Tilmann Moser

Psychoanalyse und Körperpsychotherapie

Tilmann Moser (2011)

Die klassische Psychoanalyse hat Körperkontakt schlicht untersagt: Berührung bedeute Sexualisierung und damit auch Missbrauch des Patienten für die eigenen Bedürfnisse des Analytikers. Außerdem schneide Berührung den Patienten ab vom Reichtum seiner unbewussten Phantasien, und die seien der eigentliche Stoff der tiefenpsychologischen Arbeit.] Dabei gibt es ja eine enge Beziehung zwischen den im Körpergedächtnis gespeicherten Erinnerungen und viele unbewussten Phantasien, die oft nur durch Berührung zugänglich werden. Das Berührungs-Verbot besteht bis heute und hat Eingang gefunden in die ethischen Richtlinien der verschiedenen Verbände. Viele Analytiker, die gelegentlich und mit gutem Grund heimlich mit Berührung arbeiten – hüten sich, diese Erweiterung ihres Instrumentariums in die Anträge auf Übernahe einer Psychotherapie durch die Krankenkasse hineinzuschreiben. Sie fürchten das ablehnende Urteil der Gutachter, die in der Regel am Kanon der Orthodoxie orientiert sind. Exemplarisch für die päpsttiche Exkommunikation von Berührung ist der Aufsatz von Thea Bauriedel mit dem Titel „Ohne Abstinenz stirbt die Psychoanalyse. Über die Unvereinbarkeit von Psychoanalyse und Körpertherapie.“, in „Forum der Psychoanalyse“, Band 14, Dezember 1998.

Trotzdem wächst die Zahl der Analytiker, die mit dem Potential der nur im Körper gespeicherten Erinnerungen arbeiten wollen. Sie haben wahrgenommen, dass manche Patienten auf der Couch buchstäblich verhungern oder durch die Unsichtbarkeit und körperlich-taktile „Abwesenheit“ des Therapeuten in einem Bereich der psychischen Unwirklichkeit verharren. Bei vielen droht sogar eine Retraumatisierung durch die rein verbale Arbeit: sie sind oft unfähig, ihre unbewussten Empfindungen in Worte zu kleiden und fühlen sich als Versager bei der hoch idealisierten Form der reinen Sprachkur.

Von der klassischen Psychoanalyse haben die meisten Patienten und  Kollegen einen Begriff, sei es durch eine eigene Erfahrung, sei es durch Lektüre, oder sei es auch nur durch die abwertenden Bemerkungen, die an manchen verhaltenstherapeutischen Instituten immer noch der Brauch sind. Der Körper ist stillgelegt auf der Couch, und der Analytiker versucht das Geschehen, das er in der Übertragung mitbekommt, zu deuten. Aber immer mehr wird auch die therapeutische wie die reale Beziehung selbst zu einem wichtigen Agens des Erfolges. Aber wie passt dieses Setting zur lebendigen Einbeziehung des Körpers?

Der Körper verfügt über viele Potentiale: Er kann die Kraftmaschine sein im Leistungssport; er ist die physiologische Basis für das expressive Potential, wie es sich ausdrückt beim Theater, im Tanz, in der Pantomime, wie auch im Liebesspiel. Damit verwandt: der Körper als Instrument der Interaktion, als Signalgeber oder als Träger von Gesten und Taten; und schließlich: der Körper, im Einklang mit der Seele oder davon vollkommen abgespalten, als immenser Gedächtnisspeicher, für Erlebnisse, für vergangene Interaktionen, für Liebkosungen wie für Angriffe, für Gelungenes wie schmerzlich Misslungenes. Wenn der Mensch Glück gehabt hat, bringt er in sein Erwachsenenleben diesen Schatz positiver oder orientierender Erinnerungen mit, auf dem seine weiteren Erkundungen und Wagnisse beruhen. Es gibt eine positive Unbewusstheit des Körpers, und gelegentlich wird das als Anmut oder Charme bezeichnet, wenn nicht ein falsches Selbst ihm Gesten oder Aktionen aufzwingt, die  uns befremden oder gar anwidern. Immerhin könnte man die Hysterie im älteren Sinne bezeichnen  als den verzweifelten Versucht, im Unechten echt zu sein, was meistens misslingt.

Auch im Unbewussten stellt der Körper eine ganze Landschaft von Funktionen dar, ganz analog zu dessen bewusstem Einsatz. Aber es kommt eine Funktion hinzu, die uns vor allem in unserem analytischen Bemühen oft erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Ich nenne es den Körper als das schützende Versteck der Seele, bei dem sein ursprüngliches Potential der bedeutungsvollen Selbstdarstellung und Interaktion mit Anderen Negative verkehrt wird. Eine Version sind die psychosomatischen Störungen, die manifesten Krankheitswert haben, und denen eine physiologische Fehlverarbeitung aus psychologischen Motiven zugrunde liegt. Worüber ich im folgenden berichten möchte, sind Formen dieses negativen Potentials, wo der Körper als Verhinderer und Saboteur des Lebens erscheint,  durch seine Fähigkeit zu erstarren, sich abzuspalten von der Seele, eine Lösung in der Lähmung zu suchen, oder wie es Hilarion Petzold (1977) ausdrückt, in der Dekarnation, dem Auszug oder Rückzug der Vitalität und Expressivität aus dem Körper.

