Tilmann Moser

Über die Weitergabe des stummen Entsetzens

Vorwort von Tilmann Moser zu Wardi, Dina: Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust - Psychotherapie mit den Kindern der Überlebenden, S. 9-18.

Die 'Gedenkkerzen' und die Wucht der seelischen Deformation der Opferkinder

Beginnen wir mit dem Paradox, das sich für nichtjüdische Deutsche nur durch Demut erträglich machen läßt: Was Horst Eberhard Richter und Helm Stierlin und andere schon in den sechziger und siebziger Jahren über Projektion, Delegation und erzwungene innerfamiläre Rollenübernahme durch die Kinder erforscht haben, vollzog sich an den kurz nach dem Krieg geborenen Kindern von Holocaust-Überlebenden mit einer Tiefe und Unausweichlichkeit, die schaudern macht. Viele nichtjüdische deutsche Psychotherapeuten haben selten oder nie die schmerzliche und heilsame Gelegenheit, mit solchen Opferkindern zu arbeiten. Und dennoch wird Dina Wardis Buch über diese Patienten für viele nichtjüdische deutsche (und viele andere) Psychotherapeuten und Patienten hilfreich sein, weil aus der Analyse des Entsetzlichen auch ein Erkenntnisgewinn und eine therapeutische Haltung erwachsen können für Kinder von Tätern und Mitläufern.

Man muss sich 1997 nicht mehr den auch von vielen Deutschen verwendeten Vorwurf zu eigen machen: Wer mit Täterkindern therapeutisch umgeht und ihre Schicksale analysiert, betreibe Schuldeinebnung oder Aufrechnung. Darum geht es nicht. Sondern darum, dass sich Gewalt, Terror und Völkermord, von einer Generation begangen, die zu Schuld und Scham unfähig war, erst in den Kindern als Verstörung und Erstarrung zeigen.

Nach jahrzehntelanger Verborgenheit erscheint nun endlich der große Aufsatz von Anna Maria Jokl neu, die bereits in den fünziger Jahren in Berlin parallel mit Opfer- und Täterkindern gearbeitet hat. (Suhrkamp 1997) Und das Werk des israelischen Psychologen Dan Baron ("Die Last des Schweigens" 1993) und sein gelungener Versuch, Täter- und Opferkinder in Gruppen zusammenzubringen, trägt allmählich Früchte, auch wenn er selbst, in Deutschland wie in Israel, immer wieder starken Anfeindungen ausgesetzt ist, eben weil er die seelischen Spätschäden bei beiden Gruppen in manchen Aspekten für vergleichbar hält. Es wurde ihm vorgeworfen, dass er sich den Deutschen anbiedere und ihre Schuldgefühle mildere. Aber das ist nicht sein Ziel, und es ist nicht meines, Dina Wardis Buch so zu verstehen, als relativierten ihre Einsichten, angewandt auf Täterkinder, die Schuld der ersten Generation. Die Kluft des Unvergleichbaren bleibt tief genug. dass die Kinder der Täter und Mitläufer oft von Angst und Grauen getriebene Lebens-läufe hatten, könnte ein anderes, schier unerträgliches Paradox mildern: Die Generation der Täter scheint kaum gebüßt zu haben. Viele ließen ihre Frauen büßen, und dann ihre Kinder, und dasswiederum ist es, ganz ähnlich wie in jüdischen Familien, oft nur eines aus der Reihe der Geschwister, das durch Beunruhigung und Leid die verborgene Geschichte ans Licht bringt. Man könnte darin ein Stück transgenerationaler historischer Gerechtigkeit sehen.

