Tilmann Moser

Der verlockende, bindende Augenausdruck. Das Drama einer Liebessucht

Eine ca. fünfundsechzigjährige Hochschuldozentin meldet sich von weither auf Empfehlung mit der sie bedrückenden Tatsache, dass sie sich immer wieder verliebe und hoffnungslos und dennoch hoffend schmerzlich binde an Männer mit einem bestimmten Gesichts- oder Augenausdruck, der ihr aber rätselhaft bleibe. Sie lebt seit langem in einer als fürsorgliche Freundschaft gelebten Ehe. In ihrer Not war sie vor einigen Jahrzehnten mit etwa dreißig Jahren nach ihrer Annahme zu einer schmalspurigen therapeutischen Ausbildung einem Analytiker, der damals selbst noch Ausbildungskandidaten war, zugewiesen worden. Der verliebte sich offenbar in sie und ihr nach angeblich fast beendeter getaner, noch unbeholfener „Lehrtherapiearbeit“ erlaubte, gegen Ende ein paar Minuten auf seinem Schoß zu sitzen. Als sie nach eineinhalb Jahren fortdauernder Stagnation aufgab, wurde ihr klar: „Dieser Mann war liebesbedürftiger als ich, vielleicht auch neurotischer“, und es geschah schon nach wenigen Monaten nach Beginn der Behandlung zum ersten Mal, dass sie Mitleid empfand und sich zu seiner Rettung berufen fühlte.

Dies knüpft an eine Mutter, die bereits vor ihr ein totgeborenes Kind verloren hatte. Sie trug das neue Kind, die Patientin, früh von Panikanfällen heimgesucht, in dauernder Angst, der Kindstod könnte sich wiederholen. War nach einer schwierigen Geburt und beim ersten Anblick entsetzt, dass es nicht ein ersehnter Sohn war, sondern ein Mädchen. Im ersten Jahr verließ der Mann sie, nachdem der ebenfalls getobt hatte über das falsche Geschlecht. Er liebte sie aber später doch, als sie mit gut zwei Jahren sich für ihn zu seiner kleine Prinzessin entwickelte, als er sie von seiner Mutter gelegentlich zu sich im gleichen Haus holte. Der erfolgreiche Landmaschinenschlosser liebte es, sie nach unberechenbarer Laune stolz zu herzen und küssen und sie in der Luft herumzuwirbeln.Das machte sie sowohl trunken vor kurzem Glück und sie auch ängstigte.
Sie pendelte nun wöchentlich zwischen den Eltern abends hin und her, soll aber zunächst geschrien haben, wenn sie zu ihm hingebracht wurde, doch erneut geschrien haben, wenn er sie zurückbrachte. Die Mutter habe als Alleinerziehende gelebt, in steter Sehnsucht, dass der Mann zurückkehre. Sie war also aus doppeltem Elterngesicht mit Abneigung angeschaut worden, scheint aber, wie wir herausfanden, an den später verführerisch liebevollen Blick des Vaters gebunden geblieben zu sein. Die Mutter brauchte und missbrauchte sie in ängstlicher Anklammerung im Ehebett, auch als Ersatzpartner, das sie erst mit zwanzig verlassen durfte, als Trösterin, später als Ersatzpartner. Der Vater, der sie als den kommenden Nachfolge in seinem mittelständischen Druckereibetrieb erziehen wollte,überwachte sie sehr eifersüchtig bis zu ihrem Wegzug ins -Studium, das zu bezahlen er sich weigerte, weil er als Techniker eine geistesgeschichtliche Richtung als albern und nutzlos empfand, und das sie sich deshalb weitgehend selbst erarbeiten musste.
Sie empfand sich auch ihrem aktuellen „Scheinliebhaber“ gegenüber als hörig, weil sie sich unter seinem Blick erst wirklich lebendig fühlte, Scheinliebhaber deshalb, weil er immer wieder warb, in Mails und mit seinen erotischen Phantasien. Doch sobald sie sich real begegneten, stieß

er sie auf demütigende Weise zurück zurück. Sie selbst war aber ebenso sehnsuchtskrank an ihre erotischen Phantasien gebunden, in einer nicht realisierbaren Symbiose, die ihr immer mehr wie ein rosiges, leeres Gefängnis vorkam. Selbst während der zweiten Doppelstunde unseres einwöchigen Therapiezyklus setze sie eine Mail von ihm aus weiter Entfernung in helle Aufregung, und sie wusste nicht, ob sie dem Wunsch nach einem sofortigen Telefonrückruf, die der Mann anmahnte, besser befahl, widerstehen könnte.
Nachdem mir die Geschichte einigermaßen flüssig erzählt wurde, verstand ich, warum sie auch mein Gesicht nach einem antwortenden Blick absuchte. Sie war noch immer eine verführerische Altersschönheit und war bei einem Mentor und Gruppenleiter rasch in dessen Bett gelandet. In der fünften Stunde wurde mir klar, dass es sich bei um sehr frühe, leicht drängende Beziehungsversuche handelte, die auch ihre zweiter, sehr erfahrener Analytiker offensichtlich nicht verstanden hatte. Trotzdem empfand sie, trotz der Wut auf den ersten, zu beiden Dankbarkeit, weil sie diese Jahre, auch nach einem Selbstmordversuch, überlebt hatte und viel über sich, wenn auch nur in den oberen Stockwerken der Seele, verstanden hatte, gereift war und ihr Studium und erste Berufsjahre gut bewältigt hatte.

