Tilmann Moser

Alternativ oder gegenseitig unterstützend?

Otto Fenichels Text über Psychoanalyse und Gymnastik

Ein merkwürdiges und zugleich wichtiges Buch ist anzuzeigen, von dem am sich allerdings gewünscht hätte, es wäre gut 8o Jahre frühere erschienen. Wäre es wahrgenommen worden, hätte es die Entwicklung vielleicht tiefgreifend verändert. Der im Alter von dreißig Jahren bereits bekannte Lehranalytiker in Berlin, Otto Fenichel besuchte fünf Jahre lang regelmäßig die Gymnastikkurse von damals berühmten Elsa Gindler. Fenichel war fasziniert, und er setzte alles dran, die seelische Wirkweise einer differenziert denkenden Bewegungsform zu verstehen. Er wollte herausfinden, ob und in welcher Form eine Kombination der beiden heilsam und wirkmächtig werden könnte. Er bemängelte aber, dass die durch die Begeisterung der Schüler entstehende Idealisierung der Lehrerin und die Übertragung unreflextiert blieben, also quasi im Zustand der Verliebtheit der Schülergruppe in die charismatische Leiterin.

Als früher Purist der freudschen Lehrer war er dagegen, körperliche Aktion und Psychoanalyse direkt begleitend zu verwenden, wie er eine Verunreinigung der Methode befürchtete. Direkte Berührung blieb ohnehin ausgeschlossen, aber die Parallelität der Wirkung von Muskelverspannungen und von verbal zu beseitigenden psychischen Hemmungen faszinierte ihn. Deshalb wollte er nur eine vorgängige oder nachgängige Gymnastik zulassen. In der Bindung an die Leiterin sah er eine Neuauflage der infantilen Situation, wie es sie analog auch in der Beziehung zum Analytiker eintritt, dort aber reflektiert und durchgearbeitet wird. Die moderne analytische Körpertherapie erliegt dieser strikten Trennung heute nicht mehr und arbeitet sowohl mit gleichzeitigen aktiven wie deutenden Eingriffen und nutzt dabei auftauchende frühe präverbale Körpererinnerungen.

Stört man sich nicht an der strikten Triebtheorie Fenichels, ist die Präzision seines Denkens doch erstaunlich, besonders wenn der muskuläre Bewegungsnarzissmus leicht als onanistischem Verhalten gesehen wird. Es ist, als habe Fenichel die Wogen des boybuilding vorausgesehen mit seinem oft schwer erträglichen Exhibionismus. Aber dass er die Analytiker orientieren wollte über deren eigene introspektiven Körperwahrnehmungen, wäre schon ein bleibendes Verdienst gewesen. Ganz klar postuliert er für die Wirkung der muskulären Spannung: „Der Dystonus war ein Mittel, Verdrängtes in der Verdrängung zu halten, ein physisches Korrelat des Besetzungsaufwandes.“, also der körperlichen wie psychischen Anstrengung, sich nicht mit den bedrohlichen Affekten zu konfrontieren. In seiner Entdeckerfreude kann er psychosomatische Symptome ganz neu zu ordnen und mahnt die Analytiker, auch kleinen Atem- und Bewegungsveränderungen der Patienten volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Otto Fenichel, Psychoanalyse und Gymnastik. Hrsg. Und kommentiert von Johannes Reichmayr und Anderen, Psychosozial-Verlag, Gieße 2015,209 S., kart., 24.90 Euro

Tilmann Moser