Tilmann Moser

Fast ein Weltrekord

Frank Rosenbergs „Introjekt und Trauma"

2010

Zwei Stunden liest man, fast glücklich, das große Einführungskapitel „Psychodynamik traumatischer Beziehungserfahrungen und Introjektionsvorgänge". In seltener Präzision und Klarheit lehrt Rosenberg über Entstehung, Struktur und innere Dynamik von traumatischen Erlebnissen und deren Niederschlag im Unbewussten, im Selbst wie im Ich. Er erklärt die Einbrüche unaushaltbarer Affekte, die Wirkungen von Überstimulation, den „Schreck-, Schock- und globalen Angstzustand"; das Versagen der Reizschutzschranke, die Desorientierung, die Verzweiflung, die Panikzustände, die Unfähigkeit zu Flucht oder Gegenwehr des Opfers.

Er behandelt die Dissoziation, den Verlust der Kohärenz, das Auseinanderreißen aller Erfahrungen, den pathologischen Neid, die schwarzen Löcher im Selbst, und die Folgen: „Es können paranoide Ängste, depressive Stimmungen, phobische Vermeidunghaltungen, Anklammerungstendenzen, … Scham- und Schuldgefühle sich einstellen und verfestigen. Die Opfer fühlen sich beschmutzt, ekeln sich vor sich selbst, scheinbar unüberwindliche Schuldgefühle quälen sie. Ebenso können sich generalisierte Hassgefühle mit zugrunde liegenden Racheimpulsen … entwickeln bzw. gegen sich selbst richten. Beständiger Groll und Gram, Verachtung für andere, gepaart mit einem grundsätzlichen Misstrauen … in Verbindung mit pathologischem Neid auf alle anderen, die dieses Schicksal nicht zu erleiden haben. Sowie das Gefühl, grundlegend vom Leben betrogen und benachteiligt worden zu sein, verdichten sich zu einem traumainduzierten Ressentiment."

Der Kontakt zu potentiell hilfreichen Personen bricht ab, weil sie nicht eingegriffen haben. Es gibt keinen Ausweg vor der Identifizierung mit dem Täter. Es bilden sich böse Introjekte, die das Ich überfallen und dauerhaft heimsuchen. Das Opfer übernimmt sogar die Schuld des Täters, es kann der Stimme nicht mehr ausweichen, die dauernd flüstert oder dröhnt: „Du bist schlecht und deshalb muss ich Dich quälen." Oder bei sexuellem Missbrauch: „Du bist eine Schlampe und deshalb strafe ich Dich." Es kommt zu Existenzscham, zu tiefer Vereinsamung, zu einer kaum aufhebbaren Opferidentifikation, die zu immer neuen Traumatisierungen einlädt.

Nach dieser bravourösen Einleitung ist man gespannt auf die folgenden zweihundert Seiten eines Fallbeispiels, einem 18-jährign Jungen mit schweren Schlafstörungen, Alpträumen, Verzweiflungsattacken, massiven Selbstwertproblemen und massiven Größenphantasien und parasitärer und vergewaltigender Ausbeutung seiner Freundin.

Der Autor schafft es, aus den ersten fünf Behandlungsstunden fünfzig Seiten Kommentar herauszuholen. Faszinierend ist die Aufrichtigkeit des ursprünglich streng analytisch orientierten Therapeuten hinsichtlich seiner Gegenübertragung auf die manchmal schwer auszuhaltende Gewissenlosigkeit des Patienten: „Seine auch nachträglich ich-synton erlebte Identifikation mit der perversen Aggression ist mir nun unerträglich. Erneut überfallen mich Wut und Impulse, ihn fertigzumachen, damit mich stellvertretend für Clara zu rächen und das in der Übertragung inszenierte Beziehungsmuster … umzukehren."