Ich bot ihr nach einen mehrstündigen Bericht über ihr „Vorleben“, der oft von verzweifelten Weinanfällen unterbrochen wurde, also an, das missglückte Ankommen auf der Welt mit ihr nachzuspielen, und bat sie zu ihrem Erstaunen auf die Couch und erklärte ihr mein Vorhaben. Es ist aber nachzuholen, dass ich mit analytischen Gestalttherapie ihr zuerst ermöglicht hatte, in Form von Kissen und leeren Stühlen eine emotionale Bilanz zu ziehen zu allen ihr wichtigen früheren Personen, einschließlich des verliebten jungen Analytikers. Sie machte das mit einem solchen Engagement und Gefühlsinnigkeit, dass sie nach den zwei Stunden mit Teepause total erschöpft war. Sie hatte das Angebot, die Doppelstunde aufzulösen in zwei Einzelstunden, eine zu einem späteren Zeitpunkt, abgelehnt, so heftig war ihr Fühl- und Erkenntniseifer angewachsen, sie war also schon zu Beginn im Übermaß eifrig und fleißig. Ich musste sie auch in späteren Stunden immer wieder bremsen in ihrem sich leicht überschätzenden Leistungsdruck, der auch mit ihrer intensiven Werbung um mich zu tun hatte.
In der nächsten Doppelstunde bot ich ihr eine andere Form früher stützender Väterlichkeit an, wollte mich, wenn sie sich auf der Couch zu Wand drehte, mit meinem an ihren Rücken setzen. Es war zunächst überraschend für sie, doch dann spürte sie rasch die Wärme meines Rücken und suchte auch die richtige Berührungsmulde mit ihrem Rücken, allerdings mit sehr dosiertem Andruck. Und dann begann eine rasche

Abfolge von heftigen, rasch wechselnden Übertragungsfetzen: sie meinte, einen solchen väterlichen Rückhalt nie verspürt zu haben, und erlebte traurig ihre immer vergebliche Sehnsucht nach einem solchen Halt. Dann erschrak sie, weil sie plötzlich die übermäßige Nähe der Mutter spürte, und zog sich etwas zurück, als ob sie etwas Verbotenes getan hätte: sie erlebte noch einmal intensiv ihre schlafende Mutter, die nicht auf ihre Annäherung reagierte, obwohl sie zweifelte, ob die Mutter wirklich schlief. Es lag also eine Art Annäherungstheater vor, weil die Mutter die Nähe genoss, aber ihr die Initiative ihr überließ, um sich nicht selbst so bedürftig und klammernd zeigen zu müssen. Verboten und mit Schuldgefühl angereichert war aber auch ihr Rückzug und damit ihre eigene Abgrenzung von der bedürftigen Mutter.

So geschah früh alles in einer Atmosphäre der Verwirrung, wozu die plötzliche Angst vor der oft durch die Mutter ausgelösten Sexualisierung trat, die die Patientin zuerst positiv, dann aber mit Ekel überschwemmte: Die von beiden meist nur nächtlich gesuchte war also immer wieder unberechenbar vergiftet, je nach der „Tages- oder Nachtform“ der Mutter, die den getrennt lebenden Ehemann immer wieder zu offenen gelebter Sexualität empfing und distanzlos die Tochter zum Zuschauen zwang und sie trotzdem körperlich abrupt verließ, wenn der Vater zu unregelmäßigen Besuchen kam. Es herrschte also eine überfordernde Konfusion, die die Patientin immer wieder durch Fühllosigkeit und Erstarrung zu lösen versuchte.

Die Rückerinnerung an die im Körper gespeicherte frühen Gefühle gelang aber im Schutz der Geborgenheit auf der Couch an meiner Hand., sie konnten wahrgenommen werden, als sie sich wieder zu mir umdrehte und mit ihrer Hand wieder Halt an meinem Knie suchte. Es war eine dramatische Abfolge von emotionalen Zuständen, die, vermittelt durch die starke Regression, wieder fühlbar wurden. Die gleiche Konfusion von enger Anziehung, Sexualität und Abwendung oder Ablehnung, verbunden mit Schuldgefühlen, erlebte sie mit ihrem meist fernen Freund und Liebhaber, aus der Bindung an den sie mit meiner Hilfe dringend befreit zu werden hoffte. Die konfusen Schuldgefühle inmitten des Wogens der noch undifferenzierten Gefühle hatten damit zu tun, dass sie sich in ganz kindlicher Manier für verantwortlich und schuldig fühlte für das frühe und später scheinerwachsene Misslingen jeder stabilem Liebesbeziehung, außer der zu ihrem stillen Ehemann.

Fünfte Doppelstunde

Sie sprudelte in einem schwer zu unterbrechenden Redestrom, der es mir schließlich schwer machte zuzuhören und alles aufzunehmen, weil mir dauernd das Wort Plaudertasche durch den Kopf ging, mit einem Anflug von Ärger. Sie hatte mehrmals das Wort Zunami auch für ihre Gefühle gesprochen, sodass ich endlich sagen konnte, nachdem ich wie in der Schule den Finger ausgestreckt hatte, um mich zu melden: „Heute gleicht ihre Redestil einem Zunami, Sie wirken wie aufgekratzt.“, und fragte nach der Vorgeschichte. Es stellte sich heraus, dass die intensive Form der hektisch wirkenden Sprache ein Mittel war, aus der Einsamkeit heraus die frühen gleichgültigen Anderen noch zu erreichen. Gleichzeitig kamen wir auf Schulsituationen zu sprechen, und sie berichtete, dass sie nach beschwerlichen Grundschuljahren voller Scham und Verwirrung – Scheidung der Eltern, kein vorzeigbarer Vater, Armut – im Gymnasium sofort aufblühte und mit einem einzelnen „hervorragenden Lehrern“ einen Spezialkontrakte schloss: „Ich habe mit ihm oft allein den Unterricht bestritten, während die Anderen schliefen.Wir waren fast ein Team, und ich hatte mich in aufgeregter Erwartung immer gut auf den Unterricht vorbereitet.“ Sie lebte als Musterschülerin, wie ich sie in der Therapie lächelnd als Musterpatientin bezeichnete, deren Ziel es war, mich ganz für sich zu gewinnen..
Sie war in der ersten Stunde der Abschiedsdoppelstunde unentwegt fleißig am Produzieren von Erinnerungen an Schulsituationen, vor allem aber an einzelne Lehrer, „die mich ungeheuer gefördert haben.“ Sie wurde zum einsam Star der Klasse, konnte aber vorerst nichts mit der Deutung anfangen, es könnte auch Neid in der Klasse eine Rolle gespielt haben, so wie die depressive Mutter ihr die Lebendigkeit und ihren Durchsetzungswillen neidete, wenn nicht gerade bei der Mutter der „Tanzprinzessin“ beim Fasnachtszug der Stolz überwog.