Die große Frage ist, wie wir auf der Basis unseres analytischen Hintergrundes mit diesen Störungen körpertherapeutisch umgehen können. Sie können lange verborgen bleiben, und das Coucharrangement kann dazu verführen, diese leibseelischen Fehlfunktionen zu übersehen. Erstaunlich ist, in welchem Ausmaß Körpererinnerungen und bewusste seelische Erinnerungen und Aktionspotentiale auseinander fallen können. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen:

Die Entflechtung einer Erstarrung

Eine Patientin mit langer eigenanalytischer Erfahrung setzt sich, etwa in der einhundertsten Stunde, auf die entfernte Ecke der Couch. Sie ist mit behutsamen, auf den jeweiligen Stand der Beziehung bezogenen Körperinterventionen vertraut, hat auch einige Male auf Kissen in meinem Schoß gelegen, sodass sie meinen Atem spüren und ich ihr die Hand auf die Schulter oder auf den Kopf legen konnte.

Sie beginnt mit tonloser, hastiger Stimme von ihrer Woche zu berichten. Mir ist unbehaglich, weil ich diese tonlos Stimme kenne: sie ist dann wie nicht vorhanden, ich fühle mich quasi um ihre lebendige Anwesenheit betrogen und in der Gegenübertragung latent böse, weil sie mich als Verursacher ihrer Abwesenheit erlebte. Dabei weiß ich, dass sie diesen Zustand selbst als quälend empfindet, aber nur eine Beschleunigung des verzweifelten Sprechens erscheint ihr als ein Mittel, mich zu erreichen. Mir selbst ist unbehaglich, ich bin leicht verärgert, weil wir in der vorigen Stunde eine lebendige Nähe erreicht hatten, nachdem zum wiederholten Male eine ängstliche Frage, ob ich sie auslache, überwunden worden war.

Ich frage, was ihr helfen könne, und sie bittet mit schwacher Stimme, ob sie sich an meiner Brust bergen könne. Ich spüre in mir eine abwehrende Bewegung und rette mich in eine Frage: Wo sie stecke, wie sie anwesend sei. Ich spüre, dass sie das als Zurückweisung empfindet, da ihr jede Form von Bitten ohnehin wie eine entwürdigende Abhängigkeit vorkommt. Ich bleibe aber fest und beschreibe ihren Gesichts- und Augenausdruck: er sei leer, aber mit einer leichten Panik versehen, misstrauisch und gleichzeitig voll versteckter Sehnsucht. Da kommen Tränen in ihre Augen, und sie sagt: „Ich möchte gleichzeitig fliehen und zu Dir stürzen. Die Folge ist eine komplette Lähmung, und ich möchte mich eigentlich verstecken, um Schutz zu finden.“  Schutz finden sei ein elementares Bedürfnis in ihrem Leben, die Mutter war das Gegenteil von schützend, sondern demütigend und verfolgerisch, auch mit Schlägen und massiven Entwertungen.

Ich schlage ihr vor, dass wir die beiden Komponenten der Lähmung entflechten. Sie möge erst einmal ihrem Fluchtreflex nachgeben. Sie sucht sich, zuerst mit den Augen, eine Ecke im Raum aus, die ich nicht einsehen kann, verlangt aber, dass ich mich wegdrehe, sie könne es nicht ertragen, bei der Flucht gesehen zu werden. Sie richtet sich mit einer schützenden Schaumstoffrolle in der Ecke ein und schaut, als ich mich wieder umdrehen darf, mit verändertem Gesichtsausdruck zu mir herüber. Sie ist etwa vier Meter entfernt. „Du bist jetzt nicht mehr so gefährlich.“ Sie habe sich früher nur manchmal im Klo einsperren können, um geschützt zu sein; sonst sei ihr nur die Flucht nach innen geblieben, mit der Folge der Erstarrung und der Empfindungslosigkeit des Körpers. Sie habe dann Schläge nicht mehr gespürt. Damit die Mutter wieder gut mir ihr gewesen sei, habe sie um Gnade winseln und Extraleistungen erbringen müssen. Zu diesen Extraleistungen gehörte auch, die sexuell erregten Umarmungen der Mutter nachts im vom Vater verlassenen Ehebett ertragen zu müssen. Ihr Körper habe sich dabei mit Ekel angefüllt, sodass sie  bis heute kaum nahe, bzw. intime Berührungen ertragen könne.

Nach einer Weile sagt sie, sie möchte näher kommen. Ich muss mich wieder wegdrehen, wie sie bei der Annäherung nicht gesehen werden wollte, und sie richtet sich sitzend ein vor meinem Sessel, an den sie sich anlehnt, und spürt den Seitenhalt von meinen Beinen. Diese Form der Nähe ist ihr, nach langen „’Vorübungen’“, vertraut. Sie schaut mit dem Gefühl von Schutz ins Zimmer, entdeckt ein neues Bild, streift kurz ihr Geschwisterproblem, wenn sie deren Spuren im Raum entdeckt. Dann sagt sie: „Ich muss Dich sehen, und dreht sich, mit meiner Zustimmung, so um, dass sie mich gut sehen kann. Sie wechselt zwischen mich Anschauen und den Kopf auf mein Knie sinken lassen, um sich zu erholen. Dass die Flucht erlaubt war und sie, aus der Sicherheit des Abstandes (ich hatte gesagt, sie könne jederzeit wieder in ihre Ecke gehen), sich annähern konnte, führte zu einer großen Beruhigung und zum Erscheinen eines lebendigen, wenn auch noch stark regredierten Selbst. Sie ging zufrieden weg, allerdings mit dem Satz: „Hoffentlich verliere ich Dich nicht wieder.“

Sie kann in den Intervallen mich oft noch nicht halten; entrealisiert mich oft auch ganz bewusst (sie nennt es abschneiden), um nicht den Schmerz der Abhängigkeit und der Sehnsucht zu spüren. Aber sie erzählt auch gelegentlich stolz, dass eine einzelne Körpergeste von mir ihr in Erinnerung bleibe, an der sie sich halten könne.