Zur Verdeutlichung ein Beispiel aus meinem heutigen Praxistag: Eine 1944 geborene Lehrerin, seit vier Jahren in Einzeltherapie, weil sie mit dem Selbstmord einer Tochter, die sich in der Pubertät das Leben genommen hatte, nicht fertigwerden konnte, und im Beruf unter quälendem Erröten leidend, sobald sie sich "zeigen" musste, sucht nach einer übermäßigen Eifersuchtsreaktion im Rollenspiel das Gespräch mit ihrem längst verstorbenen Vater. Diesen hatte sie erst nach seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft im Jahre 1950 kennengelernt. Im Krieg diente er als Armeearzt auf dem Balkan. Zuhause fand er den Sohn, sieben Jahre älter als die Patientin, in der Rolle des Familienoberhauptes und Stützessder Mutter vor. In einer fast psychotisch anmutenden Kampfsituation warf er, einer Granate gleich, einen schweren Aschenbecher nach dem Sohn. Danach kämpfte er nicht mehr um seinen männlichen Rang, er überließ ihn dem Sohn. Aber er ermutigte die Tochter, sich mit dem Bruder zu prügeln, und prahlte vor seinen Freunden mit ihrer Körperkraft; für sie wurde dies zur Grundlage eines unverständlichen Lebensskripts. Das Skript führte zu einer tiefen Verstörung ihrer weiblichen Identität, zu ihrer Unfähigkeit, in einer befriedigenden Partnerschaft zu leben und eine selbstbewusste Mutter zu werden. Als ich sagte: "Für den Vater waren Sie eine fast mythische Figur, die todesmutige Kämpferin, die unbesiegte Germania", fing sie an zu weinen, und es wurde deutlich, dass er sie nicht nur missbraucht hatte im innerfamilären Krieg, sondern auch als Gegenfigur zur militärischen Niederlage der Deutschen, die ihn tief gedemütigt hatte.

Also noch einmal die lapidare Feststellungeines deutschen Lesers. Ich nehme Dina Wardis Buch über ihre Patienten in Israel mit einer doppelten Aufmerksamkeit auf, die ich nicht einfach wegdrängen kann. Einerseits bin ich bedrückt und ergriffen von der Last, die die Opferkinder zu tragen hatten; ihre Lebensläufe sind durch ständiges Todesgrauen geprägt, das niemals Trauer und neue Lebendigkeit zuließ; und andererseits sehe ich dabei Täter- und Opferkinder aus meiner eigenen Praxis vor mir, auch Kollegen, die sich in meinen Seminaren ihrer eigenen NS-Familiengeschichte stellen.

Seit ich einigen jüdischen Kolleginnen begegnet bin, die sich in ihrer Arbeit der Begegnung von Opfer- und Täterkindern widmen - ich nenne nur Julie C. Goschalk aus Boston und Miriam V. Spiegel aus Zürich und schließlich Dan Bar-On selbst - , fällt es mir leichter, das Paradox der partiellen Ähnlichkeit in der Seelengeschichte von Täter- und Opferkindern anzunehmen und die viel weiter fortgeschrittene Opferforschung auch für die Täterkindern fruchtbar zu machen. Sie kommen in Deutschland inzwischen zahlreich und oft erst gegen Ende ihres fünften Lebensjahrzehnts und sogar später in die Praxis vieler Kollegen. Vielleicht kann, wer sich mit Täterkindern beschäftigt, erst wirklich ermessen, welche kaum vorstellbaren zerstörerischen Dimensionen Lebensläufe aus Familien haben, die bis auf die Eltern der 'Gedenkkerzen' ausgelöscht wurden. Und diese Eltern fanden sich oft genug krank, geschwächt, seelisch erstarrt in Sammellagern, als displaced persons, und sie zeugten Kinder, die das Band zu einem früheren Leben, zu früheren Angehörigen und zu früherer Lebendigkeit darstellen sollten.