Es blieb aber immer eine Konfusion, „wer ich bin, ich wusste ja nicht, wo ich hingehörte, zu Vater oder Mutter oder zur rettenden Großmutter oder zu der Sehnsuchtsfigur des Lieblingslehrers.“ Und währenddessen tauchten immer wieder Phasen auf, wo sie mich intensiv beobachtete, ja manchmal anstarrte, bis ich auch dies thematisieren konnte. Und im gleichen Zusammenhang kamen wir auf das, was ich in einem anderen Zusammenhang „Gesichtsmeteorologie“ genannt hatte: die ängstliche Erforschung der Stimmung des Gegenübers, um eine Orientierung zu finden in der wechselhaften Stimmungslage der Eltern, bei der sie immer unsicher war, ob sie willkommen war oder ob eine Katastrophe drohte.
Mit leuchtenden Augen erinnerte sie sich „an meine erste große Liebe mit vier, zu einem Nachbarsjungen, mit dem ich das Gartenparadies belebte, mit Kletterbäumen und Sträuchern, hinter denen man sich auch zu intimen Spielen verstecken konnte.“ Ihr Gesicht verdunkelte sich, als sie auf die abrupte und unvorbereitete Trennung zu sprechen kam, weil der Kamerad mit den Eltern umzog und für immer verschwand. Dieses Phänomen der abrupten und unwiderruflichen Trennung durchzog auch ihre Lebensgeschichte und bildete wohl den Anfang des Lebens mit den jeweiligen Erinnerungsbildern, die sie jederzeit heraufbeschwören konnte, denen sie sich jederzeit aus der schwierigen äußeren Weg zurückziehen konnte. Dies galt auch für die aktuelle Liebeskatastrophe mit dem fernen Freund Henry.
Nach der Teepause wollte sie noch im Sessel die intensive Arbeit an der Erinnerung fortsetzen, doch ich sah, dass sie erschöpft war, und meinte: „Sowohl Starschülerinnen wie Starpatienten brauchen Pausen der Regression.“, und bat sie zu ihrer Erleichterung auf die Couch zur „erholsamen Regression“. Auch hier wollte sie zunächst noch vorbildlich sein und schloss die Augen, versuchte „intensiv zur Ruhe zu kommen“, aber an der Bewegung der Augenlider war leicht abzulesen, wie heftig sie am Denken war. „Also gut, jetzt höre ich eben auf mit Denken“, aber der Vorsatz war lange nicht einzuhalten, erst in der letzten Viertelstunden kam sie wirklich zu „tatenloser Erholung.“ „Ich muss mich doch auf den Abschied von Ihnen vorbereiten! Und es beginnt ja schon die Trauer.“ Wir fanden noch heraus, dass nie jemand ihr geholfen hatte, bei frühen Trennungen zu trauern, „weil die Erwachsenen immer zu sehr mit sich selbst beschäftigten waren. Ich glaube, niemand hat gemerkt, in welchen Abgrund ich gefallen war, als der Kinderfreund verschwand.“
Sie lag zum Schluss in einer bezaubernd kindlichen Hingegossenheit mit geschlossenen Augen da, sodass ich fünf Minuten vor dem Ende sagen musste: „Wie kriegen wir Sie jetzt wieder in die notwendige Erwachsenheit?“ Sie lachte wie aus weiter innerer Entfernung, ließ meine Hand los und wollte wie eine Starpatientin sofort ruckartig aufstehen, bis

ich ihr riet: „Langsam aufwachen!“, und ich bot ihr in den letzten beiden Minuten die oft verwendete und erprobte „Übung“ gegen das Versunken-Bleiben in der Regression an: Ich setzte mich zurück auf meinen Hintercouchsessel, erbat ihre rückwärts ausgestreckten Hände und schlug ihr vor, den ganzen Körper durch zu räkeln, um alle Muskeln wieder in Besitz zu nehmen. Abschießend sagte sie noch: „Wissen Sie, was wunderbar war in den fünf Tagen, es fand in keiner Phase eine Sexualisierung statt, Sie waren immer sicher präsent in Ihrem stabilen Vaterkörper, auch wenn wir Rücken an Rücke saßen, selbst wenn ich in mir in der Übertragung das Herannahen der Sexualisierung angstvoll spürte, aber die Gefahr ging durch Ihren stabilen Vaterkörper vorüber.“

Zwei Monate später

Sie kommt zur ersten der fünf vereinbarten Doppelstunden und redet sofort los wie ein Wasserfall, verwehrt sich aber gegen den von mir freundlich-ironisch gemeinten Ausdruck „Schnatterbase“ von der vorigen Stundenfrequenz. Ihr Mann, dem sie das berichtet hatte, meinte begütigend höflich, „das stimmt doch nur zu zehn Prozent.“ „Also muss es etwas mit Ihrer Aufgeregtheit und mit unserer Situationen zu tun haben: mit Ihrer Beziehung zu mir, auf der Suche nach Nähe“, und sie ergänzt: „Mit dem, was wieder hochkommen könnte in den fünf Tagen“. Sie hat ein Bild mitgebracht von der Erstbegegnung mit ihrem unzuverlässigen Freund: zwei schöne ältere Menschen am Ausgang eines Flughafens. Wichtiger ist ihr aber ein Foto von ihr als Zweijähriger, strahlend hübsch und blond, mit verführerischem Lächeln. „Damit bin ich bei bei den Eltern angekommen!“, ich ergänze: „Als sie vorzeigbar waren, und es schaut schon die spätere kleine Eisprinzessin, der Stolz der Mutter hervor.“