Die Entflechtung der Erstarrung  war ein wichtiger Schritt, und ich war froh, dass ich nicht einfach ihrem Wunsch nach rettender Anlehnung nachgegeben hatte, der den inneren, lähmenden Konflikt überdeckte.

Zur „analytischen Körperpsychotherapie kam ich nicht zuletzt durch einen lähmenden Mangel an Berührung, durch das Erlebnis des „Verhungerns“ auf der Couch. Hilfreich waren Erfahrungen in bereits etablierten, aber nicht psychoanalytischen Körpertherapien wie Bioenergetik, Primärtherapie, Biosynthese,  u. a., deren methodisch einseitige Errungenschaften ich seit 30 Jahren versuche, in den Kanon er Psychoanalyse zu integrieren, in enger Zusammenarbeit mit anderen Analytikern mit dem gleichen Ziel im „Steißlinger Kreis“, dessen erste Großtat der umfangreiche  Sammelband „Psychoanalyse der Lebensbewegungen“ ist.

Meine zwei einzigen größeren Misserfolge mit analytischer Körperpsychotherapie hängen mit einem solchen langfristigen Nachgeben mit einem Haltsuchen aus Abwehrgründen zusammen. Der Konflikt wird vermieden, und der Halt überbrückt wirkungslos einen Abgrund, in den man nicht schaut. Marguerite Sèchehaye (1986)spricht hier von kompensatorischen Bedürfnisbefriedigungen, die schädlich sind und die suchtartigen Charakter annehmen können.
Ermutigt durch diese Stunde brachte die Patientin erneut ihre Erstarrung mit, um, vollkommen unbewusst, eine neue Konfliktebene anzugehen. Sie legte sich auf die Couch, hatte wieder den Wunsch nach rascher Berührung, den ich aufschieben wollte, um erneut zu klären, was ihn so dringlich machte. Sie legte sich so auf die Seite, dass sie mich gut sehen konnte. Ihr Augenausdruck war von tiefem Misstrauen geprägt. Sie musste auch öfter wegschauen und zwischendurch mich fragen, an was ich dächte. Diese Orientierung ist ihr immer wieder wichtig, weil sie fürchtet, ich zöge mich ebenso unerreichbar in mich zurück, wie sie selbst es tut bei bedrohlicher Nähe, oder ich verberge Hohn hinter meiner freundlichen Maske.

Dann macht sie mit Händen und Armen schützende Gesten um ihren Kopf und Nacken, sagt: „Ich habe Angst, Du schlägst mich.“ Ich muss lächeln ob dieses massiven und überraschenden Verdachts, weil ich mich ihr warmherzig zugeneigt fühle. Da explodiert sofort der Verdacht der Verhöhnung. Mit dem Verstand wissen wir beide, dass sie in eine schlagartige, negative Mutterübertragung  geraten ist, die mit dem Ausmaß ihrer Bedürftigkeit, ihrer wie ihrer Zuneigung zusammen hängt. Übertragung bedeutet, dass sie vorüber gehend den Therapeuten erlebt wie früher ihre eigene Mutter. Trotz dieses Wissens sei die Angst im Körper groß und durch Deutungen nicht beherrschbar. Ich bin versucht, ihr durch beruhigende Berührung entgegen zu kommen, spüre aber, dass diese Angst ausgehalten sein will, auch im Kontrast zu einer wie immer gearteten, aber noch wartenden alternativen oder emotionale korrigierenden Erfahrung. Die körperliche Angst ist jetzt quasi  ein gemeinsames Produkt unserer Inszenierung: ich halte den Rahmen, die Patientin verfügt über ausreichend Ich-Spaltung und erlebt trotzdem heftig das Körperpotential der Angst, mit dem sie dauernd leben muss, und das ihr so viel Verzicht auf Nähe aufnötigt.

Sie ist verzweifelt über diesen Angstsee in ihr, verzweifelt auch über die lange Dauer unserer Arbeit. Aber ich kann ihr sagen: es sei diese Angstszene, mit ihrer eindringlichen Abspaltung von  der erwachsenen Seele, die sie nötigte, als Ausfluss ihres gewachsenen Mutes an die tiefsten Konflikte, die sie lähmen, heranzugehen.

Das beruhigt sie, weil es ihr ein Gefühl von therapeutischer Kooperation und erhalten gebliebenem Arbeitsbündnis vermittelt, und weil sie sich mitten in der Verzweiflung an meine Zuversicht halten kann.

Man kann sogar sagen: Der Körper produziert hier eine andere Übertragung als die Seele, die psychische Erinnerung. In meinem Video „Vaterkörper, Geburt und Symbolbildung“ konnte ich zeigen, dass sogar einzelne Körperbereiche gleichzeitig divergierende Übertragungen konstellieren können, die mit sukzessiven Interventionen auch abgerufen werden können.

Wegen dieser potentiellen und oft sehr realen Spaltung zwischen Körper und Seele scheint  es mir auch höchst wünschenswert, um nicht zu sagen notwendig, den Körper bei bestimmten Störungen handelnd einzubeziehen, weil sonst wesentliche Anteile eines Konflikt- oder Defektpotentials nicht zugänglich werden. Die Überlänge vieler klassischer Analysen scheint mir dafür ein Zeugnis zu sein. Wird der Körper nicht angemessen berücksichtigt, so rückt er in die Gestalt eines negativen Potentials, eines heimlichen Rückzugsortes, in dem sich pathogene Wirkmechanismen verbergen und die Analyse sabotieren.

