Tilmann Moser

Der süße und der schreckliche Blick

„Wenn Blicke töten könnten …!“, so lautet ein halbes ein Sprichwort, und wer es hört, weiß, dass ein intendierter Mord oder mindestens, dass Wut oder Hass gemeint sind, die das Gegenüber treffen sollten. Auch auf der emotionalen der Gegenseite können Blicke mächtig sein: anlockend, verführerisch, innig, liebevoll, Verschmelzung suchend, usw. In Paartherapien ist der Austausch – wenn es denn noch ein Austausch ist –­– ein diagnostisch wichtiges Beziehungsgeschehen. Aber auch in der Einzeltherapie können Blicke hin und her gehen, es sei denn der Psychoanalytiker bleibt unsichtbar hinter der Couch. Der Blickwechsel kann sogar ein schnell wahrnehmbares Indiz sein für ein geglücktes wie ein gestörtes Verhältnis zwischen den Partnern wie zwischen Patient und Therapeut sein.

In der Psychotherapie mit einer knapp 50-jährigen höheren Angestellten, die viel mit schwierigen Personen und Klienten in einer Landesverwaltung zu tun hatte, und die viel mit dem sowohl erkennenden, forschenden wie dem empathischen Blick zu arbeiten gewohnt war, klagte diese, dass sie immer wieder irritiert bis verärgert, ja oft sogar zornig oder tief resigniert sei: „Mein Partner schaut mich sehr selten wirklich an, und wenn, dann nur kurz und wendet dann seinen Blick fast automatisch wieder ab, ja fast instinktiv ängstlich, und für mich bricht dann die anfangs durchaus freundliche Beziehung ab. Ich erlebe dann, wenn ich eigentlich Innigkeit oder mindestens Einverständnis erwarte, ein Zurückgestoßen-, ja ein Verlassen-Werden, eine plötzliche Gleichgültigkeit, Geringschätzung oder einen nicht ausgesprochenen Tadel, der schlimmer sei als ein ausgesprochener.“

Zwei Wochen später, noch in der Anfangsphase, brachte sie ihren Mann mit, der nur eingewilligt hatte; „weil du es unbedingt willst“, was sie schon wieder gekränkt hatte, denn ihr Grundgefühl für ihn nach einer Reihe von Ehejahren war bereits abgekühlt, ohne dass jemals ein klärendes Gespräch über das Phänomen stattgefunden hatte – außer seltenen wütenden Aufschreien von ihrer Seite, wenn „das Maß wieder einmal voll war“. Er selbst sah in der Angelegenheit keinen Grund zur Sorge, schalt sie gelegentlich sogar hysterisch oder klammernd, und für einige Tage hing der Haussegen wieder einmal sehr schief. Er war ein kühler Chemiker mit lukrativem Beruf, sie Sozialarbeiterin mit vielen psychologischen und gruppendynamischen Fortbildungen.

Bei der auf eine Doppelstunde angelegten Begegnung erlebte ich ihn zwar offen, aber anfangs relativ verständnislos für ihre Klagen, die er zunehmend als Anklagen wahrgenommen hatte, was die Kargheit seine Blicke zuletzt noch vermehrte. Sie selbst aber sah ihn im Laufe des Gesprächs allmählich erstaunt an und meinte halb vorwurfsvoll, halb dankbar: „He du, du kannst ja auf ein Mal gucken! Ach könntest du mich immer so anschauen, liebevoll oder wenigsten neugierig. Auf einmal spüre ich ein Interesse in deinen Augen, du nimmst mich wahr, was ist plötzlich los?“ Mir war klar, dass sie ihn in meiner Gegenwart verändert in seiner plötzlich lebhafteren Zuwendung sah, und es bildete sich in mir die zunächst unausgesprochene Frage, ob der Wandel mit einer Stärkung durch meine männliche Anwesenheit zusammenhing.

Ich berichtete ihm von den jahrelangen Blicknöten seiner Frau, und es war, als hätte er nie von einem Problem bei sich gehört: „Wir sind halt verschieden!“ betonte er, sei er mit dem Stand der Ehe zufrieden – bei ihr bemerkte ich ein freudloses Zusammenzucken, das sie aber zu unterdrücken versuchte. Er nahm jedoch am Ende die Anregung mit, sich an die Blickkultur in seiner Herkunftsfamilie zu erinnern, im kommenden Urlaub sei vielleicht Gelegenheit, sich dem Thema in weiteren Gesprächen anzunähern. Dabei stellte sich heraus – worin beide übereinstimmten: „Unser Gespräch das erst ernsthafte seit Jahren gewesen.“

Nach deren Urlaub, als ich sie nach zwei Einzelstunden mit ihr wieder als Paar erwartete, obwohl er sich, wie sie sagte, eher sträube mitzukommen, kam er unabgesprochen mit mir alleine und berichtete sofort, er habe sich bemüht, sie öfter anzuschauen, und es habe einen leichten Fortschritt gegeben. „Überhaupt ìst der Urlaub heiterer gewesen als die letzten beiden.“