Wir sprechen kurz über die totgeborene frühere Schwester und den Schrecken beider Eltern, dass sie ein Mädchen war und mit tief ablehnenden Blicken ins Leben trat. Die Schwangerschaft wurde vermutlich überbesorgt wahrgenommen, mit religiösen Dankveranstaltungen dafür, dass eine neue Hoffnung möglich war. „Und dann dieser doppelte Schrecken!“
Mir ist sofort klar, dass ich mit der Geburt dieser innig und fast bedrängend um mich werbenden Alters-Schönheit beginnen muss. Ich bitte sie auf die Couch, und als sie liegt, schlage ich ihr vor, sich vorzustellen, sie liege da, neugeboren. Da zucken ihr Hände schützend vor das Gesicht, um es komplett zu verbergen, und in dieser qualvollen Scham liegt sie regungslos einige Minuten. Dann dreht sie sich weg zur Wand, hüllt sich in eine Decke, zieht sie auch über den Kopf und ist damit unsichtbar. Etwas später kommt: „Ich wollte, ich wäre nie geboren.!“ Noch etwas später berichtet sie, sie habe der Mutter oft gesagt. „Ich möchte wieder zurück!“, die Mutter habe dies als innigen Liebesbeweis verstanden. „Und ich meinte doch nur, eine Rückkehr in eine absolut bergende Symbiose, ohne ablehnende oder sich im Streit zermürbende Eltern.“
Sie schließt und öffnet die Augen in unregelmäßigem Rhythmus, wendet sich nach innen und dann wieder mir zu, einige Male mit noch fast blinden Augen, wie bei Baby. Aber dann sehr ich an den flatternden Lider, dass der erwachsene Anteil fast hektisch denkt, wie um sich zu orientieren, wo sie ist. Und dann erscheint ein Gesicht, das ich nur mit einem im Mutterleid schwimmenden Fötus in Beziehung bringen kann, und in der Tat sagt sie, sie sei „im Warmen“ geschwommen, sucht dann mit der Sprache auch meine realen Konturen. In dieser Phase hatte ich ihr, angestoßen durch die immer wiederkehrende Verlorenheit in ihrem Gesicht, ihr meine Hand angeboten, die sie dankbar nahm und fest hielt bis die Stunde zu Ende ging.
Ich sage gegen Ende der ersten Stunde noch, aus der Erinnerung nachgetragen: „Sie müssen ungeheure Kräfte zur Werbung um die Gesichter aufgebracht haben. „Ja, ich bin im Werben ungeheuer zäh, und ich habe Erfolg gehabt!“ Da verdüstert sich ihr Gesicht: Die Wiederholung mit ihrem Freund ist ihr eingefallen, als ein Lebensskript, das sie nun auch in anderen Beziehungen entdeckt: zähes, zwischen Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit schwankendes Werben. „Bei meinem extrem scheuen asiatischen Freund fünf Jahre lang um den Beginn einer auch körperlichen Liebe!“ Der aktuelle, in der Welt herumreisende Freund Henry hält sie mit Telefonanrufen und Mails zwischen Hoffen und Bangen, wie gehabt. Als sie sagt: „Ich werde ihn nicht los, obwohl ich weiß, dass die Beziehung sinnlos ist.“, erkläre ich ihr die archaische Tiefe der frühen hoffnungslosen Bindung an die Mutter, später wohl auch an den Vater, bevor er das Goldkindchen an ihr entdeckte. „Also muss ich doch einfach auch mit Henry durchhalten, auch wenn es Jahre mit einer späten Entdeckung von mir dauert?“ Ich bewundere ihr goldenes Haar, auf dem schon als Kind ihre Hoffnung, ihre Erfolgsgarantie lag.
Sie zeigt mir noch einige Familienbilder. „Es gibt kein Bild von mir zusammen mit den Eltern.“, aber ein erschreckendes Bild von ihr und der Mutter: Die Mutter strahlend und mit dem Fotografen kokettierend, das etwa sechsjährige Mädchen sichtlich unbeachtet und frierend mit ihr unter der gemeinsamen Dusche im Freien. „Ein Standbild unserer Beziehung!“ Wir schweigen, sie erschüttert, auch ich bin ergriffen von diesem Lebensskript, das sie nach mehreren Therapieversuchen im Alter von fast siebzig zu mir führt. „Aber ich hatte auch sehr lebendige und frohe Lebensphasen, die haben diesen Untergrund übertönt.“