Entwurzelung, Vertreibung, Trennung, Vernichtung

Versteinerung und Roboterisierung sind oft diagnostiziert worden als Folgen des Lebens im Lager oder im Versteck. Was im Eingangskapitel über die Eltern von Wardis Patienten deutlich wird, sind die Traumatisierungen in der Fähigkeit, Partner und Eltern zu sein. Neue Liebe bedeutete oft genug Verrat an verlorenen Angehörigen, Partnern und früheren Kindern. Die Eltern der nach 1945 geborenen Kinder trafen eine oft rein zufällige Wahl und fanden nie mehr zu einer tragfähigen Intimität. Ihre Bindung an die verlorenen Angehörigen bestanden hauptsächlich aus Schuldgefühl und erstarrter Trauer, weil eine lebendige Erinnerung und Symbolisierung nicht mehr gelang. Die Vernichtung aller Gefühle war häufig die Bedingung für das Überleben. Und die tiefste Demütigung brachte der seelische Zwang, in der Regression des Lagers sich auch noch mit den Quälern und Verfolgern zu identifizieren. Es macht die Schwere, aber auch den tiefen Informationsgehalt dieses Buches aus, dass die Familienschicksale im Längsschnitt sichtbar werden: Es wird fühlbar, was es bedeuten kann, auf der Rampe und nach tagelanger Fahrt im Viehwagen brutal von Eltern, Geschwistern oder eigenen Kindern getrennt zu werden. Die Seele fasst es nicht und rettet sich in Erstarrung. "Eineinhalb Millionen jüdischer Kinder wurden im Holocaust ermordet. Nach der Befreiung wurde die Geburt neuer Kinder zum Symbol des Sieges über die Nazis." (S. 1, Kap. 2.) ) Aber was für ein Sieg, unter wieviel neuen Opfern! Und mit welchen Erwartungen an die Kinder!

Die Kinder als Kompensation, Rettungsanker und Ersatz

"Die Annahme, dass sich diese Erwartungen der überlebenden Eltern im Verlauf der Zeit legen und verschwinden würden, erwies sich als falsch. Nicht nur, dass sie nicht verschwanden, sie wurden vielmehr sogar fordernder und extremer." S. 2 Kap. 2) Dies wird zu Schicksal der Kinder, die nicht zu einer eigenen Individualität finden durften. Sie blieben "Symbole für das, was ihre Eltern verloren hatten". (S. 2, Kap. 2) Sie wurden überhäuft mit Namen, die sie verkörpern sollten. Wardi greift zu drastischen Formulierungen: Die Kinder waren "Leichenwagen" oder Urnen für die Asche der Toten, oder menschlicher Stoff, um die "riesige Leere" aufzufüllen.

Rätselhaft sind die Wege, wie das nie Formulierte, das von den Eltern Beschwiegene, sich dennoch in die Seelen und Körper der Kinder drängte. Was bereits gut erforscht ist im Blick auf die Rolle des "Sündenbocks" in vielen Familien, das vollzog sich hier nach dem Holocaust in der Wahl eines "Retters" für die Eltern wie für die gesamte ermordete Großfamilie, und der Retter trägt eine "messianische Aufgabe und Bestimmung". Wenn diese Rettung der Eltern oder die Ersetzung von verlorenen, idealisierten Menschen nicht gelang, kam es zu tiefer Enttäuschung, denn die Kinder "werden aus dieser völlig ungerechten Konfrontation immer als Verlierer hervorgehen." (17/2) Eine Befreiung aus der aufgezwungenen Rolle wird als drohende Familienkatastrophe erlebt. Oft sind es erst die Träume, die, behutsam gedeutet, Einblick geben in das Ausmaß der Verstrickungen des familiären Unbewussten. "Die unbewusste Botschaft, die die Überlebenden den 'Gedenkkerzen' übermitteln und hinterlassen, lautet: 'Erlebt den Holocaust und löst ihn für uns.'" (31/2) Anita Eckstaedt hat in ihrem Buch "Nationalsozialismus in der 'zweiten Generation'. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhält-nissen" (1989) bei den von ihr behandfelten Täterkindern ebenfalls die Figur eines Retters oder Helden ermittelt mit dem Auftrag: Hilf uns, die Niederlage zu verleugnen, indem du ein Held wirst.

