Tilmann Moser

Mutti wird uns doch nicht verlassen

Angela Merkel und der Mutterkomplex der Deutschen

Tilmann Moser (2013)

Deutschland wurde seit Jahrhunderten von Männern regiert: zuletzt von einem umjubelten, aber abgrundtief bösen, der uns in die Zerstörung führte. Danach rettete uns eine vertrauenswürdige Großvaterfigur, Konrad Adenauer, danach kamen mehr oder weniger starke Väter oder Söhne oder Onkel, mit Brandt ein endlich heimgekehrter Verstoßener, der es fertig brachte, von Versöhnung zu reden; dann der langjährige Konservative mit dem Blick für das „Mädchen von drüben“, dann der sozialpolitische Rabauke, und danach das Mädchen, das sich emporgearbeitet hatte und sogar zu einem Vatermord fähig war und wenn nötig auch gern mal potentielle Konkurrenten meuchelte.

Sie hat wenig offene Herrscherallüren, aber man spricht bewundernd von ihrem Machtinstinkt. Sie macht gute Figur auf europäischer Bühne, später auf der Bühne der weiten Welt. Und dann ihr Sparwille: Fast ein Monument der schwäbischen Hausfrau, zwingt sie ganze Völker in die Tugend des Sparens, und worüber man am meisten staunt: Sie erträgt ungerührt den Hass dieser Völker, sie ist sich sicher, dass Grausamkeit zur Rettung vor nationalem Leichtsinn hilfreich ist. Sie ist keine nur liebe Mutti, man sieht ihr an, das sie sich in der überhitzten Küche wohl fühlt. Kurz, sie hat die guten und die harten Züge einer fast alleinerziehenden Mutter, die ihren Mann steht, auch wenn die Söhne nicht recht gedeihen wollen. Dafür hat sie begabten Töchter reichlich Platz gegeben, auf dem sie Politik als anmutige Selbstverwirklichung üben konnten.

Was kann die Tiefenpsychologie zur Analyse eines „Mutterkomplexes“ beitragen? Was bindet ein halbes Volk so dauerhaft an eine Gestalt und belohnt sie durch Umfragewerte, mit denen sie alle Konkurrenten kontinuierlich überragt? Die klügsten unfreundlichen Journalisten – von den Lobhudlern einmal abgesehen - mögen an ihr herumnörgeln was das Zeug hält, die Volksmeinung bleibt annähernd konstant, und auch wenn der Wahlkampf zu toben beginnt, behält sie ihr fürsorgliches Bild eines weiblichen Haushaltsvorstands, der sich nicht scheut, für die eigene Familie gute Ideen aus der grün-roten Nachbarschaft zu übernehmen und zu integrieren, als hätte sie nie anders gedacht.

Sie ist weltweit die beste Küsschenverteilerin, und wenn sie welche empfängt, tritt ein unnachahmliches Lächeln in ihr Gesicht, sodass der fremde oder weniger fremde Staatsmann das Gefühl gewinnt, er habe ihr Herz erreicht und könne sich ihrer Freundschaft sicher sein. Sie erscheint nicht rachsüchtig, nicht unbedingt nachtragend, unerschütterlich guter Stimmung. Sie ist, wie gute Mütter in einer aufgewühlten Kinder- und Nichten- und Neffenschar, ausgleichend, beruhigend, ja sogar mit beruhigender Härte begabt. Ihr fehlt die männerverachtende und offen männermordende Härte einer Margret Thatcher, sie polarisiert nicht mit gezielter Absicht, leidet nicht an demonstrativem Größenwahn und ist trotzdem von ihrer Unersetzlichkeit überzeugt. Nur Böswillige reden von Wankelmut, wenn sie überraschende Wendungen ausführt und diese plötzlich als alternativlos bezeichnet. Das Volk bewundert das eher als eher Flexibilität, Aufgeschlossenheit und die Fähigkeit, eingesehene Fehler oder überholte Ansichten fast geräuschlos fallen zu lassen.

Kinder, wenn sie ihre Clanmutter einmal erwählt oder vom Schicksal zur Familienführung geschenkt bekommen haben, wollen nicht an ihr herum kritteln oder zweifeln oder gar an eine Abwahl denken. Das verbietet ihnen eine viel tiefere Loyalität, wenn die Bindung in einer ganz anderen Seelentiefe einmal eingerastet ist. Wählt man Mütter ab, die so viel Ruhe und Zuversicht ausstrahlen? Die mit so viel beweglichem Kompass die Herde zusammenhalten? ;Mit der Kritik der Rivalen so umgehen, als handle es sich um voraussehbares, aber ungefährliche Kläffen?

