Tilmann Moser

Verliebtheit

Tilmann Moser (2014)

Auch wenn sich Verliebtheit bei einer Patientin nicht zu einem Liebeswahn steigert, der oft nicht zu kurieren ist, macht intensive Verliebtheit manchen männlichen Psychotherapeuten oder Psychoanalytikern in der Behandlung erhebliche Mühe. Sie kann nur atmosphärisch fühlbar sein, sich in gelegentlich auch aufdringlichen Komplimenten äußern, zu wiederholten Geschenken, Liebesblicken oder längerem Händedruck beim Beginn oder beim Abschied führen. Sie kann dem Therapeuten eine Weile schmeicheln oder ihn zu einem zu liebenswürdigen oder gar gegenverliebten Verhalten verleiten oder ihn ratlos oder verlegen machen. Vielleicht erinnert er sich an Freuds Warnung, die Gefühle der Patientin nicht seinem Verdienst, sondern der Übertagung zuschreiben, auch wenn es durchaus realen Anlass geben kann für die Patienten, auch die reale Person zu lieben. Denn viele Patienten erleben auch in seiner höchst undeutlich und schwer unterscheidbaren Realität Gründe, den Begleiter zu lieben, ist er doch oft die erste Person, die sich ihnen aufmerksam und wohlwollend zuwendet.

Wir wissen, wie sehr Verliebtheit eine Widerstand darstellen kann gegen das Aufkommen unangenehmerer Gefühle und Konflikte, und dass sie der Verzögerung oder Vermeidung der schwierigen Arbeit dienen mag. Aber es ist auch klar, dass sie eine hochwertige Motivationsquelle sein kann, um eine innere Mutlosigkeit, Angst und Scham vor Gefühlen und Geständnissen zu überwinden. Man muss also immer abschätzen, um welche Art von Verliebtheit es sich handelt, auch in welcher Phase der Behandlung sie auftritt, sich verdichtet oder sogar penetrant wird oder zu künstlichem oder verschleierndem Verhalten führt.

Manche Patientinnen kommen mit dem festen Vorsatz, sich nicht zu verlieben, entweder weil sie dem Vorurteil verfallen sind, das müsse vielleicht sogar zwangsläufig geschehen. Oder sie haben von einer Freundin oder einem tendenziell eifersüchtigen Partner gehört, so etwas drohe bei einer solche Veranstaltung fast immer, oder sie verdächtigen sich selbst, dass ihnen das geschehen könne, fürchten dann Zurückweisung oder Beschämung oder in der Wiederholung eines biographischen Ereignisses eine analoge Verstrickung. In ihrem Kampf gegen die mitunter ansteigenden Gefühl versuche sie alle inneren oder äußeren Spuren zu unterdrücken, ganze Gefühlsfelder auszusparen, drohende Anzeichen solcher Gefühle nicht wahrzunehmen oder vielleicht hellsichtigen Eindrücken des Therapeuten, die er anzudeuten wagt, trotzig zu widersprechen.

Nun gibt es aber Fälle, wo die Behandlung aus eben diesen Gründen zu stagnieren scheint. Unerfahrene Kollegen trauen sich oft nicht, das Thema beherzt anzusprechen, weil sie selbst befangen sind, sich des Narzissmus verdächtigen oder den Verdacht bei der Patientin befürchten. Ein freies und unbefangenes Erwähnen der Vermutung oder auch nur der vorsichtigen Nachfragen nach früheren Zuständen der Verliebtheit wird dadurch erschwert. Es kommt unter Umständen zu einem Eiertanz um das Thema herum, der Therapeut gerät in Verlegenheit und die Patientin fängt an, an seiner Einfühlung oder sogar seiner Kompetenz zu zweifeln und ist doch gleichzeitig so dankbar wie therapeutisch unzufrieden, dass das gefährliche Ansprechen nicht geschieht. Manche eine(r) zieht nach jeder Stunde von dannen, erleichtert, dass die Entdeckung wieder einmal ausgeblieben oder siegreich verhindert wurde.

Ganz anders, mit Varianten, liegt der Fall, wenn der Analytiker ahnen oder wissen darf, dass eine heimliche oder verheimlichte Verliebtheit vorliegt, ja sogar, dass eine teilweise sogar still gelebt wurde und infolge einer Kränkung wieder in den Untergrund gedrängt oder verdrängt wurde. Dann ist viel Takt notwendig, um die Hintergründe der neuen Tarnung oder Scham anzusprechen, vor allem aber dann, wenn man in der Verliebtheit ein Wiederaufleben auch früh verdrängter oder aufgegebener sehr früher Gefühle annehmen darf. Dann ist Ermutigung am Platz zu etwas Kostbarem, das sich wieder zeigen und wieder gelebt werden möchte, ohne mit erwachsener Verliebtheit verwechselt zu werden, und das sogar als ein Anzeichnen scheuer Bereitschaft gedeutet werden kann, wieder kräftige Lebensspuren zuzulassen. Drastisch ausgedrückt: Es ist sogar ein Glückwunsch abgebracht für den Lebensmut, bedrohliche Gefühle noch einmal im Ansatz zuzulassen und auch deren Aufflammen zu riskieren, weil ein früher Frost oder eine späte Entwertung stattgefunden hat, die einen wertvoll Bestandteil des Lebens auszulöschen drohte, der sich wieder regen will. Es ist aber wichtig und vielleicht wiederholt zu erkennen zu geben, dass die neu erwachenden oder verborgenen Gefühle als eine kostbarer Leihgabe betrachtet werden, die riskiert werden dürfen, weil sie nicht auf der gleiche Ebene verantwortet werden, erst recht nicht durch eine Vereinnahmung auf einer missbräuchlichen Ebene, sei es auf einer emotionalen oder gar körperliche Ebene.