Dafür ein anderes Beispiel, in dem ich das Lehrgeld eines zu langen kompensierenden Haltens bezahlt habe. Die Patientin mit einer Borderline-Störung war unfähig, die Erinnerung an einen sie beruhigenden, schützenden Halt über die Stunde hinaus zu behalten. Eine Weile schien es zu helfen, die Stunde auf Tonband aufzunehmen, damit sie sie zuhause anhören konnte. Nach einigen Monaten fragte ich sie, was sie denn mit der Struktur der Stunden und mit meinen Deutungen anfangen könne. Sie sagte: „Ich kümmere mich doch nicht um Ihr therapeutisches Gelaber, ich trinke Ihre Stimme.“ Ich war ziemlich verstimmt und merkte, dass ich ein anderes Setting finden müsste, um die Symbolisierung unserer Beziehung zu fördern. Ich verweigerte ihr die Bänder und bat sie, nach den Stunden ein Gedächtnisprotokoll zu schreiben, das ich vor der nächsten Stunde lesen würde. Einige Wochen vergingen zuerst mit der Milderung der Entzugserscheinungen und des Hasses, weil sie nun die Stillung durch  meine Stimme nicht mehr bekam. Aber dann fing sie an, einiges von den Stunden zu behalten, wenngleich noch immer sehr selektiv. Aus einem dieser Protokolle möchte ich zitieren, wobei ich zur Übung der Körperwahrnehmung mit ihr zum ersten Mal zu Beginn der Stunde vor den Spiegel getreten bin. Sie schreibt:

„Sie wollten ja, dass ich mehr aufschreibe, wie sich der Körper in der Stunde angefühlt hat: Bewusst auf den Körper geschaut habe ich eigentlich nur am Anfang der Stunde vor dem Spiegel. Wie ich in der Stunde schon sagte habe ich hauptsächlich den Nacken gespürt, weil ich den mit der Hand etwas gedrückt und geknetet habe. Und das war wohl eine unbewusste Strategie von mir, um ein Gefühl im Körper zu haben, auf das ich mich konzentrieren kann. Gleichzeitig war mit dieser Bewegung ja verbunden, dass ich den Arm über der Brust gekreuzt hatte, das hat sich wie eine Schutzbewegung angefühlt.

Vor was ich mich schützen möchte, weiß ich nicht. Wenn ich die Arme so über der Brust kreuze, dann ist das auch ein Gefühl, als ob ich mich zusammenhalten könnte. Ich halte mich zusammen und es fühlt sich sicher an. Ich weiß nur nicht, warum ich in Ihrer Anwesenheit so viel verkrampfte Sicherheit brauche. Es ist so paradox, weil ich mich bei niemandem so wohlwollend aufgefangen, akzeptiert und sicher fühle, wie bei Ihnen. Da versteh ich mich selbst nicht mehr. Da ist der Verstand dann völlig abgetrennt von meinem Körper: der verkrampft sich in Ihrer Anwesenheit und schließt sich zu, wo's nur geht und der Kopf sagt, dass Ihr Zimmer im Grunde der einzige Ort ist, an dem ich Lebendigkeit ausprobieren kann, ohne dass ich mich lächerlich machen könnte oder Angst haben müsste. Der Kopf will den Körper beruhigen, aber der hat so seine eigenen Reflexe.“

So weit ihr Protokoll der Stunde. Die Patientin ist klug, belesen und auf den oberen Etagen der Psyche auch introspektiv begabt. Das hat mich gelegentlich verführt, sie vom Körper abgesehen für hervorragend analysierbar zu halten. Aber der Erfolg blieb auf eine schmerzliche Weise aus.

Sie ist außerordentlich schreckhaft, hält sich, magersüchtig, für zu dick; hat eine lesbische Freundin, die sie für einige Monate für eine sexuelle Beziehung gewinnen konnte, und die meinte, ihre Angst vor Nähe müsse mit einem früheren Missbrauch zusammen hängen. Genau dies ist auch mein Eindruck, jedenfalls sind ausreichend Symptome dafür da. Aber sie ist von jeglicher Erinnerung abgeschnitten, und wir stehen nach wie vor dem Rätsel: Was hat sie veranlasst, den Körper absterben zu lassen, obwohl er als Sport- und Joggingkörper noch hervorragend funktioniert. In der Pubertät ist ihr bereits ihr Kampf gegen die Menstruation bewusst, und das Verbergen des Busens. Aber sie will auch nicht männlich wie ihre älteren Brüder gewesen sein. Auf der Couch schlägt sie ihre Beine so übereinander, dass der Schoß verschwindet, und wenn sie hereinkommt oder geht, kommt sie mir vor wie das hölzerne Bengele. Der Körper weigert sich, den Wünschen der Seele nach Kontakt und Beziehung nachzukommen , er hat ein destruktives Potential gespeichert, an dem wir bis jetzt immer wieder scheitern, sodass ein Klinikaufenthalt wegen Magersucht nötig wurde.

Ein weiteres Beispiel zur Fremdheit des Körpers und für Körperpotentiale, die wenn sie sich nicht entfalten dürfen, unbewusst bedrängend bleiben. Die Patientin leidet an einer gewissen Grenzenlosigkeit, weil sie nie einen limitierenden Halt bei den Eltern gefunden hat. Sie hält sich als Lehrerin für unbegrenzt belastungsfähig und mutet sich bis zur Selbstausbeutung immer wachsende Aufgaben zu. Zur Entgrenzung gehörte eine jahrelange Drogenkarriere, bei der sie in eine Traumwelt abgeglitten war, die ihr half, ihre schrecklichen Kindheitserinnerungen zu vergessen.