Fünfte Stunde

Sie kommt am anderen Morgen erschöpft und desillusioniert von einem Essen mit ihrem Freund zurück, der zwischen zwei Reisen für einige Tage in der Satdt weilt. Er hatte sich leidend, verzweifelt und hilflos gezeigt, sie „vollgelabert“ und als „Mülleimer“ benutzt und sie in seinem Unglück beinahe als Retterin angefleht. „Ich weiß, dass die Beiziehung keine Zukunft hat, im Kopf, aber ich hänge an den Illusionen, er könnte mich lieben oder wenigsten lieben lernen, wenn ich durchhalte. Sie erwähnt, wie eine Vorgeschichte der Hoffnungslosigkeit, eine intensive Verliebtheit mit achtzehn, er war ein „Genie“ und Charmeur, der mich eines Tages einfach fallen ließ. Ich erholte mich monatelang nicht von der Katastrophe, war fühllos und innerlich wie tot. Danach hatte ich nur noch Affären, aber traute mich nicht mehr zu lieben.“
Als ich frage, welcher Laut jetzt in ihrer Kehle stecke, zwischen Wimmern und Schreien, meint sie in der Stimmung trauernder Resignation: „Ich spüre gar keine Stimme, ich kann weder Wimmern noch Schreien, aber ich war ja ein Schreikind, ging beiden Eltern auf die Nerven, mein Vater hat wegen meinem Geschrei das Wohnstockwerk in dem großen Haus gewechselt, und meine Mutter hat mit einem Kissen, das sie aufs Gesicht drückte, meine Schreien beendet, ich glaube, sie hätte meinen Erstickungstod in der Wut in Kauf genommen.“
Sie bedeckt wieder ihr Gesicht, aber nicht wie früher um sich vor der Scham zu schützen, sondern wie in Selbsttröstung, sagt, sie fühle sich leer wie damals und wisse nicht, wie es jetzt weitergehen könnte. „Ich bin ohne jeden Wunsch und ohne jede Initiative, nur erschöpft.“ Ich sage: „Wenn Sie wie gelähmt, aber verzweifelt sind, konnten sie auch der Mutter keine Zeichen mehr geben, was Sie bräuchten. Dann müsste sie sich einfühlen und initiativ werden, und das mache ich jetzt. Ich lege meine Hand auf ihre Hand.“ Sie wendet sich mir liegend zu und schließt wie erlöst die Augen. Und dann beginnt ein Dialogspiel: Sie öffnet und schließt die Augen, wie um zu prüfen, ob ich noch da bin, wenn sie sich in in Inneres, in den namenlosen Schmerz entfernt. entfernt. Dann beginnt wieder die Baby-Suchhand in der Luft herumzufahren, ich frage, was die Hand suche, und diesmal weiß sie es

selbst: „Halt“, und sie legt sie auf mein Knie. Ich ergänze: „Halt gebende Berührung.“ Sie nickt heftig und zufrieden.
Wenig später beginnt in der Beruhigung ihr Gedärm zu gurgeln, sie kennt das nun schon und frage: „Hören Sie die Entspannung? Ich könnte stundenlang so liegen.“ Es sind Momente geborgener Ruhe, sie Stimmung steckt mich offensichtlich an, denn auch in mir beginnt es zu gurgeln und sie sagt: „Wir sind im Dialog.“ Als ich in der vollkommenen Ruhe ein wenig einnicke, meint sie, wie zu einer Mutter, die beim Märchenerzählen am Kinderbett auch eingeschlafen ist: „Jetzt schlummern wir beide.“, aber ohne jeden Vorwurf, sondern zufrieden in der trauten Gemeinsamkeit. (Erst viel später stellt sich heraus, dass ich in der Übertragung die rettende Großmutter bin.) Da ich mich an eine Szene mit dem gelegentlichen Einnicken meines Lehranalytikers hinter der Couch erinnere, das ich vorwurfsvoll bemerkte, sagte der zu meiner Beruhigung: „Das ist nur mein Ammenschläfchen, bei jedem heftigeren Atemzug von Ihnen bin ich sofort wieder hellwach.“ Wir müssen lachen, weil sie sich gar nicht von mir verlassen gefühlt hatte, sondern in einer symbiotischen Nähe geborgen. Sie löst ihr Hand von meinem Knie, sie braucht den zusätzlichen Halt nicht mehr, sondern legt sie auf ihren Bauch, „ich gebe mir jetzt selbst Halt.“ Ich frage, wie sie meine Hand erlebte: „So eine ruhig haltende gab es nicht, die Hände beider Eltern waren gefährlich und bedrohlich.“ Darauf ich: „Dann ist meine Hand etwas ganz Neues, das in ihrem Leben auftaucht?“ „Ja, ich habe sie sofort adoptiert.“

Nächster Tag

Sie kommt strahlend, aber erschöpft: „Feierlicher Abschied vom unzuverlässigen Freund bei Festmahl und Musik“, ich zweifle, aber sie meint, „es ist endgültig von meiner Seite aus, auch wenn er sich telefonisch oder mailend wie ein Stalker verhalten wird.“ Da die Beziehung beendet sei, könne ja jetzt endlich fest zu mir kommen. (Sie hatte den mir Unbekannten zu zwei Gesprächen geschickt, ohne mich zu informieren.) Ich werde ärgerlich: „Soll ich dann eine Art Paartherapie betreiben in diesem Chaos? Wer hat eigentlich wen zu mir geschickt oder auf mich aufmerksam gemacht? Das gibt doch einen heillosen Kuddelmuddel.“ „Dann trete ich natürlich zurück!“ Ich: „Gutmenschliche Abtretung! Sie sind aber seit längeren meine Hauptpatientin. Ich werde ihm sagen, dass das mit ihm nicht geht. Außerdem ist er unzuverlässig. Ende!“, sage ich fast hart, um mein Nein anzuzeigen.