Die Psychoanalyse arbeitet mit dem Begriff der Übertragung. Frühe Konflikte, aber auch Sorgen und vor allem Wünsche von Kindern und Anhängern nach Geborgenheit heften sich auf eine Figur, von der man Beständigkeit, Überblick, Kraft, Ausdauer und vor allem echten, manchmal auch vorgetäuschtes Wissen erhofft in Zeiten der Unsicherheit, wo die eigene Orientierungsfähigkeit längst nicht mehr ausreicht und keine Ideologie oder Religion mehr eindeutige Antworten verspricht. Und diese Übertragung, diese Delegierung der Verantwortung, scheint mir als Analytiker auf einer tiefen Ebene eingerastet gegenüber Angela Merkel. „Sie wird’s schon richten“, glaubt man mit fast kindlicher Hingabe. In einem solchen „regressiv“ eingerasteten Vertrauen zur Mutter will man keine Veränderung, blendet eigene Zweifel aus, erhebt Vertrauen und Zuneigung zu einer weit über die Tagespolitik hinausreichenden Kategorie. Kinder verteidigen ihre Eltern, idealisieren sie, solange sie keine allzu offensichtlichen Schwächen zeigen oder gar Verbrechen begehen – selbst die brauchen noch lange keine Abkehr mit sich bringen, wie wir aus der Geschichte wissen.

Intellektuelle Kritiker mögen längst behaupten, sie hätten die Mutter durchschaut oder gar demontiert: sie gelten ihren Kindern als Stänkerer und Ruhestörer. Der Familienzusammenhalt wird dadurch nur gefestigt, und es kommt ja noch der Stolz hinzu für die Unerschütterlichkeit der fast alleinerziehenden Mutter, die da Überleben sichert.

Nimmt man das Modell der politische Regression einmal ernst – und an einer gewissen kindlichen Anhänglichkeit an der Kanzlerin kann ja kaum Zweifel sein, dann spielen tiefere Mechanismen der Bindung, der Loyalität und der Sehnsucht nach Ruhe eine wichtige Rolle. Man lässt nichts mehr auf die Zentralfigur kommen, spaltet innere Zweifel ab, fühlt sich getragen von einer unerklärlichen Zuversicht in ihre Kraft und ihre Weisheit. Ganz Fromme fühlen sich vielleicht sogar geborgen unter dem Schutzmantel einer fast madonnenhaften Figur, die sie gar nicht darstellen will, die aber im kollektiven Unbewussten vorhanden ist als ein archaisches Bild der schützenden und versorgenden Mutter. Es immunisiert gegen die Anfechtungen einer undurchsichtigen und gefährlichen Realität. Es wird mit ihr kein durchdachtes Programm gewählt, sondern als eine tief in der Seele verankerte Sehnsuchtsgestalt, die so unaufdringlich Stärke vorspielt, dass kein aufbegehrender Trotz oder ein Wunsch nach kantiger Väterlichkeit mehr entsteht. Die Urmutter erscheint nicht als bedrohlich und verschlingend oder grausam, wie Margret Thatcher, sondern als weise, gestützt von einem schlau-devoten Regierungssprecher oder Richtungsverkünder, dem es nichts auszumachen scheint, Richtungswechsel rasch zu begründen oder banales angebliches Nichtwissen als glaubhaft erscheinen zulassen. Er ist der treuherzige Einluller vom Dienst.

Die Psychoanalyse kümmert sich in den letzten Jahren vermehrt um die sogenannt Bindungsforschung. Sie untersucht, wie dauerhafte oder wacklige, gehorsame, liebende, verehrende oder destruktive Bindungen zustande kommen, und warum sie oft lebenslang halten. Auch die Politikwissenschaft wie die Wahlforschung haben den Begriff der Wählerbindung in Gebrauch genommen. Er muss aber bei Angela Merkel auf eine tiefere Weise verstanden werden, nämlich auf einer kindlichen Ebene, die Schutz und Zuversicht einschließt in Zeiten der realen oder eingebildeter Gefahren. Wechselwähler erscheinen gegenüber diesen Anhängern von Angela fast schon als aufgeklärte Menschen, die nach politischen Überlegungen und durchdachten Motiven ihre Stimme abgeben.

Sicher gebundene Kinder spielen nicht mit der Lust am Wechsel. Eine „Wechselstimmung“ erreicht sie bei ihrer Seelenlage gar nicht. Mutti bleibt Mutti, auch wenn sie mal den Überblick verliert oder in vorübergehendes Taumeln gerät. Es geht um das Spenden von Zuversicht und um eine tieferes Wissen um die „Richtung“ für Menschen, die noch immer dem tröstlichen Choralvers anhängen: „Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl, das macht die Seele still und friedevoll.“

Dass ein anderer Kanzlerkandidat vielleicht klüger ist, mehr informierte Worte in der Zeiteinheit herausschleudern kann und auf ironische Weise böse ist, festigt nur umso mehr die Anhänglichkeit an die unaufgeregt erscheinende Dame, die so viel Erfahrung und internationales Ansehen aufgehäuft hat und dem kindlichen Stolz das Bild der „mächtigsten Frau der Welt“ bietet. Sie ist für viele einfache Gemüter, aber auch für sehr viele kalt kalkulierende Interessengruppen, zum tröstenden und beruhigenden Urbild geworden, das halb innerweltlich, halb eingetaucht ins kollektive Unbewusste erscheint. Also werden wir sie wohl noch vier weitere Jahre behalten müssen.