Eines Tages sagte sie, ihr fehle körperlicher Halt, und zwar mit großer Kraft, sodass sie Halt durch einen Stärkeren spüren könne. Nach einigem Nachdenken und Rückfragen bei ihr über ihre körperlichen Haltephantasien kamen wir überein, dass ich mich zu ihr auf die Couch setze und mit meinen Armen und meinem Körper sie so halten solle, dass sie  mit Armen und Schultern absolut eingezwängt wäre. Es begann ein heftiger Kampf, der mir alles an Kraft abverlangte, die ich aufzubieten hatte. Sie sagte immer wieder herausfordernd und triumphierend: Dich schaffe ich, Du kannst mich nicht halten! Es war ein elementares Ringen, bei dem es darum ging, ob sie eine stärkere väterliche Kraft erleben und akzeptieren könnte. Wir waren beide schweißgebadet, aber schließlich sagte sie: „Du bist stärker, und es ist gut so, Du kannst mich wirklich halten.“

In der nächsten Stunde meinte sie dankbar, der kraftvolle Halt habe lange in ihr nachgewirkt und in ihrem Körpergefühl etwas verändert. Ich sei ihr auch weniger fremd und sie glaube, mehr Zutrauen zu mir gewonnen zu haben.

Zwei Wochen später kehrte sie von einem Kongress zurück und berichtete erfreut, sie habe zum ersten Mal die Natur, das Meer, die Menschen gespürt, und zwar so, dass nicht alles hinter einem Schleier blieb. Sie habe den Sand unter ihren Füßen, das Wasser und die Rinde von Bäumen gefühlt wie nie bisher, und sie sagte es mit leuchtenden Augen und der Begeisterung eines Kindes. In meiner Gegenübertragung stellte sich folgendes Bild ein: Ein Kind rennt auf ein Elternteil zu und wirft sich in dessen Arme, um nicht nur einen spiegelnden Zeugen zu haben, sondern auch um Hilfe zu finden beim Umgang mit dem überstarken Gefühl. Ich schlug ihr diese Szene vor, sie ging zur Tür zurück und rannte auf mich zu, ich fing sie in meinen Armen auf, und sie  schluchzte auf und weinte längere Zeit in einer Mischung aus Schmerz über nie Gehabtes und aus Glück über die stimmige Szene. Das Körperpotenzial, das in die Übertragung drängte, tauchte also zuerst als Bild in der körperlichen Gegenübertragung auf. In der klassischen Analyse wäre das Bild vielleicht mitgeteilt worden, und es ist denkbar,  dass es ebenfalls zu einem Aufleuchten von Trauer und Glück gekommen wäre, aber nicht mit der gleichen Intensität und der Möglichkeit, sich in haltende Arme fallen zu lassen.

Das Erleben ermäßigt das Befremden über einen Körper, der in der Kindheit erstarrt ist, weil er keine Szenen erlebt hat, in denen Affekte in  angemessener physiologischer und muskulärer Form eine strukturbildende Interaktion gefunden haben. Beim Halten erlebt der Therapeut das Wogen der Affekte mit und spürt, wie sie sich nach dem Sturm langsam beruhigen, bis körperliche Ermattung und psychisch Dankbarkeit und Wohlbefinden eintreten.

Spiele der Hände

Dieselbe Patientin kommt zu einem späteren Zeitpunkt und redet rasch und ausdruckslos über Ereignisse der vergangenen Woche. Es ist mühsam, ihr zuzuhören, weil ich nicht den Eindruck habe, einer lebendigen Person gegenüberzustehen. Ich bemerke aber ein ausdrucksstarkes  und abwechslungsreiches Spiel der Hände, das bald angenehm, bald mühsam anzusehen ist. Die Finger verschränken sich so ineinander, dass sich einmal ein harmonisches Verschränktsein ergibt, indem die Finger beider Hände parallel ineinander greifen; ein anderes Mal zeigt sie eine schmerzliche Verstrickung, indem die Finger einen verdrehten Knäuel bilden, das Ganze mit vielen Zwischenstufen. Als partiell beruhigend auch für die Patientin erlebe ich es, als die Hände mit eingekrümmten Fingern haltend ineinander greifen, die aber einen Eindruck des Verhärmt-Seins hinterlassen.

Die Patientin ist sich schmerzlich bewusst, dass sie sich verloren hat, und schaut mich mit leerem Blick Hilfe suchend an. Sie ist auch unfähig, von sich aus körperliche Hilfe zu suchen, weil die Verlorenheit und die Resignation zu groß sind. Ich deute ihr, dass sie Kontakt zu sich selbst am Halt an sich selbst sucht und damit auch andeutet, welche Art Beziehungsgestalt ihr früh unzugänglich war, biete ihr an zu versuchen, über meine Hand Kontakt zu mir und zu sich zu finden. Das heftige Handspiel endet, und sie nähert sich meiner Hand mit reglosen, fremdartig sich anfühlenden Fingern, die keinen Kontakt finden. Alles Aktive, in kleinsten Dosen, verläuft sich im Leeren. Auch als sie meine Hand zu fassen versucht, bleibt ihre Hand leblos, ich erlebe in der Gegenübertragung eine Art von Weltraum-Fremdheit, vor der mich ein wenig schaudert. Als Gegenübertragung bezeichnet man die eigenen seelischen Reaktionen des Therapeuten auf den Patienten.