Oder, als Reaktion auf das Gefühl, vom Patienten kontrolliert zu werden: „in der Gegenübertragung stellen sich unangenehme Affekte von Verlegenheit und Unbehagen ein; ich fühle mich auf eine unangenehme Art beobachtet … mein inneres Erleben wechselt mitunter abrupt, ich verliere mehrfach spontan den Kontakt zu meinen Gefühlen, sodass ich mich selbst verloren wie in einem Niemandsland finde. Zusätzlich fühle ich mich einerseits auf eine mir fremdartige und teils sogar faszinierend-erregende Art von seinen Schilderungen angezogen, was sich mitunter bis zu einer voyeuristischen Schaulust steigert. … Prozesse eines Geködert- und daraufhin Abgestoßen-Werdens wechseln ständig miteinander ab …".

Die Rettung ist ein „Denkraum", den der Analytiker sich verschafft, und dazu dienen nicht zuletzt die Deutungen, die allerdings immer klüger, raffinierter und mehrschichtiger werden. Die ersten fünf Stunden werden so vielfach interpretierend umgepflügt, gelegentlich habe ich an den Rand geschrieben „Hochseilartist" des sofort vorhandenen ausführlichen Verständnisses. Der Patient geht einem vorübergehend verloren im Meer des überlegenen Wissens, manchmal taucht er auch wieder auf, und man ist dann dankbar für die Fülle der von ihm für den Patienten formulierten Sätze, die Einfühlung in seinen Zustand verraten.

Diese Einfühlungssätze sind in der Tat eine Kostbarkeit, und man würde sie sich am liebsten notieren oder merken. Dann habe ich immer wieder superkluge Seiten überblättert, bis wieder therapeutischer statt endlos theoretischer Stoff kam. Die Deutungen auf kurze Verhaltens- oder Berichtssequenzen von Noel gleichen zunehmend einem Schachspiel mit lange durchdachten Zügen, wie bei Spielern, die die nächsten fünf Züge bereits souverän überblicken.

Sie werden im Lauf der Zeit immer länger, gelegentlich fast eine halbe Seite lang, kaskadenhaft verschachtelt, und man beginnt zu fürchten, der Junge könnte, bei aller zu ahnender Wärme des Therapeuten, sich von Deutungen durchsiebt fühlen. Gegen Ende sagt Rosenberg selbst einmal resigniert: „Joel kann meine Deutungen dieser Dynamik noch nicht in den tieferen Schichten annehmen.", dabei erscheint der Analytiker doch immer wieder als allwissend: „Die Deutungen (das Allheilmittel, TM) streben ein tieferes Verständnis der Affekte und Konflikte an, um die narzisstische Regulation in ein Gleichgewicht zu bringen, zumal ich mir davon weitergehende Milderungen des Überichs erhoffe.

Strukturell gesehen gerät das narzisstische System in einen engeren Kontakt zum Überich, das die maligne Ich-Ichideal-Konfiguration aufweicht. Dann entsteht auf reiferem Strukturniveau eine Synthese zwischen den Überich-Aspekten sowie angemessener Besetzungen der Ich-Ideal-Segmente in Aussicht. Diese Progression kann sich mit einer Anhebung des Funktionsniveaus verbinden, die in engem Zusammenhang mit einer differenzierteren Wahrnehmung und Akzeptanz der verschiedenen Selbst- und Objektintrojekte steht."

(verständlich?) Und wenn Joel zu einer eigenen zustimmenden Rede anhebt, klingt es so: „Sie haben mich auf meine eigenen Anteile gelenkt. Ich habe in der letzten Stunde am meisten meine Verantwortung als Täter gefühlt. Ich konnte mich dadurch auch von meinem Opfersein lösen; ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass ich nicht mehr Ausgelieferter der Welt bin, sondern mehr spüre, was ich dafür tue." (…das ist bereits eine Kürzung in Joels Redetext, TM ) Und weiter im Text: „Ich merke, ich kann an die alte Erfahrung und die alten Wunden denken, ich kann in die Käseglocke reingehen, ich kann aber auch wieder rausgehen. Ich genieße das auch, ich fühle mich selbst darin, ich bin verbunden mit meiner Vergangenheit, ich bin in Verbindung mit wichtigen Teilen von mir selbst. Aber ich komme heute da wieder raus. (… = neue Kürzung durch den Autor, TM) Und ich höre jetzt deutlicher die Stimme, die sagt: ´Du musst für Deine Schuld sühnen.'". Er ist ein überaus gelehriger Schüler seines Herrn und dessen Sprache.

