Tilmann Moser

Tilmann Moser

Eine gelungene Integration der Verbrechenstheorien

Zu Peter Möhrings Buch „Verbrecher, Bürger und das Unbewusste“

Es „werden einige Dutzend Morde jeden Abend im Fernsehen vor einem Millionenpublikum zelebriert und Krimifestivals gibt es in jeder mittelgroßen Stadt. Sich an im Grunde schlimmen, wenn nicht schrecklichen Schicksalen, die anderen Menschen widerfahren, oder an der Niedertracht anderer Mitmenschen zu erregen, scheint ein alltägliches und äußerst beliebtes parasitäres, sozusagen kriminalpornographisches Befriedigungserlebnis zu sein.“ In der Tat: Kriminalität boomt, verstärkt nicht zuletzt durch das Ausmaß politisch oder religiös begründetem Verbrechertums.

Möhring versucht kenntnisreich, die auseinanderdriftenden so zusammen zu denken, dass Hoffnung besteht auf eine integrierte Theorie samt kriminaltherapeutischer Folgen. Die real existierenden Hauptwidersprüche der Ursachen: die Biologie, die Gene, die Vererbung, kriminelle Milieus, Rollentheorie soziologisch und familiendynamisch, sozialer Zuschreibungsdruck und psychoanalytische Diagnostik von Individuen. Entsprechend unterschiedlich sind die zugehörigen Handlungstheorien von Strafen, Wegsperren Fußfesseln, Verfolgungsintensivierung, Milieutherapie usw. bis zu individueller Verhaltens- und tiefenpsychologischer Psychotherapie.

Am leichtesten zu verknüpfen ist der sogenannte „labeling approach“: die Theorie der als Zwang wirkenden Zuschreibung der Täterschaft aufgrund von vor-Definitionen aus dem juristisch-sozialen Welt, und der tiefenpsychologischen und familiendynamischen Rollentheorie, bei der familieninterne Konflikte ein schwarzes Schaf oder einen Symptomträger aus seelischen Druck „auswählen“, um Aggressin verschoben auf die Außenwelt auszuagieren. Freuds „Verbrecher aus Schuldgefühl“, ein ganz neurosenspezifische Deutung, hat sich inzwischen erweitert um viele Aggressionstheorien über Überich-Mängel und Handlungsmotivationen aufgrund neuentdeckter Störungen. Also: von früher und individuell wirksamer Schädigung durch Verwahrlosung und Grausamkeit usw. bis zur kollektiven Rekrutierung in die Clans der Mafia durch Wertübernahme und ausgeklügelte Ritual oder der Einschwörung durch eine Morddrohung bei Verrat der „Familie“.

Je plausibler die tiefenpsychologischen und familiendynamischen Rollentheorien und Therapieformen werden, desto mehr verwundert es, dass in der Kriminalitätstherapie deren Ansätze noch kaum realisiert und angewandt werden. Familientherapeutische Sitzungen, über deren Wert und Wirksamkeit heute kaum noch Zweifel bestehen, werden in Strafinstitutionen noch kaum angewandt. Ist es die Scheu von Experten, sich Sitzungen in einer Strafanstalt vorzustellen, mit ängstlich oder trotzig anreisenden Familienmitgliedern, zusammen mit dem von Beamten, vielleicht sogar gefesselt hereingeführten Täter, und dies wiederholt in vielleicht weit entfernten Gefängnissen. Tiefenpsychologisch versierte Psychotherapeuten sind längst tätig in besonderen Anstalten mit speziellen Gruppen von Tätern, aber sie sind dorthin verzogen, und ihre Einzeltäter stehen jederzeit zur Verfügung, von punktuellen Zusammenführungen von Familien einmal ganz abgesehen, die aber dann sogar eher noch der Sozialtherapeut leitet, weil es noch nicht um Familientherapie geht, sondern um die Regelung von sozialen Problemen.

Man darf gespannt sein, der Justiz etwas einfällt, wie und wo Täter und ihre Familien regelmäßig zusammen gebracht werden können, um die kommunikativen Defekte und die Konfliktlinien mit ihrem unbewussten Zwängen aufzuarbeiten. Die „Heilung“ von einzelnen Tätern wie von kriminogenen Familien durch tiefenpsychologisch, gruppendynamisch oder systemisch ausgebildeten Therapeuten wäre ein menschlicher,, prophylaktischer, ökonomischer wie politischer Gewinn, der derzeit noch auf sich warten lässt. Möhring Lesen wäre für alle am Übel beteiligten Gruppen ein dauernd und motivierender Gewinn.

Peter Möhring: „Verbrecher, Bürger und das Unbewusste. Kriminologie mit psychoanalytischem Blick.“ Psychosozial-Verlag, Gießen 2014, 209 S., kart.

Tilmann Moser