Erst als sie ihre Hand zwischen meine schützenden Hände legen kann, erwacht Leben in ihr In die Augen kommt Bewegung, sie atmet auf und sagt: „Nun fühle ich mich vollkommen beschützt.“ Ihr Gesicht füllt sich, und der Ausdruck großer Verlorenheit verschwindet. Ihr lebendiges Selbst scheint zurückzukehren. Die Hand war das Symbol ihres Selbst,  das sie aufgrund einer fundamental ablehnenden Mutter verloren hatte. Die Körperinszenierung, von ihr vollkommen unbewusst vorgenommen, öffnete den Rückweg auf sicheren Boden. In seiner Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit bedarf  das aus früher Interaktion heraus gefallene Selbst  aber weiterer Festigung: es will erkannt und körperlich begrüßt werden und Schutz finden bei der Begegnung mit sich selbst, bei der es aber den bedeutungsvollen Anderen braucht, der vorübergehend nicht Person, sondern fast nur schützende Substanz ist. Es ist berührend, wie aus den ausdruckslosen, ja fast blinden Augen der erkennende und dankbare Blick auftaucht, der aus der rettenden Substanz des Therapeuten wieder eine Person macht. Damit erfolgt ein wechselseitiges Anerkennen des Anderen als Mensch und Gegenüber.

Wichtig ist die Fähigkeit zur Symbolisierung der Szene, sie erfolgt am ehesten dadurch, dass das Erleben am Schluss in Worte gefasst wird. Aber das ist keine Zauberformel. Gerade bei frühen Störungen kann diese Funktion beschädigt sein. Manchmal hilft die Wiederholung, manchmal die Wiedergabe in einem anderen Medium, etwa dem Malen. Es kann die Gefahr einer süchtigen Entwicklung bestehen, die außerordentlich entmutigend sein mag. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, den Patienten anzuregen, das emotionale und gedanklich fassbare Erlebnis der Stunde schriftlich festzuhalten, es mir zu schicken oder es zur nächsten Stunde mitzubringen. Es handelt sich um eine gezielte Rekapitulation, die in die nächste oder weitere Stunden integriert wird.

Die gleiche Patientin verbrachte sieben Wochen in einer Klinik, wo sie einen Alkoholentzug absolvierte. Sie kam zu einem Zwischenaufenthalt vor der Entlassung und bat um eine Stunde. Sie sagte, der Entzug sei schrecklich gewesen, mit schwer aushaltbaren körperlichen und seelischen Schmerzen. Sie möchte nie mehr etwas so Schreckliches erleben. Sie habe zeitweise ihren Körper mit Grauen wahrgenommen wie ein Stück blutiges Fleisch ohne Struktur und ohne Haut. Sie bat mich, sie festzuhalten, sie legte sich, von der liegenden Position, hoch zu mir mit dem Kopf auf einem Kissen auf meinem Schoß, aber so, dass ihre Stirn meinen Bauch berührte und ich meinen rechten Arm um ihren Kopf und meinen linken auf ihre Schulter legte. So ruhte sie, tief atmend, eine Weile, bis sie sagte, sie fühle sich geborgen, aber das wichtige sei, dass sich unter meinen Händen wieder Haut und Grenze bildeten.

Ich hielt eine tief Verletzte, aber auch eine Genesende. Ich will nicht verhehlen, dass mein Gefühl dem einer Andacht glich. Falls ich von einer Körperenergie sprechen sollte, so ging es um eine weiche, fast zärtliche Strömung, die langsam zur Ruhe kam. „Aus meinem Bauch in ihre Stirn aber flösse eine ganz vorsichtige Energie, der Vorgang käme ihr vor wie Tanken.“ Damit die Beziehung nicht abrisse, hatten wir einige Male telefoniert, aber doch nur so, dass sie mein Weiterleben für sie wahrnehmen konnte. Sie scheint auch den kurzen Telefonaten kleine Portionen von Überlebens-Energie entnommen zu haben, sodass sie in dieser Stunde der Rückkehr relativ leicht an unsere frühere Beziehung anknüpfen konnte.

Die Trennung von Köper und Seele ist ein dankbares Beobachtungsfeld bei früh gestörten und bei Borderline-Patienten. Sie haben eine tiefe, oft unbewusste Sehnsucht, wieder lebendig und ganz zu werden, häufig mit tiefer Resignation verbunden, weil ihnen dieser Weg trotz vielfältiger Versuche nicht geglückt ist. Durch die Berührung erhält der Körperpsychotherapeut für diese Patienten eine bis dahin nicht erlebte Glaubwürdigkeit, und man trifft häufig auf ungläubiges Staunten, dass er aus Fleisch und Blut ist und sich die Dimension der Verlorenheit wirklich vorstellen kann, weil die über den Körper kommuniziert worden ist.

Die Aushebung der Abspaltung aber ist ein schmerzhafter Prozess, weil sich die bewussten und unbewussten Erinnerungen an die Schmerzen, die zur Spaltung geführt haben, nicht vermeiden lassen. Aber wenn der Therapeut ein wohlwollender und mitfühlender Zeuge bleibt, können sie leichter ausgehalten werden. Mit fortschreitender  Festigung des therapeutischen Bündnisses werden die Patienten auch fähig, selbst wahrzunehmen, wo die pathogenen Stellen in der Vergangenheit liegen, und es entwickelt sich, sehr zur Freude des Analytikers, ein kompetenter Handlungdialog, gefolgt von der analytischen  Aufarbeitung, die allerdings nicht das A und O sein darf: Manche Enactments, also spontan erfolgende Inszenierungen von konflikthaften Szenen dürfen ruhig unkommentiert ins Unbewusste absinken, wo sie ein lebendiges Fundament für das weitere Leben bilden.