Das Fehlen der schützenden Mutter

Die Mütter der Patienten von Dina Wardi lebten häufig in einem Zustand "diffuser chronischer Depression", sie konnten daher nicht erfreut auf die Lebensregungen der Kinder reagieren. Eine Patientin litt unter ihrer Unfruchtbarkeit, die mit einer tiefen Ablehnung ihrer weiblichen Identität verknüpft war. "Sie schläft unaufhörlich, ihr Körper blüht und lebt auch ohne sie, losgelöst von ihrer inneren Existenz, die stückweise in tiefem Vergessen versinkt." (7/3) Viele Patienten scheinen schon im Uterus geschädigt durch endokrine Botschaften der Mutter, dass das Leben entsetzlich sein kann, oder aber durch die Furcht der Mutter, den Fötus durch ihre seelische Erbschaft aus dem Holocaust zu schädigen. Wichtig ist, in welchem Alter Deportation und Lager die Mütter getroffen hatten: ob sie schon ein Leben "davor" gehabt hatten, oder ob ausschließlich das "dort", im Lager oder im Versteck, ihr menschliches Erwachen geprägt und verstümmelt hatte. Das Gefühl, von den eigenen Eltern nicht geschützt worden zu sein, drang tief ein in die Seele, hinterließ Trauer und Wut, die nie ausgedrückt werden konnten. Und so sollte oftmals der Ehemann die verlorene Mutter ersetzen, Sexualität wurde, so entfremdet, ein Ersatz für verlorene Wärme und Sicherheit. "Zu diesem Zeitpunkt sahen die meisten Überlebenden in ihrem Partner noch immer eine fremde Person, deren Gegenwart das Gefühl der Einsamkeit keineswegs milderte, sondern die nach dem Verlust der eigenen Familie (insbesondere der Mutter) entstandene Leere noch steigerte." (19/3) dasswirkt die Existenz des Fötus und später des Kindes wie ein zugleich ängstigendes und beruhigendes Medikament, als Beginn einer Überlebens-Symbiose. Und es scheint, dass die unbewussten Botschaften und Aufträge durch diese seelische Nabelschnur auch vermittelt werden. Viele Patienten können sich nicht an einen lebendigen Körperkontakt erinnern. "Das Kind kann aus dem leeren Gesicht der Mutter seine eigene Bedeutung und seinen Wert nicht ablesen und verinnerlichen." (41/3) Um so stärker ist es oft einer extremen Kontrolle ausgesetzt, die der Minderung der mütterlichen Angst dient. Dies geht so weit, dass es die Patienten oft gar nicht lernen können, zwischen sich und der Mutter zu unterscheiden.

Opfer und Aggressor als archetypische Einheit?

Um die Vorgänge der Identifizierung der Opfer mit den Verfolgern zu erklären, greift Dina Wardi, obwohl sonst eher freudianisch orientiert, auf C. G. Jungs Archetypenlehre zurück, die bei Jung ja ohne jeden politischen Kontext verwendet werden. Hier sind ihre Analysen vielleicht am ehesten angreifbar, weil der Holocaust dabei quasi nur innerpsychisch abgehandelt wird und die politisch-propagandistische Produktion und Wirkung der enthumanisierenden Stereotypen außer acht gelassen scheint: "Einige Forscher sind der Ansicht, dass während des Holocaust oftmals eine unbewusste Kooperation zwischen Opfer und Aggressor bestand und Juden ohne eine kollektiv unbewusste Tendenz zur Opferbereitschaft stärkeren Widerstand leisten und somit den Nazis das Abschlachten schwerer hätten machen können." (3/Kap. 5) dass diese Theorie nur Zitat bleibt bei Wardi, spricht vielleicht für eine sozialpsychologische und historische Unsicherheit oder Zweifel an einer nur psychologischen Deutung.

Trotzdem konstataiert und analysiert sie starke Unterschiede in den Familien von "Opfern" und von "Kämpfern": Die "Opferfamilien", als psychologische Kategorie verstanden, binden ihre Kinder weit stärker als die "Kämpferfamilien" und geben ihnen Signale der Lähmung und Resignation mit auf den Weg. Die Depression selbst wird zu einer Art seelischer Nahrung, die Sicherheit verleiht:

"Therapeutin: 'Du meinst, dass dich die Traurigkeit umhüllt wie eine Umarmung?' Arieh: 'Ja, ja. Ich liege zusammengerollt wie ein Fötus.'" Bei solchen Familien wird später die Wohnung zur Festung, deren Tür mit mehreren Schlössern verriegelt werden muss. Die "Kämpfer" dagegen verleugnen die Schrecken extremer Abhängigkeit und Demütigung und folgen dem Motto: Nie wieder so entwürdigt! Sie leben ein "Leben ohne Weinen" und müssen überall die Besten sein.

