten Bedingungen. Aus der Arbeit mit jugendlichen Strafgefangenen und mit Sozialpädagogen in Notstandsgebieten wusste ich, dass bei manchen Familienverhältnissen an ein Resozialisierung nur gelingen konnte durch die 'Entfernung der Jugendlichen aus ihrem familiären und sozialen Milieu. Das festige auch meine Überzeugung, dass ich nicht länger der vergeblichen Arbeit aussetzen sollte, sie vermittelte den Eindruck der tantalischen Strafe, bei der ein schwerer Stein kurz vor dem Ziel immer wieder den Berg hinunter rollte. Kurz vor dem Termin des einseitig von mir geplanten Auszugs überraschte sie mich mit dem zu bewundernden Erfolg, dass sie den Ehemann zu einem partiellen Auszug veranlasst hatte, ihre eigene Entfernung aus der Wohnung also hintertrieben hatte.

Wir entdeckten erschüttert, dass sie sich heimlich geweigert hatte, meinen Vorschlag überhaupt ernst zu nehmen. Ich fühlte mich regelrecht ausgetrickst, und wir entdeckten weiter, dass es eine tiefere Ebene der Übertragung gab, in der sie eine frühe Haltung den Eltern gegenüber, nämlich diese weder ernst zu nehmen noch ihre Anregungen und Befehle ernst zu nehmen, sozusagen wörtlich wiederholte, bei gleichzeitiger starker Zuneigung, Scheingehorsam, Kooperativität und Entwirklichung aus der Beziehung.