Fragen der Fortbildung

In meinem Buch „Berührung auf der Couch“ (Moser 2001) habe ich versucht, alle körperlichen Interaktionsformen, die sich für mich als hilfreich erwiesen haben, kommentiert darzustellen. Sie haben sich herauskristallisiert nicht nur in den Jahrzehnte der eigenen therapeutischen Praxis, sondern auch in den zahlreichen Supervisionswerkshops und Einzelsupervisionen, denen es darum ging tiefenpsychologisch und psychoanalytisch vorgebildeten Kollegen die Anfangsgründe der „Heilsamen Berührungen“ (Heisterkamp 1993) anschaulich und in Selbsterfahrung überprüfbar zugänglich zu machen.

Jeder Patient braucht seine eigene Therapie, und es gehört zu den größten Absurditäten, wenn Anhänger jeglicher therapeutischer Schule stolz darauf sind, ihre jeweilige Methode korrekt und ohne Abstriche „anwenden“, um im Gehorsam auf die niedergelegten „essentials“ korrekt dem Vorbild der idealisierten Meister zu folgen. Aus einem supervisionsartigen Briefwechsel mit einer über die Starrheit ihres Analytikers empörten Patientin ist mir der wiedergegebene Satz ihres ebenso idealisierten Analytikers in Erinnerung geblieben, nachdem sie, vermutlich zu Recht, kleine Modifikationen angemahnt hatte: „Ihretwegen werde ich kein Jota an meiner Methode ändern!“  Sie drohte nicht nur an seinem eisernen Schweigen zu scheitern, sondern auch an der vergeblichen Bitte, ihr in bedrohlichen Angstsituationen für kurze Zeit seine Hand zu reichen.

Therapeutische Überichs sind in den Phasen der methodischen und theoretischen Ausbildung sicher wichtig, umso mehr, wenn sie sich eher der Form eines flexiblen Ichideals annähern, aber sie können schädlich werden, wenn sie sich zu Bastionen in einem behandlungspraktischen Machtkampf entwickeln. Zur psychoanalytischen Orthodoxie gehört lange Zeit die genaue Einhaltung von durch Freud aufgestellte Behandlungsregeln über Neutralität, strikte Abstinenz, Deutungstechnik, u. a., von denen sich einige bei genauer Befolgung sogar als retraumatisierend erwiesen haben.

Selbsterfahrung ist das A und O bei der Verbreiterung des eigenen therapeutischen Instrumentariums. Es gibt eine Fülle von Fortbildungsmöglichkeiten, die von den verschiedensten körpertherapeutischen Schulen angeboten werden. Auch wenn sich die Teilnahme an ihnen nicht auf eine regelrechte Ausbildung zubewegt, geben die Erlebnisse im Umgang mit dem eigenen Körper und dem der Trainingspartner einen wichtigen Hintergrund für vorsichtige  Experimente, das Erfahrene vorsichtig in neuen Situationen anzuwenden. Am fruchtbarsten hat es sich für mich erwiesen, wenn Kollegen in Intervisionsgruppen neue Handlungs- und Berührungselemente miteinander erproben und üben.

Das kann damit beginnen, dass man, in definierten Rollen Therapeut und Patient, ein Halten der Hand in vorphantasierten Seelenzuständen anbietet. Es ist erstaunlich, mit welcher Zielsicherheit der Halt der Hand eine Regression ermöglicht, die zu einem Krisenpunkt in der biographischen Entwicklung führt, in der hilfreicher Halt gefehlt hat oder in einer das tiefere Bedürfnis verfehlenden Weise angeboten wurde. Die dargereichte Hand erweitert nicht nur den psychischen Spielraum des Patienten für Gefühle, die ihm ohne Halt als zu bedrohlich erscheinen, sondern sie fördert auch Erkenntnisse zutage, was am frühen Halt falsch war und den Weg ins falsche Selbst bahnte.

Es geht um die Schulung der Wahrnehmung der eigenen Körperreaktionen und um die Gewinnung eines eigenen “Vater- oder Mutterkörpers“. Denn der berührende Therapeut muss sich sicher sein, dass er nicht mit dem eigenen inneren Kind reagiert, dass er sich nicht eigene symbiotische oder aggressive Bedürfnisse erfüllt, kurz, dass er nicht in Gefahr gerät, das wichtige und unabdingbare Abstinenzgebot verletzt. Denn die Abstinenzregel der klassischen Psychoanalyse, die Berührung nicht erlaubt, muss ausgeweitet werden auf die Disziplin von Berührung und Interaktionshandlung.

Denn die Grundangst der orthodoxen Psychoanalyse bezüglich Berührung war und bleibt die Sorge, Berührung bedeute automatisch Sexualisierung der Beziehung, oder sie führe zwangsläufig in eine süchtige Entwicklung, wenn die symbiotische Sehnsucht des Patienten in der falschen Form, ohne die Aussicht auf wachsende seelische Strukturbildung zu fördern, unverändert weiter besteht. Hier war die Unterscheidung von Marguerite Sèchehaye (1986) zwischen primären (und legitimen) Bedürfnissen und kompensatorischen Ansprüchen ein Meilenstein in der Entwicklung eines neuen und differenzierten Begriffs von Abstinenz. Ein primäres Bedürfnis ist zum Beispiel das nach körperlichem mütterlichem Halt, der bei großer früher Entbehrung auch in der Analyse gegeben werden darf. Eine kompensatorische Befriedigung kann zum Beispiel in der Sexualität gesucht werden, aber auch in Sucht oder körperlicher oder seelischer Anklammerung an Partner gesucht werden.

