Tilmann Moser

Helm Stierlin: Pionier der Familientherapie

Eine Biographie von Michael Reitz

Die Behandlungen von Magersucht ist eine der größten Herausforderungen für Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, sie ist langwierig und kann zermürbend sein und tiefe Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit hinterlassen. Deshalb legen Stierlin und sein besonders Gewicht auf die Familientherapie der Störung und preisen, ein wenig großspurig, ihre Methode an, die angeblich nur zwölf Sitzungen zur Heilung benötigt. „Der magersüchtige Mensch reagiert mit seiner lebensgefährlichen Verweigerung der Nahrungsaufnahme auf Kommunikations- und Handlungsmodi in der Familie“, viel mehr als auf „verschüttete Traumata“.  „Magersucht ist so verstanden keine wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommende Störung, die mit der richtigen Individualtherapie in den Griff zu bekommen ist, sondern ein aktives Verhalten des Kranken, das nur zusammen mit dem Rest des relevanten Bezugssystems geändert werden kann.“ Das Setting bringt also die ganze Familie, oft auch samt der Großelterngeneration zusammen, zur Forschung  wie zur Effizienzsteigerung sitzt eine zweite Therapiegruppe hinter dem Einwegspiegel, in einer Sitzungspause beraten beide Teams über den Verlauf und die Dynamik der Familienkommunikation, und die gemeinsamen Erkenntnisse werden gleich eingespeist in die Therapie.

Reitz hat eine ausgezeichnete Monographie über Stierlins Ausbildung und allmähliche Modifikation der Methode geschrieben. Stierlin hat sozusagen die familientherapeutische Welt zum kollegialen Studium bereist und alle Pioniere auch nach Heidelberg zu Seminaren eingeladen. Er startete selbst als Psychoanalytiker und hat sein Setting in sehr durchdachter Weise erweitert, ohne seine theoretische Abkunft je zu verleugnen: „Mir stellte sich die bis heute nicht abgeschlossene Aufgabe, das Paradigma der Psychoanalyse mit dem der Familientherapie zu versöhnen.“

Versöhnung ist auch ein Grundprinzip seiner Arbeit: statt undurchschauten Frontkämpfen in wechselnden Untergruppen in der Familie und wechselnden Rollenzuschreibungen und Stigmatisierungen sucht er durch die Methode des „zirkulären Fragens“ die Teilnehmer zu Einfühlung und Verstehen zu führen, um dadurch die gemeinsame Kompetenz zu stärken und die verloren gegangene Solidarität wieder herzustellen.

Reitz verbindet die einfühlsam beschriebene Biographie des Autors mit dessen  Beginn als Flakhelfer, politisch engagiertem Publizisten, engagierten Forscher, (einschließlich einer noch stark psychoanalytisch geprägten Hitlerbiographie), um eine Persönlichkeit zu schildern, die viele andere Schüler, Therapeuten und Forscher geprägt hat, und hat damit selbst ein gut lesbares Lehrbuch geschrieben.

Michal Reitz, Helm Stierlin. „Zeitzeuge und Pionier der systemischen Therapie.“ Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2014, 176 S., kart., 19,90 Euro.

Tilmann Moser