Dann legt sie sich hin, lächelt mich noch einmal kurz und erwachsen flirtend und dankbar an, dann beginnt der Fahrstuhl in die Babyzeit: „Die Geburt ist leicht gewesen, die Schwangerschaft, wie Sie vermutet haben, besorgt und umsorgt, und dann flutsche ich hinein in die unfreundliche, abweisende Elternwelt.“ Ich: „Aber der Aufenthalt im Bauch war eine Ressource, deshalb wollten Sie immer zurück!“ Sie stimmt zu, greift nach meiner Hand und schließt die Augen, erholt sich. "So könnte ich bleiben bis zum Ende der Stunde.“ Da es sehr hell ist, kann sie die große Uhr sehen, öffnet mehrfach die Augen und schaut auf die Uhr. Ich: „Sie kontrollieren, wie viel Zeit Sie noch haben?“ „Ja, ich hasse Überraschungen, wenn ich mich so regressiv einlasse.“

Nachmittag, 15h, ein warmer Frühlingstag

Es ist endlich warm im Zimmer ohne den tagelangen kalten Sturm. Ich falte zufrieden meine Hände vor dem Bauch, was sie beobachtet, sie schien nicht dringlich bedürftig nach der Hand. Aber sie beobachtet meine Hände und überträgt, mit stummem Vorwurf: „Nanu, heute keine Hand. Rückzug, Strafe?“ „Dann eben nicht!“, formuliere ich spielerisch gekränkt für sie. Sie lacht ertappt, ich lege meine Hand bereit. Es folgt ein Machtkampf, sie schaut trotzig auf meine Hände. Ich, für sie: „Behalten Sie doch Ihre Scheißhand!“ Sie lacht ertappt, dieser Kampf dauert ca. 20 Minuten, mir scheint, sie würde bis zum Ende durchhalten. Ich sage, da sie ihre andere Hand gleich spontan anfangs in fast unmerklichen Schritten mir entgegen schob, was meine Haltung erweicht, „da kommt die friedlicher Hand.“ Ich gebe mit meinem Zeigefinder einen kleinen Gruß an ihren Finger: „Zur Belohnung für Ihre tapferen Kampf.“ Der ist damit aber nicht zu Ende, sie greift nicht zu. „Mein Wink hat wohl nicht gereicht?“ „Richtig, Sie müssen schon mehr bieten!“ „Damit Sie ihr Gesicht behalten?“ „Genau, ich kann sonst nicht zurückkehren zu Ihnen.“ „Dann nähern wir uns als Kompromiss mit den Händen vorsichtig an.“ Das geht, die ruhen nun fest ineinander. Sie stolz: „Ich hätte durchgehalten bis zum Schluss!“ Ich: „Das habe ich mir gedacht.“ Wir müssen beide versöhnt lachen. Sie bedankt sich von der Tür aus.

Neunte Stunde

Sie berichtet genauer von einer frühen Liebeskatastrophe: Mit 23 erste große, nein riesige Verliebtheit, trotz relativ neuer anderer Freundschaft in Polen. „Es war ein rasantes Kennenlernen in einer Gruppe, rascher gewaltiger Sex, erstmalige Erfahrung in dieser Heftigkeit. Nach wenigen Monaten ließ der verheiratete Mann mich stehen, weil seine Frau wegen der drei Kinder extremen Druck macht, die Sache zu beenden. Auch Druck von meinen ihren Eltern: „Wie kannst Du nur!“. Die Folge der Katastrophe bei ihr: mehrmonatige Erstarrung und innere Leere, Studienabschluss später unter massiven Psychopharmaka zur Beruhigung und Belebung. Auf die Frage, was sie an dem nur wenig Älteren so fasziniert habe: „Er war ein Genie, leichtlebig, geistreich, und immer Mittelpunkt der Gruppe, ein Star!“

Ich stelle Fragen nach ihrem Selbstwertgefühl und dessen Aufbesserung: „Mal gering, mal weit überzogen, stets schwankend.“ Auch der neue Freund Henry: „Halb gebunden an die geschiedene Frau, ein Einsamkeits- und Sportstar, nur in seinen Phantasien anhänglich, vermutlich beziehungsunfähig.“, wie sie sagt, "ich habe es ja jetzt schmerzlich kapiert."

Abschiedsstunde

Sie scheint sowohl erschöpft wie aufgewühlt, ich bitte sie auf die Couch, zur Beruhigung und zum „Nachtanken“ von Geborgenheit. Sie schießt sofort die Augen, greift nach meiner angebotenen Hand, „Auf die habe ich gehofft!“, sie pendelt zwischen offenen und geschlossenen Augen, mit regrediertem Babygesicht, wird aber gegen die Mitte der Stunde unruhig und schaut nach der Uhr: „Kontrolle und Unruhe von der Trennung?“ „Ja, ich weiß doch nicht, ob die Therapie eine Fortsetzung hat, oder ob es gleich eine endgültige Trennung gibt.“ Angst steigt ihr auf, wir untersuchen ihre Trennungserfahrungen: vom Mutterschoß, die wöchentliche vom Vater; von Freundinnen, von der ersten Liebe, von der süddeutschen Heimat, mit der sie tief verwurzelt war, nach der Berufung des Ehemannes an nach Hessen; Trennung der Betten dort aus Groll wegen der Verpflanzung; von einem langjährigen asiatischen Lehrer durch dessen Tod, usw. Sie setzt sich 20 Minuten vor Ende auf mit den Worten: „Ich muss autonom beginnen mit dem Abschied.“ Sie betrachtet, studiert, beäugt, verschlingt meine Gesicht, als eine innere und äußere Vergewisserung, ob es mich gibt und ob ihr Erinnerungsbild bleiben wird. Ich versichere ihr, dass sie wiederkommen kann, „auch manche Tierjungen brauchen bis zu zwei Jahren und mehr, bis sie sich entfernen oder teilentfernen können.“ Das beruhigt sie, und sie kann gehen, nachdem wir für drei Monate später einen Termin von fünf Tagen mit Doppelstunden gefunden haben.