Therapeutisch aber scheint Jungs Gegensatzpaar von Täter und Opfer als archetypische Einheit fruchtbar zu sein bei dem Versuch, an die verlorenen Spuren des Gegensatzes heranzukommen, der integriert werden muss. "Auch in der Psyche des 'Kämpfer'-Überlebenden existiert eine doppelte Identität." Der verinnerlichte Verfolger ist jedoch bei beiden eine derart monströse Figur, dass die Annäherung an ihn Wut und Panik auslösen kann. Denn die Welt besteht aus Gefolterten und aus Folterern, alles andere muss durch eine tiefe Wand des misstrauens hindurch erst langsam wahrgenommen werden.

Dies führte in den gruppentherapeutischen Sitzungen auch dazu, dass selbst die israelischen Therapeuten, die man bereits Monate, ja Jahre geprüft hatte, "die Form von oppressiven und bedrohlichen Aggressoren annahmen". (38/5) Sie werden zu einer "omnipotenten, aggressiven und bedrohlichen Figur", der Gruppenraum selbst zum SS-Hauptquartier. Die Vorbereitung auf den nächsten Holocaust wird zu einem über längere Zeit - wie auch in vielen der betroffenen Herkunftsfamilien - drückenden Thema. In psychodramatischen Sitzungen konnten einzelne Patienten dann, und zwar zunehmend mit Genuß und Zufriedenheit, auch SS-Rollen übernehmen. Selbst die eigenen Eltern verwandeln sich in Träumen in SS-Personal, so wie umgekehrt die Eltern ihre Kinder bei Wutausbrüchen wie "kleine Hitlers" erlebten und so erneut Terror gegen die Kinder ausübten.

Dies alles ist so bedrohlich, dass schließlich eine Identifikation mit dem Tod selbst zu einer Form der Zuflucht und der Sicherheit für die 'Gedenkkerzen' wird. Denn Wut bringt nicht nur Todesnähe, sondern auch unendliche Schuld. Uterus und Sarg rücken zusammen, sie schützen vor den unerträglichen Affekten. Dann müssen auch die widersprüchlichen Identitäten, die sich aus Fragmenten der verschiedensten Toten und Lebenden zusammensetzen, nicht mehr sortiert und entflochten werden, die schwerste Arbeit, die der therapeutische Prozess mit sich bringt. So stellt ein Patient fest: "Ich lebe eher bei den Toten als bei den Lebenden. Neben dem Grab des Onkels kann ich ruhig sitzen. Unter den Lebenden habe ich ziemliche Angst." (4/26) Und eine andere Patientin sagt: "Ich fühle mich wohl unter den Toten. Sie fordern nichts von mir." (27/4)

Der therapeutische Prozess

Es ist unverkennbar, dass ein Grundstein von Dina Wardis therapeutischem Repertoir ihre gestalttherapeutische Ausbildung ist, die am Beginn ihrer Laufbahn stand. Sie ist nicht nur eine der ersten, die Gruppentherapie in Israel systematisch bei Kindern von Überlebenden angewandt hat, sondern es gelingt ihr auch, Elemente von Gestalttherapie und Psychodrama mit einer gruppenanalytischen Technik zu verbinden, wie sie später in London ihre bis heute gültige Ausprägung gefunden hat. Dadurch wird es ihr möglich, die in der verwirrenden Gruppenübertragung aufbrechenden Clan-Geschichten in der Einzelarbeit im Rahmen der Gruppe zu integrieren und aus dem Chaos der inneren Objekte und Objektfragmente konkrete und separierte Erinnerungsfiguren entstehen zu lassen. "Die Begegnung und der Dialog zwischen den verschiedenen Stimmen, den Lebenden und den Toten der beiden Familien ... , welche verschiedene Teile ihrer Identität repräsentieren, ermöglichten eine neue und realere Integration von Chawas Identität." (38/4) Von einer anderen Patientin heißt es: "Plötzlich begann sie ihre toten Verwandten direkt anzusprechen." Mit solcher Wendung an die inneren Objekte verliert die kaum auszuhaltende Stimmung von "misstrauen, Feindseligkeit und Distanz" ihre schier unüberwindlichen Schrecken, und wechselseitige Einfühlung beginnt sich zu entwickeln; denn nun müssen die Verschwundenen wie die Mörder nicht mehr nur in der Gruppenübertragung gesucht werden.