Zentral ist ebenfalls das Erlernen einer Kultur der Frage an den Patienten: „Wie erleben Sie diese Berührung? Können Sie sie auch erbitten oder fordern“ Können Sie sie auch beendigen, wenn sie für sie nicht mehr stimmt, ohne Angst, den Therapeuten zu verletzen oder einer erneuten Berührung, wenn sie gebraucht wird, verlustig zu gehen? Und wie hat die Berührung nach der Stunde nachgewirkt? Ist sie in Träume eingegangen? Können Sie sie mit Blickkontakt verbinden, mit parallelen oder späteren Worten verbinden, die dem Erlebten ein sprachliches Gewand geben? Öffnen sich mit der Berührung neue Kanäle der Kommunikation? Spüren Sie Halt, Freude, Befangenheit, Angst, Erschrecken, Scham oder Gier auf mehr?“ usw. Für den tiefenpsychologisch orientierten Therapeuten ist es wichtig, dass sich auch averbale Phasen der körperlichen Beziehung in eine sprachliche Verständigung kleiden lassen. Aber: nicht alles muss um jeden Preis verwörtert werden, die Sucht nach Wort kann auch zwanghaft werden, um sich vor der Angst vor einem nur diffusen Erleben zu schützen. Gegen ein Abtauchen in Gefühlsbereiche, die sich einer Deutlichkeit des Fühlens entziehen wollen, sind Worte wichtig; aber sie können auch erst nachträglich gefunden werden, wenn die rasche Verbalisierung das Glück einer stimmigen Berührung verderben wollen.

Die  körpertherapeutischen Beispiele in diesem Text sind in ihrer Heftigkeit vielleicht zunächst erschreckend. Sie ereigneten sich auf dem Boden einer langjährigen Erfahrung und einer ebenso langjährigen Beziehung zu den Patienten.

Der Anfänger soll sich ruhig Zeit lassen mit dem Erproben vorsichtiger Berührungen: das Überlassen der Hand oder das aktive Zugreifen erlaubt vielfältige Variationen der Beziehung. Sie sollten sich in der Regel nicht unvorbereitet ereignen, es sei denn, der Therapeut sei sich seiner körpertherapeutischen Einfühlung in einem bestimmten Moment der Regression sicher, oder er sei sich auch sicher, dass er in diesem Moment eine Regression hilfreich einleiten, nicht nur begleiten wolle. Die Kultur der Anfrage ist wichtig, sie schenkt dem Patienten die Würde der Selbstbestimmung, und sie erlaubt ihm, den neuen Schritt und seine Wirkungen voraus zu phantasieren und sich auf ihn vorzubereiten. Diese didaktischen Hinweise haben eine große Bedeutung – für den Patienten wie für den Therapeuten – und müssen immer wieder wiederholt werden, bis sie zur inneren Selbstverständlichkeit werden.

Ein weiterer Punkt ist wichtig: eine wohlüberlegte Berührung festigt die Beziehung und das Arbeitsbündnis, sie fördert das Grundvertrauen, analog dem Grundvertrauen, ja Urvertrauen, das Kinder in der geglückten Berührung mit Mutter und Vater erleben und festigen können. Empathische Berührung, haltend oder eingrenzend und Widerstand gebend, fördert die Psychohygiene des Therapeuten, der in der klassischen Behandlung seine eigenen Körperreaktionen stilllegen muss, sie höchstens beobachten darf, um sie in Form von verarbeiteten Gegenübertragungsreaktionen wieder in den Prozess einzuspeisen. Diese Beachtung und meditative Beachtung und Beobachtung der eigenen Körperreaktionen ist ein Fortschritt, dem sich auch die klassische Analyse nicht mehr verschließt. Von da an ist es aber immer noch ein großer Schritt, mit diesen Reaktionen bewusst handelnd umzugehen.

Stimmiger Körperkontakt ist ein so elementares Bedürfnis des Menschen. Ist er in der Kindheit eines Patienten missglückt, beschädigt durch mangelnde Empathie, durch Gewalt oder erotischen Missbrauch, dann darf er in kundiger Form auch angewandt werden, um frühe Schäden zu mildern und verloren gegangene Lebensfreude zu fördern.

Literatur

  • Geißler, P. (Hrsg.): Psychoanalyse und Körper. Psychosozial-Verlag, Gießen 2001
  • Heisterkamp, G.: Heilsame Berührungen. Pfeiffer-Verlag, München 1993
  • Moser, T.: Berührung auf der Couch. Formen der analytischen Körperpsychotherapie. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2001
  • Moser, T.: Der Erlöser der Mutter auf dem Weg zu sich selbst. Eine Körperpsychotherapie, Frankfurt 1996
  • Moser, T.: Ödipus in Panik und Triumph, Frankfurt 1997
  • Moser, T.: Das erste Jahr. Eine psychoanalytische Behandlung, Frankfurt 1988
  • Moser, T.: Vaterkörper, Geburt und Symbolbildung. Ein zweistündiges Lehrvideo, leider vergriffen, erhältlich eventuell bei amazon oder anderen Anbietern.
  • Petzold, H.: Die neuen Körpertherapien, Paderborn 1977
  • Sèchehaye, M.: Ein Psychotherapie der Schizophrenen. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 1986
  • Vogt, R. (Hrsg.): Körperpotenziale in der traumaorientierten Psychotherapie. Psychosozial-Verlag, Gießen 2008