Die Entdeckung der rettenden Großmutter, drei Monate später

Es erfasst mich anfangs eine tiefe Resignation, als die Patientin berichtet, es habe sich an der Qual der Sehnsucht nach Henry, dem Freund, der sie weiter demütigt und inzwischen jeden Kontakt ablehnt, nichts geändert. „Aber ich weiß doch, dass es ihm schlecht geht, auch die Reisen, die er inzwischen gemacht habt, haben nichts geholfen. Auch eine begonnene Therapie hat er nach ein paar Stunden abgebrochen. Dabei hatte unsere Beziehung doch so verlockend begonnen. Ich schwelge verzweifelt in erotischen Fantasien und schreibe über jede Erinnerung an ihn auf und quäle mich damit.“ Es scheint, dass sie ihn immer noch verzweifelt retten will, und damit auch sich. Ein sehr guter alter Freund habe sich im Traum bei ihr überraschend gemeldet, mit dem sie jahrelang wunderbar habe reden können, dabei nur mit minimalen Spuren von Erotik, mit fast sich heilig anfühlenden Berührungen der Finger im Mondschein. Und als ich ihn jetzt wieder sah, merkte ich plötzlich, wie sehr mein ablehnender Freund ihm gleicht.“ „Das war ja fast ein Wiederfinden, und der Unglücksfreund Henry war eine Verwechslung?“ Ich: „War der frühere Freund auch unglücklich?“ Sie berichtet von seiner tiefen Depression, einem Selbstmordversuch, und einen jahrelangen blinden Irren durch die ganze Welt bei intensiver innerer Heimatlosigkeit.

Ich fange an zu ahnen, dass es bei ihr eine tiefe Bindung an zu rettende Männer gibt, und wir gehen die Reihe durch, kommen bei ihrem Vater an, der sein frühes Unglück und seine Ungeborgenheit durch den Aufbau seines Betriebes und unermüdliche Arbeit übertönt hat. „Ich habe ihn zu fliehen versucht wegen seiner Umklammerung: er wollte permanent über mich bestimmen und verfügen. Ich habe ihn zuletzt gehasst, aber der Ausdruck seiner Augen ist mir unvergesslich geblieben, ein Flehen, ein durch Lärmen übertönter stiller Schrei nach Hilfe. Aber ich konnte ihm als Kind doch nicht helfen, nur ihm auszuweichen versuchen.“

Dann fällt ihr ein: Das gleiche gilt ja für meine unglückliche, von ihm geschiedene Mutter, die sich, ohne viel mir anfangen zu können, an mich geklammert hat. Die konnte ich auch nicht retten, ich habe sie oft gehasst, und trotzdem habe ich oft tiefe Schuldgefühle, weil ich ihr nicht helfen konnte. Schon früh hat sie mich tagsüber der Großmutter übergeben, der einzige Mensch, bei dem ich Wärme gefunden habe. Aber die ist an Altersschwäche gestorben, als ich sieben Jahre alt war. Ich konnte mich nicht verabschieden, eines Tages, als ich aus der Schule kam, war sie einfach weg. Ich habe kaum Erinnerungen an sie.“ Doch als ich sie bitte, der „Oma“ zu sagen, was sie ihr verdankte, beginnen Erinnerungen zu strömen:

„Sie hatte einen Witwer geheiratet, mit sechs Kindern, der hat sie aber immer betrogen. Dann bekamen sie noch fünf eigene.“ Ich: „Sie muss erschöpft gewesen sein.“ Alles sehr verkürzt, es tut sich eine Art Beziehungsheiligtum auf: Die schwarz gekleidete Frau sitzt wie ein Denkmal in einem Sessel am Fenster; das sich von der Mutter verstoßen fühlende Kind zu Füßen der Oma, angeschmiegt an ihre Beine, eine Ewigkeitsszene durch die frühen Jahre hindurch, fast ohne Worte, nur mit sanfter Stimme, beim Streicheln über das Haar des Kindes: „Du armer goldener Vogel.“ „Ich war wohl ihr Lebenstrost, vielleicht hat sie mir auch manchmal vorgelesen, wir schauten endlos nebeneinander zum Fenster hinaus. Es war still, und ich war geborgen.“ Auch die Großmutter, die vom Leben verhärmte, die ihre letzte Wärme an das ungeborgene Kind verströmte, „musste ja auch gerettet werden, aber es bleiben Trauer und Schuld: Ich konnte sie nicht vor dem langsamen Verfall retten. Es war keine Liebe, es war nur das Aufgehobensein mit ihr, an das ich mich erinnere. Mir wird deutlich, dass niemand mir geholfen hat zu trauern.Ich wusste nicht, dass ich trauerte, sie war so still weggestorben. Es gab nur noch Leere und Einsamkeit um mich herum. Erst in der Schule taue ich wieder auf, die Schule war die Rettung. Ich habe den ersten Lehrer so umworben, dass ich seine Lieblingsschülerin wurde und die Mitschüler durch Klugheit und Wissen überflügelt habe. Aber es ist die Stimme und der Blick der Oma, die mir geblieben sind.“