Im Lauf der Darstellung fragt man sich, vor allem gegen Ende, was sich nun wirklich verändert hat, die Rückfälle sind drastisch: „Es kommt zu massiven Reprojektionen früher introjizierter Ängste vor Beziehung, die, aufgrund einer konstanten Identifikation mit aufgeladenen Objektintrojekten („konstant"!, TM) … Zudem entwickeln sich (auch gegen Ende, TM) nach der Expositionsarbeit Ängste vor der Rache der inneren Objekte, so dass eine unbewusste Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Containment-Fähigkeit erfolgt." Die Beiden scheinen gleichermaßen fasziniert von ihrer subtilen Deutungsarbeit. Die Zahl von Joels Verlautbarungen der Dankbarkeit nimmt zu. Rosenberg meint zwar, wahrscheinlich zu Recht, Joel ahne jetzt deutlicher, was er anderen Menschen antue, und es zeige sich neue Lebensfreude.

Freundin Clara hat ihn endlich zum Teufel geschickt, eine Weile bleibt er allein, dann verliebt er sich in Sabine, aber das erste, was er tut: Er vergewaltigt sie zum Einstand, weil sie ihn gekränkt hat, aber diesmal reut es ihn bereits beim Absteigen! „Ich sagte ihr ziemlich mackerhaft:´Das sagst Du nie wieder zu mir!' Dann kam der Druck und die alte sexuelle Erregung hoch, ich legte mich auf sie, wurde wild, war völlig unter Spannung, sie lag da wie weggetreten. Nach ein paar Sekunden wachte ich auf, ging von ihr runter, entschuldigte mich, später fragte ich sie, wie sie mich erlebt habe." Ein Stück späte Einfühlung hat sich tatsächlich eingestellt.

An einer einzigen Stelle gegen Schluss des Buches räumt der Autor ein, dass es bei allen Therapien auch auf die Persönlichkeit des Therapeuten ankomme, ob er nämlich zuverlässig und warmherzig ist. Zuverlässig war Rosenberg sicher, ob er durchgehend auch ein warmherziges Indentifikationsvorbild gegeben hat, wird nicht deutlich, zu sehr wird aller Erfolg den allmächtigen Deutungen zugeschrieben. ATMosphärisches kommt nur in Form von Gegenübertragungsgefühlen durch. Auch in den aufgewühltesten Zuständen bringen sie, in Deutungen verwandelt, angeblich meistens Beruhigung und Klärung.

Versöhnlich wirkt inmitten des Interpretationsgewitters folgender Verdienst des Therapeuten: Obwohl fühlbar wenigstens anfangs mit der freudianischen Orthodoxie identifiziert – er bemüht sich redlich, seine Traumatherapie als durchaus im Rahmen der klassischen Psychoanalyse deutbar zu rechtfertigen – wagt er eine ganze Reihe von hilfreichen Anleihen vom Rollenspiel, der Gestalttherapie, verschiedenen Spiel-und Kreativitätstherapien und wendet sie in einleuchtender Weise an. Er bringt den Patienten wie sich selbst dazu, in einen Dialog mit den Introjekten zu treten. Er symbolisiert sie, gibt ihnen Namen und macht dem Patienten sein unbewusstes Seelenleben dadurch anschaulich, gibt ihm ein Stück verlorene Aktivität zurück.

