Tilmann Moser

Michael Utsch (Hrsg.): Pathologische Religiosität

Genese, Beispiel, Behandlungsansätze

Von Tilmann Moser

Anhand dieses Buches wird auch dem sachkundigen Leser deutlich, wie umfangreich inzwischen das wissenschaftliche Schrifttum zu pathologischen Foremn von Religion geworden ist. Es gibt einen guten kurzen Überblick zur Forschungslage und hilft auch dem interessierten Laien, sich über das Gebiet zsu orientieren. Das explodierende Sektenwesen einschließlich pathologisch-selbstdestruktiver Extremformen wird deutlich, wobei die US-amerikanischen Untersuchungen der evangelikalen Bewegungen dominieren, die sich aber gut auf europäischen Zusammenschlüsse anwenden lassen. Der spannende Bericht über eine therapeutische Forschungsarbeit an übrig gebliebenen Mitgliedern der berüchtigten chilenischen Colona Dignidad ergänzt die theoretischen Arbeiten und gibt Einblick in eine diktatorisch geführte Glaubensgemeinschaft mit extremer Gewissenskontrolle durch einen umfassenden, gemeinschaftlich ausgeübten Beichtzwang.

Gemeinsame Kriterien von eng geführten Sekten sind folgende: die regressiven Tendenzen, die Behinderung von persönlicher Entwicklung, die narzisstische Überhöhung, die Entindividualisierung in der Gemeinschaft mit Zwangscharakter und strenge ritualisierte Rituale. Kommt noch eine idealisierte charismatische Führerfigur hinzu, meist der Gründer, entsteht eine Unausweichlichkeit der Bindung, ein Austritt ist tabuisiert, auch durch die Androhung von extremer Isolierung und potenziellem Untergang. Fast perfide sind die Immunisierungsstrategien nach außen zu nennen, die eine Orientierung an der allgemeinen sozialen Realität verhindern.

Gerade hochreligiösen Menschen ist Ärger oder gar zornige Auflehnung gegen Gott schwer möglich, ebenso gegen die indoktrinierenden Autoritäten, denen alle geistlichen Führungsaufgaben abgetreten werden. Gottesbilder werden "dämonisiert", Schamgefühle verhindern Aussagen über innere Nöte, Therapie wird als negativ und antireligiös verurteilt. Was der theologisch-psychiatrischer Leiter einer Klinik, Peter Kaiser, zur Ausbildung heutiger Psychiater sagt gilt nach wie vor und ist besorgniserregend: "So kann es nicht ohne Folgen bleiben, dass dem Thema Religion zumindest in Deutschland weder in der Ausbildung der Medizinstudenten noch in der Fachweiterbildung zum Wacharzt für Psychiatrie und Psychotherapie eine Bedeutung zugemessen wird."

Das Sündengefühl ist für die meisten religiösen Störungen noch immer zentral. Sündig ist an diesem kleinen Buch ist einzig er Preis, der fast dazu geeignet ist, die Verbreitung seines aufklärerischen Inhalts zu behindern.

Michael Utsch (Hrsg.): Pathologische Religiosität, Göttingen 2012, 148 S., kart., 24,90 Euro