Tilmann Moser

Bruder-Bezzel, Neoliberale Identitäten

Ein Ende der Gewissheiten

Über den Einfluss des Geldes auf die Seele

Programmatisch schreibt die Mitherausgeberin des  kritischen Bandes „Neoliberale Identitäten“, Almuth Bruder-Bezzel, über die Auswirkungen des Spardrucks auf die seelischen Zustände der Individuen wie der Psychotherapeuten: „So werden immer umfassender alle Lebensbereiche einer Ökonomisierung ausgesetzt, eine Strategie der reinen Kosten-Nutzen-Rechnung. Die Marktmechanismus werden immer umfassender zur Basis individueller und kollektiver Lebensbedingungen.“

Dies zeigt in einem düsteren Ausmaß der frühere Leiter einer psychosomatischen Klinik, Professor Wolfram Keller, in seiner Bilanz in dem Aufsatz „Stationäre Psychosomatische Behandlung im Spannungsfeld ökonomische Zwänge“. Die Sparzwänge verwandeln die Diagnosen wie die Beziehungen der Therapeuten zu ihren Patienten: die Behandlungszeiten schrumpfen, die Therapiemethoden werden zunehmend standardisiert, auch durch die „Manualisierung“ der Abläufe. Und dies um so mehr, als viele „Seelenkliniken“ zu profitorientierten Institutionen werden: so verfügt die „Rhönkliniken“ über fast 140 Häuser, und die Therapeuten arbeiten unter hohem Zeit- und Erfolgsdruck nach einengenden „Effizienzkriterien“, sodass er von einem „Reparaturbetrieb“ spricht, der die Rolle der Therapeuten verändert zu einer „Veroberflächlichung“ der Beziehungen.

Andere Autoren beklagen die Wirkung der allgemeinen sozialen Beschleunigung auf die Identitätsbildung, die zu einer „Entfremdung des Selbst“ führend können, weil der Grad der Außenorientierung zunimmt, und da die Ichideale der Leistungsfähigkeit erhalten bleiben, kommt es zu einer „Tragödie der Unzulänglichkeit“, die zum massenhaften burnout führen kann,  bei Menschen, die nicht mehr durchschauen, welchen Erfolgskriterien sie unterliegen. Für die Kassen wie für die Kliniksverwaltungen müssen Diagnosen „operationalisiert“ werden, sodass der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio  zu der bitteren Aussage von der „Psychotherapie nach dem Modell der industriellen Produktion“ kommt. Es kommt zu einer „Veränderung des Selbstverständnisses des Therapeuten“, der oft gar nicht die Zeit hat, eine vertiefte und haltgebende Beziehung zum Patienten aufzubauen. Mehrere Autoren plädieren deshalb für eine notwendige „Entschleunigung“ der Verfahren. Längst rivalisieren aber verschiedene Therapieschulen um den Rang bei Kliniken wie Kassen mit Behauptungen über eine „effiziensbasierte Verkürzung“ der Behandlungszeiten. Das Buch stellt in seiner Bilanz eine Art Menetekel dar, eine Warnung vor einer Entwicklung zu einer drohenden Dehumanisierung von Psychotherapie, der vielleicht noch Einhalt geboten werden kann.

Almuth Bruder-Bezzel, Klaus-Jürgen Bruder, Karsten Münch (Hg.), Neoliberale Identitäten. Der Einfluss der Ökonomisierung auf die Psyche. Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, kart. 159 S., 19.90 Euro.

Tilmann  Moser