Tilmann Moser

Fritz Klemm: Maltisch mit Selbstbildnis

1956/57, Kunsthalle Karlsruhe

Selbstauslöschung oder Es gibt mich nicht

Antje Ravic Strubel hat das Bild meisterhaft beschrieben im Katalog der Ausstellung „Unter vier Augen. Sprachen des Portraits“ (2013, Kunsthalle Karlsruhe, KERBERart), nachzulesen bei Google unter Antje Ravic Strubel, „Wie kommt der Wassertropfen in den Krug“, in dem sie das Selbstbildnis in der gesellschaftlichen Atmosphäre der fünfziger Jahre verortet. Ich zitiere aus ihrem Text: „Denn die Wirklichkeit der fünfziger Jahre, in denen diese Bild entstand, hat auch die Möglichkeiten des Malers eng umstellt. Der Nachhall des Krieges und des Holocausts lassen weder Farben noch menschliche Antlitze zu. Das Gesicht bleibt leer und schwarz wie die Umgebung zu einer Zeit, in der Auslöschung und Tod den Menschen selbst in Form der Verdrängung noch präsent sind. Ich erkenne mich nicht wieder. So heißt es doch, wenn wir unser Tun nicht mehr begreifen.“

Ich versuche eine andere, nicht mehr zeitgebundene Deutung mit einer Geschichte. Viele Menschen leben scheinbar „leblos“, die Welt um sie her scheint traurig, ohne Farben und ohne Sinn. Oft werden sie als depressiv bezeichnet, aber das Gefühl des Totseins ist älter, reicht bis in die früheste Kindheit zurück. Ich lausche dem Monolog eines Betroffenen:

Meine Gefühle sind seit langem verloren gegangen, ich weiß nicht mehr, wann es war, aber ich glaube, es geschah schleichend. Es wurde düster, innen wie außen, die Menschen wurden mir fremd, oder ich wurde ihnen fremd. Meine Sprache wurde leiser, später sogar raschelnd und flüsternd, und viele mussten nachfragen, weil sie vieles nicht verstanden, was ich sagte oder sagen wollte. Ich war abgeschnitten, von meinen Nächsten, und von mir selbst. Ich hatte keine Lust mehr auf die Anstrengung des Verstehens. Die tiefe Resignation murmelte mir zu: Es gibt keine Einfühlung mehr, keine Brücke zu Anderen. Die Worte fallen zwischen mir und ihnen zu Boden, vertrocknen dort, und sich auch durch Gesten nicht mehr zu retten. Ich lebe in verdünnte Luft in einer Käseglocke, oder wie in einem Aquarium ohne belebendes Wasser.

Manchmal fühlt es sich sogar an, als sei ich unsichtbar geworden, oder als könnte man durch mich hindurch sehen, so sehr gleiten Blicke mir ab, und meine Blicke erkennen keine Konturen mehr. Wo ende ich, und wo beginnen die Anderen. Zwischen eine berührenden, streichelnden oder sogar kneifenden Hand scheint totes Styropor gewachsen, und es erschreckt die Anderen, selbst meine Frau, wenn ich zu keiner lebendigen Reaktion mehr fähig scheine. Ich bin mir selbst und Anderen unheimlich. Bin ich wirklich ein Gespenst unter lebendigen Menschen? Oder steht dort das Nichts, wo ich stehe? Wann bin ich mir abhanden gekommen? An meiner Oberfläche ohne deutliche Grenzen kann ich noch feine Sensationen wahrnehmen, keine Gefühle. Und dennoch bin ich verletzlich und kränkbar, wenn ich erschrocken aus einer Richtung angesprochen werde, mit einer offenbar menschlichen Stimme. Ich verschwinde vor lauter innerer Antwortlosigkeit. Vor Angst und Ohnmacht möchte ich immer wieder schreien, aber dann gleiche ich den Verrückten, wie ich sie aus Anstalten kenne. Ich will nicht in psychiatrische Obhut, nur weil man dort die Angst mit Pillen mildern kann.

Es würde mich dort keiner verstehen oder gar finden in meiner Qual. Sie ist so unsäglich und unsagbar, nicht mitteilbar, und wer in die Nähe des Ahnens oder Mitfühlens gerät, den überkommt selbst Angst und er wendet sich ab. Es ist so leer in mir, dass es mich und Andere schauert. Bin ich schon ausgelöscht? Nein, ich kann noch frieren, also bin ich noch da. Ich will es selbst tun, mich auslöschen, aufhören zu atmen. Aber selbst das ist zu anstrengend, und doch, dann wäre ich ein letztes Mal aktiv mit dem Rest von Willen, der mir geblieben ist. Ich wäre Herr meiner selbst auf dem Weg meiner Abschaffung.

Meine Grenze besteht aus einem Flimmern übermäßiger Sensibilität ohne Schutzhaut. Geräusche und Gerüche dringen in mich ein, und schneidende Wortgeräusche ohne erkennbaren Sinn. Musik tut mir weh, ähnlich wie helles Licht. Nur Wärme hilft noch gegen die anbrandende Panik. Aber ich kann mein Leben nicht in warmem Wasser verbringen. Ist es Sehnsucht nach einem Mutterschoß, wo es keine scharfen Kannten gibt? Dort würde ich vielleicht wieder lernen, mich zu bewegen, ohne dauernd auf Hartes zu stoßen, Verletzendes, gegen das mich draußen niemand schützt.

Es müsste eine nähernde Nähe sein, die mich umgibt, mit unendlicher Geduld zum Warten, bis sich wieder etwas regt in mir. Es müsste jemand einfach glauben, dass es mich in einer tiefen Verborgenheit noch gibt. Alleine finde ich den Weg nicht zurück zu mir und zu den Anderen. Weil ich leer und hohl bin, schwappt alles über mich hinweg, ohne ein Echo. Oder: das einzige Echo ist der Schmerz, der aber keinem konkreten Ort des Körper sitzt. Bei dem Wort Seelenpein, das jemand in meiner Nähe aussprach, bin ich einmal zusammengezuckt, als wäre ich ertappt worden, und auch erkannt, aber ohne Folgen, doch wie zu einer Verurteilung. Gibt es Heilung für diesen Zustand der quälenden Nicht-Existenz. Es müsste nicht nur Heilung, sondern Erlösung sein. Aber auch Gott ist in weiteste Ferne gerückt, bis zu ihm dringt kein Wimmern, denn mehr kommt nicht mehr aus meinem Mund. Viele meiner Schreie sind ohne Widerhall verklungen, bevor sie erstorben sind. So existiere ich in fremd gewordener, konturloser Landschaft, von der ich weiß, dass sie einmal farbig war und jetzt in verworrenes vermischtes Grau übergeht, mit Farbresten, die dem Blick keinen Halt mehr bieten.

Nimm mich zu dir, mein Gott, auch wenn es dich nicht gibt, wenn auch du gestorben bist. Ist tot den wirklich tot? Das wäre beruhigend endgültig.