So ermutigt konnten wir uns an eine vertiefende Blickerforschung machen. Er verstand inzwischen schon besser, was seine Frau mit der „Kargkeit“ seines Blickes meinte. Ich fragte ihn, ob und wie er sich an die Blicke der Mutter und einen wechselseitigen Blickkontakt erinnere, aber es fiel ihm nichts Besonderes ein, nur: „In der Familie hat man sich wenig angeschaut.“ Darauf ich: „Dann haben Sie vielleicht gar nicht viele innigen oder neugierigen oder zustimmenden Blicke erlebt? Es könnte sein, dass Sie schlicht ungeübt sind in Sachen Austausch von Blicken.“ Er wurde nachdenklich: „Aber mit meinen Kollegen im Betrieb habe ich keinerlei Probleme.“ Ich: „Das sind ja auch meist Männer.“ Er wurde noch nachdenkliches, es fielen ihm wenige Blickinhalte ein, sodass ich ausholte mit einem ganzen Panorama von Möglichkeiten: Innige, neugierige, forschende, tadelnde, ermutigende, liebevolle, gierige, strenge, verächtliche, vernichtende, aufbauende, ermutigende und entmutigen Blicke, usw. Um ihn bei der für ihn anstrengenden Forschung mit etwas Privatem zu ermutigen, sagte ich, ich selbst hätte von Seiten der Mutter wenig klare liebevoll Blicke erhalten, dafür aber streng prüfende. „Und bei intensiv liebevollen Blicken der ersten Freundin habe ich mehrfach zu weinen begonnen; es war so ungewohnt und kam einer versteckten, aber uneingestandenen Sehnsucht zu überraschende entgegen.“ In der Absicht, ihn zu ermutigen für möglich zu halten, sagte ich, dass eine Angst vor zu viel Weichheit und Abhängigkeit ihn hindern könnte, die Blicke seiner Frau länger auszuhalten. Er schüttelt den Kopf, wurde aber erneut nachdenklich. „Wut und Hass im Blick meiner Mutter möchte ich verneinen, schon eher kommt mir Kontrolle und Überwachung u n d Stolz in den Sinn, denn die, ich war ja der einzige Sohn“, und scheu fuhr er fort: „Ich sollte ja was Besonderes werden.“ Ich, neugierig fragend: „Und!“ „Das habe ich schon weitgehend geschafft.“ Seine Neugier war geweckt, was Blicke für ihn noch alles bedeuteten könnten.

Mir fiel ein früherer Ausspruch seiner Frau ein: „Manchmal kann er aussehen, als habe er Angst vor mir, dann fürchtet er meine Dominanz, und ich werde wütend, weil ich ihn stark und entscheidungsfreudig haben möchte.“

Ich nutzte den Augenblick, um darauf hinweisen, wie sehr der Austausch von Blicken – falls es dann noch ein Austausch bleibt – mit Autorität und Macht zu tun haben kann, sogar mit Schrecken und Terror. Ihm fielen frühere Blicke von einigen Lehrern ein, sie hätten durchaus mit strenger Einschüchterung und strafendem Ausdruck agiert, „und meine Mitschüler haben ganz unterschiedlich darauf reagiert.“ Ich: „Sie haben Unterschiede im Blick also sehr wohl wahrgenommen.“ Er: „Ja, mächtige, von Männern durchaus, und ich nehme an, dass ich, bei aller Begeisterung über unsere Kooperation im Team, manchmal streng oder vorwurfsvoll dreinschaue. Aber zurück zu meiner Frau, was meinen Sie, was das los ist?“ „Was ich bis jetzt verstanden habe: die Blicke Ihrer Frau könnten für Sie mehrere irritierend gemischte Eigenschaften haben, und Sie sind, je nach Stimmung und Selbstbewusstsein, irritiert, verunsichert, scheu, ebenso angezogen wie abgestoßen. Und in dieser Unsicherheit wenden Sie sich ab, weil das weitere Schauen einfach zu anstrengend und zu verunsichernd ist?“

Da sich seine Frau bei mir mehrfach beklagt habe, dass die Zeit für die Pflege der Paar- Beziehung viel zu gering sei und er auch sich nicht bemühe um gemeinsame „kinder- und computerfreie Stunden, gab ich ihm als Hausaufgabe mit: „Bitte üben Sie mit Ihrer Frau das Sich-Anschauen und die Wahrnehmung des Blicks samt der damit verbundenen Gefühle; und bitte kämpfen Sie um mehr Muße als Geschenk für Sie beide.

Er bedankte sich höflich, kam aber nie mehr wieder. Inzwischen ist die Ehe auf furchtbare Weise erkaltet und die beiden Kinder sind in öffentlicher Betreuung.