Auf der letzten Seite des Fallberichts heißt es: „ich erlebe Noel wirklich glücklich". Aber im unmittelbar anschließenden Satz auf der letzten Seite steht: „Gegen Ende der Therapie erlebt Noel erneut Neidgefühl gegenüber Sabina. Diese tragen jedoch nunmehr die Kennzeichen neurotischen Neides. … Das Ende der Therapie ist zunächst von erneuten Depersonalisationszuständen, insbesondere im Zusammensein mit Sabina geprägt, die sich jedoch durch eine erklärende Übertragungsdeutung aufheben." Eine einzige Deutung erledigt also die Zustände im Plural? Aber auf jeden Fall setzt der Patient zu einer Phantasie-Versöhnungsrede zur längst verflossenen Clara an, die sie und den Leser zu Tränen rührt: „Ich fühle mich Dir sehr nahe, ich fühle Deinen Schmerz, ich fühle, was ich Dir angetan habe, ich habe ein Gefühl dafür, was ich in Dir zerstört habe. Ich habe das Gute in Dir zerstört, das würde ich Dir gern wiedergeben, auch wenn das nicht geht. Ich hoffe aber, dass Du wieder Hoffnung auf das Gute kriegst."

Dabei heißt es noch kurz vorher vom Therapeuten: „Hingegen aktualisiert sich jetzt destruktiver Neid, da er sie in neuen Beziehungen wähnt…". „Wenn ich heute ihr das Gute zerstören würde, hätte ich wieder Kontrolle und Macht über sie." Rosenberg bilanziert: „Ein Teufelskreis, der diese Dynamik beständig fortsetzt." Es bleiben also Zweifel.

Total ausgeblendet und quasi exorzisiert ist jede Art von Berührung. Selbst wenn der Patient vor Angst und Panik zittert und beim Erleben der Flashbacks in körperlich sichtbare Ängste gerät, ist sogar an eine genauere Beobachtung der Körperreaktion oder der Atemveränderung kaum zu denken, geschweige an eine haltgebende oder beruhigende Berührung. Das wirkt für mich als psychoanalytischen Körpertherapeuten kalt, distanziert und grausam. Die Möglichkeit der Berührung wird nicht einmal erwähnt, obwohl das für andere Traumatherapeuten, die er oft zitiert, wie etwa Ulrich Sachsse selbstverständlich.

Rosenberg vermittelt auch nicht den Eindruck, als kenne er so etwas wie eine körperliche Gegenübertragungsreaktion oder gar den Impuls, körperliche Hilfe zu leisten. Sein eigener Körper bleibt ebenso außer Betracht wie der des Patienten, auch wenn er dessen wiederholte Anfälle von heftigem Zittern gewissenhaft berichtet.

Dennoch ist das passagenweise mühsam zu lesende Buch reich an Anregungen, an Wissen und an behandlungstechnisch wichtigen Vorschlägen, für die man dankbar ist. Allerdings überwiegt ein bedrängender pädagogischer Ton, und in manchen Unterkapiteln wie dem "Modell zur Behandlung maligner und traumatischer Introjekte" streut der Autor dutzendfach das Wort „soll" oder „sollte" ein, mit Hinweisen, wie gefährlich Abweichungen von seiner vorschreibenden Linie sind. Das Buch ist durchzogen von einer deutlichen Größenphantasie, das ultimative Lehrbuch über Traumabehandlung verfasst zu haben.

Aber es bleibt eine lehrreiche Herausforderung, eine lohnende Lektürearbeit, es ist ein wichtiges Buch, und wenn der lesende und verstehende Therapeut sich noch traut, einige eigene behandlungstechnische Ideen zu entwickeln, lädt er zwar eine hohe Verantwortung auf sich, aber er erreicht einen Reflexionsgrad, von dem sich wieder zu verabschieden schwierig sein dürfte. Wie heißt es doch bei den summarischen Börsenberichten in den kurz gefassten Ratschlägen für unsichere Anleger: „Kaufen!". Unbedingt! Die Gewinnerwartung ist hoch, trotz aller Schrammen, die man sich einhandelt als Leser, der immer wieder ratlos bleibt angesichts der himmelsststürmenden Klugheit des Autors.