Denn eine elementare Erfahrung der Patienten in der Therapie ist die: Sie haben Fragmente anderer Personen als vermeintliches eigenes Leben gelebt. Dies alles ist schon von vielen Opfer-Forschern analysiert worden. Was die Einzelanalyse auf diesem Gebiet erarbeiten konnte, findet sich zusammengefasst in dem Buch "Kinder der Opfer - Kinder der Täter" (Hrsg. von Bergmann u. a., 1995), samt dem Zweifel am Instrument der klassischen Analyse auf diesem Feld überhaupt. Doch in der doppelten Ausfaltung - Übertragungsanalyse und Aufarbeitung im Rollenspiel - gewinnt die Arbeit mit den vom Holocaust Gezeichneteneine gesteigerte Anschaulichkeit und Plausibilität, und sie enthält so auch therapeutische Hoffnung.

Dazu gehört auch eine andere "Technik": dem Protagonisten, der sich einem entsetzlichen, für ihn unerträglchen Anblick oder Affekt nähert, körperlich Beistand zu geben, ihm einen menschlichen Container zu bieten für die Wiederbegegnung mit einer Situation, in der es bis dahin nur Erstarrung als Containment, als Überlebenstechnik gab: "Wenn du willst, Nira, kann ich mit dir zusammen in die Scheune gehen", den Ort, an dem das Unaushaltbare geschah (35/6). Über die wechselseitige Identifizierung der Patienten in der Gruppe verstärkt sich der Mut, die Abgründe zu erforschen und so die Schmerzen der Vorfahren "vom eigenen Schmerz unterscheiden zu können".

Die sexuelle Dimension des Terrors

Besonders erschütternd sind die Passagen in Dina Wardis Buch, in denen deutlich wird, dass die SS dem Grauen noch eine sexuelle Note aufzwingen konnte: "Es standen dasseinige SS-Männer und haben ihre Privat-Selektion gemacht." "Später hat jemand erzählt, dass sie (ausgesuchte Mädchen,T. M.) als Prostituierte für die SS-Offiziere bestimmt waren." Solche Geschichten durchdringen viele Selektionen, sei es als Realität oder als erzwungene oder induzierte Phantasien seitens der jungen und schneidigen Herrenmenschen. Und diese Phantasien kehren wieder als Verdächtigungen der Kinder gegenüber den Eltern, weil sie nicht fassen können, wie diese überlebt haben: Entweder müssen sie selbst als Schurken oder Dirnen gewesen sein oder unerreichbar idealisierte Helden.

Die sexuellen Terrorträume sind so erniedrigend, dass sie erst nach einigen Jahren Therapie in der Gruppe mitgeteilt werden können. Eine Folge einer solchen inkorporierten Phantasie - oder auch der Erzählung realer Vorkommnisse - ist ein Leben zwanghafter erotischer Maskenhaftigkeit: "Wenn ich mich selbst retten, am Leben bleiben will, dann muss ich hübsch sein." Tritt aber eine erotische Situation ein, dann gefrieren plötzlich die Gefühle, und der Intimpartner kann von einem Augenblick zum andern zum Feind werden. "Die Gefühlswelt verabscheut ein Vakuum", schreibt Dina Wardi, und sie erklärt damit, dass sich die riesigen Leerstellen des Schweigens zwangsläufig mit Phantasien füllen, die eine Verbindung zwischen dem Innenleben und der noch entsetzlicheren Realität suchen. Auch hier mussten Männer wie Frauen die von den Eltern "ausgeliehenen psychischen Erfahrungen" blind leben und einen Teil des Holocaust in die zweite Generation hinein verlängern.