Jede allzu neutrale Verweisung auf frühe Gefühle oder eine dahinter liegende Übertragung kann kränkend wirken wie eine Zurückweisung auf einen unechten oder irrealen Inhalt. Es muss klar sein, dass die therapeutische Beziehung der höchste Wert in dem Geschehen ist, und dass ein Verwechslung oder gar eine Antwort auf erwachsener Ebene oder gar deren Ausleben ein Katastrophe nach sich ziehen und die Chance der Behandlung zerstören würde. Auf dieser Basis kann die Verliebtheit willkommen geheißen und begrüßt und als ein Zeichen des neu erwachenden Lebensmutes gewürdigt werden. Die Seele, so kann man fast poetisch sagen, habe die Fähigkeit bewahrt, diese verborgenen, aber nicht zu phasengerechtem Ziel gelangten Gefühle zu bewahren, würdigt und ehrt , bis sie einen würdigen Partner im Therapeuten fänden. Dieser bewahrt, würdigt und ehrt sie seinerseits, damit sie nachreifen können und im späteren und wirklichen Leben einen angemessenen neuen Partner fänden. Ob der Therapeut dieser Leihgabe würdig sei, sei eine wichtige gemeinsame Forschungsarbeit und dürfe immer wieder neu überprüft werden.

Es gibt eine ganz elementare Behinderung eines freien Umgangs mit dem vermuteten oder schon sichtbaren Thema; der Übertragungswiderstand des Analytikers oder Therapeuten. Oft reicht bereits die schon erwähnte Befangenheit des Therapeuten vor dem Thema, aber auch eine mangelnde Kenntnis über die seelischen und körperlichen Anzeichen früher und inniger Verliebtheit des kleinen Kindes, sogar Säugling die die Mutter. Ein fast untrüglicher Hinweis sind die kleinen und meist unbewussten Kussbewegungen sozusagen in die Luft, aber gemeint ist natürlich die Mutter. Darauf angesprochen herrschen Erstaunen, Belustigung oder Scham, Scham über die Unbewusstheit der Vorgänge oder das Ertappt-Werden bei vor „verräterischen“ Bewegungen. Es können aber auch Baby-oder Kleinkindlaute die auf intime Nähewünsche hindeuten. Hilfreich und schammindernd sind Erklärungen über die nicht willentlich steuerbaren Gesten, die, so unbewusst sie sein mögen, von sensiblen Müttern wahrgenommen und durch „passende“ Gesten und Laute beantwortet und damit auch willkommen geheißen in die noch wortlose Beziehung eingefügt werden. Dem nicht berührenden Analytiker reicht oft die mitgeteilte Beobachtung und die Würdigung der Regressionsebene. Aber schon dafür braucht er Mut und Sicherheit im Ansprechen dieser dem Patienten noch kaum zugänglichen Übertragung, der sich aber bei gelockerter Abwehr dankbar zeigt für die empathische Mitteilung.

Der analytisch-körpertherapeutisch geschulte Analytiker hat es leichter mit einer adäquaten Beantwortung Sehnsuchtszeichen mit einer erneuten Erklärung: diese Zeichen suchen dringlich nach einer leiblichen Inszenierung: Wenn Sie den Mut haben, zeige ich Ihnen eine kleine Kostprobe des Ersehnten: Ich biete Ihnen meinen Unterarm an für einen Versuch einer zuerst winzigen Lippenberührung, später folgt die Ermutigung zu kaum merklichen Küsschen. Wenn der Intimitätsbrücke zugestimmt ist, kann die Aufforderung des Patienten kommen: „Sie dürfen aber nicht gucken, ich bin zu befangen oder beschämt.“ Das kann man leicht zusagen. Noch klarer war der Wunsch einer Patientin, bei dem Vorgang den Kopf für mich unsichtbar zumachen unter einem schützenden Kissen, das sie über ihr Gesicht zu legen bat. Man staunt dann über die wachsende Lust, den frühen Vorgangmehrfach auszuprobieren, bis hin zu einer minutenlangen Dauer, die den langen Stau dieser lang entbehrten Begegnung anzeigt. Es handelt sich beileibe nicht um plumpe Wiedergutmachen, sondern einerseits um eine Bekräftigung und Bestätigung der endlich entdeckten Regressionsstufe, andererseits um eine Entlastung der permanenten unbewussten Anstrengung der Gegenbesetzung, weil es dafür im späteren Leben außer im Zustand höchst regressiver und von Scham befreiten Verliebtheit. Im normalen Leben muss dieses Stadium meist weiterhin abgewehrt werden und kann zu unerklärbarem suchtartigem Verhalten führen. Auf jeden Fall wird der Therapeut belohnt durch eine erstaunte Dankbarkeit und der Festigung der Überzeugung, dass er nicht missbräuchlich verführbar ist. Auf Seiten des Analytikers wird ein mitschwingendes und begleitendes Gefühl spürbar, das ich nicht anders als mit Andacht bezeichnen kann.