Der Schritt in das eigene Leben mit der Erinnerung

Dina Wardi überschreibt das Kapitel über die therapeutischen Ergebnisse ihrer Arbeit so: "Die Trennung von der Rolle der 'Gedächtniskerzess'". In dieser Formulierung wird noch einmal deutlich, dass der Ausstieg aus der Überwältigung durch aufgezwungene Rollen und Aufträge einem Abschied, einer Geburt, fast einer Zellteilung gleicht: "Ich werde nicht mehr, wie all die Jahre, nur ein Leichenwagen sein." (1//7) dassist die Trennung von der ermordeten Großfamilie, die zu individualisierten Erinnerungsbildern geworden ist. Und dassist die Trennung vom elterlichen Auftrag, der mit der Muttermilch und den ersten väterlichen Berührungen eingeflößt wurde: die versunkene Welt, die Würde der Eltern und die Hoffnung auf neues Leben zu erhalten und die Zerstörungen in die eigene Person einzulagern, in der ursprünglichen, gewiß absurden Hoffnung, sie könnten dort ohne Hilfe entweder zerfallen oder saniert werden.

Die Gruppe bildete eine Übergangsfamilie: Sie diente zur Kartographierung der inneren Welt in der Übertragung und als Feld der Einübung neuer Gefühle. Zugleich wurde sie zu einem Ort, in dem "ein Gefühl der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk" möglich wurde. "Dieses Gefühl tritt hauptsächlich in ihren Träumen zutage, in denen jetzt Symbole und Motive aus der Geschichte, Religion und Kultur des jüdischen Volks auftreten" (7/Kap.4) und eine das verletzte Individuum transzendierende Einbettung in ein größeres Ganzeserlauben. Spät gelingt es vielen Patienten auch, die Herkunftsländer und Geburtsstädte ihrer Eltern zu besuchen, eine "Reise zu den Wurzeln" zu unternehmen. Denn die 'Gedenkkerzen' gleichen "entwurzelten Bäumen", und um zu leben, brauchen sie neue Wurzeln, in sich selbst, in der Erinnerung an die Ahnen, in anderen Menschen, und in einem Bild von früherer Heimat, die nun konkret betrauert werden kann.

'Gedenkkerzen': Ein Buch für deutsche nichtjüdische Leser?

Eine scheinbar absurde Frage: Wir Deutsche haben den Holocaust in Verbindung mit dem Vernichtungskrieg im Osten organisiert und durchgeführt. In Dina Wardis Buch werden Spätfolgen in der Zweiten Generation der Opfer sichtbar, die noch immer unser Schuldkonto belasten. So ist das Buch ein Buch des Gedenkens, der Vergegenwärtigung des Jahrtausendverbrechens. Aber eben dieses Verbrechen und die darauf folgende totale Niederlage haben auch in nichtjüdischen deutschen Familien nachträglich gewütet. Viele Angehörige der zweiten Generation haben sich innerlich von ihrem Volk abgewendet, konnten oder wollten nicht mehr die Kinder ihrer Eltern sein oder haben mit endgültig gespaltenen Elternbildern gelebt, wenn sie nicht therapeutische Hilfe gesucht haben. Viele Eltern der Zweiten Generation stehen offensichtlich sogar unter einem unbewussten Zwang, Täterfragmente sogar an die dritte Generation weiterzugeben.

Der jüdische amerikanische Körpertherapeut Albert Pesso, der viel mit deutschen Täter- und Mitläuferkindern arbeitet, deren Lebensskripte von solchen unüberwindlichen Brüchen und Wunden gekennzeichnet sind, sieht oft nur die Lösung, den Abgrund zwischen der Elterngeneration und den Kindern mit einer Rückkehr zu unzerstörten Anteilen der deutschen Kultur zu überbrücken. Und dies, obwohl der Nationalsozialismus versucht hat, seinen grotesken Besitzanspruch auf alles für ihn Brauchbare auszudehnen und alles Unbrauchbare zu denunzieren und zu zerstören.

Damit komme ich zurück zu meiner Ausgangsthese: Wenn Dina Wardis Buch, wie ich hoffe, in großem Umfang seinen Weg zu den deutschen Lesern und Therapeuten der Zweiten Generation finden soll, dann muss das Paradox ertragen werden, dass es auch der seelischen Gesundung von Teilen des Tätervolkes dient: denen, die ihre Seelen analog einem transgenerationalen Prozess zur Verfügung stellen mussten, um das Übermaß an Schuld und Zerstörung aufzunehmen und aus blindem Hass und daraus folgendem Leid Leid schließlich seelisches Wachstum werden zu lassen.