Als ich die ausgebliebene Trauer anspreche, kommen ihr die Tränen. „Es muss dieser Blick sein, der mich immer wieder an Männer geführt hat, bei denen doch gar nicht zu holen war. Warum kann ich sagen, es gab zwischen mir und ihr, die mich gerettet habe, keine Liebe?“ Ich: „Liebe ist in Ihrem reichen Affären-Leben, neben ihre langen, guten, stillen und nie stürmischen Ehe, immer etwas Stürmisches, Aufregendes, scheinbar Vitales, doch immer auf der Suche, doch noch Heimat, Geborgenheit und Erotik endlich zu einem Ganzen zu vereinen. Aber es passte nie zusammen. Und immer die Verwechselung der Anziehung mit den Rettung heischenden Gesichtern von zunächst vielversprechenden Männern, mit vielen enttäuschten Trennungen. Und nur zuletzt das quälende Kleben an Henry, der gar nicht lieben kann.“ Sie Sieht verzweifelt und traurig aus. Ich: „Eine quälende Folge von Verwechselungen, durch viele Seelenschichten. Und so viele Männer sind wegen Ihrer verheißungsvollen Schönheit und aufregenden Scheinlebendigkeit auf sie zu geflattert, und Sie haben immer wieder die Leere gespürt und sich hinter dem aufregenden Schein oft wie tot gefühlt. Aber der verlorene Blick des Freundes hält sie gefangen wie klebriges Gift.“ Ihr Gesicht ist voll müder Resignation. „Ich habe mich immer bis zur Selbstverleugnung angepasst, immer in der Hoffnung, erkannt zu werden. Ich wusste doch nie, wer ich bin. Schicken Sie mich jetzt weg?“, (gemeint: wie die Mutter, der Bruder, die der Kinderfreund, Henry) kam zum Schluss der Doppelstunde eine verzweifelte Fragen. „Nein, wir entdecken doch gerade das lebenslange Geheimnis Ihrer bruchstückhaften Bindungen; die Verlorenheit des kleinen Kindes mit dem falschen Geschlecht, das das Strahlen gelernt hat, auf das so viele hereingefallen sind, und auf ihre verzweifelte Werbekraft um ein Erkannt-Werden. Und jetzt werben Sie um mich, um meine Lieblingspatientin zu werden, bereit, mir in allem zu gefallen, nur damit sie bleiben oder wiederkommen dürfen, und dass ich nicht still verschwinde in den Pausen wie die rettende Großmutter. Es war die stillste Liebe, die man sich vorstellen kann, und sie haben immer vergeblich die lärmende Liebe bei Männern gesucht.“ „Ja, sie konnte ja kaum noch gehen, sie war die Sitzende, auf die man nie zurennen konnte, ich konnte sie nie drücken, ich musste sie schonen, damit ich sie nicht umbringe mit meiner nie gelebten heftigen Zuneigung, die doch auch hätte stürmisch werden wollen.“ Dann blickt sie, an meiner Hand auf der Couch, auf zu mir und sagt: „ Ich weiß, zwischen uns darf es nie stürmisch werden, ich vertraue darauf, dass Ihre haltgebende Ruhe bestehen bleibt, auch wenn die Nähe, die zwischen uns entsteht, mich stürmisch erwachsen machen will. Sie spüren wohl, wie genau ihr Ihre Hand prüfe, ob nicht doch ein nach mir Greifen droht.“

Die nächste Doppelstunde, einen Tag später

Allmählich lichtet sich das Dunkel um die im Untergrund ihr Leben prägende Beziehung zur Großmutter, um die getrauert zu haben sie sich nicht erinnern konnte. Wir stellen uns szenisch das Oma-Enkelkind-Duo vor: sie sitzt als Kind der Oma zu Füßen, etwa ab der ersten Geburtstag. Sie kann von der ermüdeten Frau vermutlich nicht mehr auf den Schoß gehoben werden, damit entfällt aller vitale Kontakt. Aber sie kann sich gegen die Beine der Oma lehne, mit den Händen nach denen greifen, sich anklammern, die Beine und Füße untersuchen. Sie spürt die streichelnde Hand auf ihrem Kopf mit den begütigen und vielleicht von Mitleid erfüllten Worten der Oma. Sie kann auch nach deren herunter gereichten Hand greifen. Je älter das Kind wird, desto mehr muss sie sich heftige Bewegungen abgewöhnen: sie ist geborgen, aber nicht vital, erlebt aber den Blick der Oma, immer wenn sie von der Mutter, die zur Ganztagsarbeit geht, gebracht wird. Sie muss von diesem kurzen Blickkontakt leben. Sie stellt sich vor, dass sie zwischen die Beine der Oma gekrabbelt ist, dass ihr aber u viel „Schabernack“ und Boxen untersagt wurde. Die rettende und bergende Beziehung war also höchst avital, die Bewegungs- und Interaktionslust lauft ins Leere. Es gibt also eine Gleichzeitigkeit von Geborgenheit und vitale Vollbremsung, vermutlich auch mit unterdrückter Wut, vielleicht sogar Hass. Deshalb ist es auch verständlich, dass sie nicht trauern konnte, zumal sie die Oma bei zunehmender Bettlägerigkeit gar nicht mehr aufsuchen und sehen oder gar gar berühren konnte. Deshalb ist die Geborgenheit auch kaum zu einer erinnerbaren Ressource geworden. Die szenische Wiederholung: ich sitze auf der Couch, sie unter mir auf dem Teppich, greift mit einer Hand nach einem Bein, mit der anderen nach meiner hinuntergereichten Hand. Als sie etwas größer wird, kann sie ihren Kopf auf mein Knie legen und sagt: „Jetzt könnte ich einschlafen und lange hier bleiben.“ Ich kann ihr diese sehr unbewusst gewordene Ressource als wertvoll und lebensrettend verdeutlichen und sagen: „Wenn wir das wiederholen, er gibt es vielleicht ein erinnerbares Bild und rettendes Gefühl, wenn die schreckliche Einsamkeit anfällt, von der Sie jetzt im Hotelzimmer berichten, fern von ihrem sanften Mann, und die sie auf allen allein unternommenen Reisen heimsucht, wie zuletzt der mehrwöchigen nach dem Fernen Osten, wo Sie Freunde haben.“ Ich kann sie zu Lachen bringen, als ich sage: „Ich bin jetzt Oma Henriette, in Anspielung auf die Verwechslungs-Beziehung zu ihrem Freund Henry, der sie so rüde abweist.“ Es sieht aus, als fände sie Anschluss an einen inneren Schatz, der ihr aufgrund der hohen Ambivalenz abhanden gekommen war.

Als sie beim Abschied gleich in naher Zukunft erneut eine Woche ausmachen will, sage ich Nein: „Sie sind trotz vieler Versprechungen, sich nach den vielen Demütigung durch Henry von ihm zu trennen, liebessüchtig geblieben, und ich kann mit Süchtigen nicht dauerhaft umgehen. Außerdem wühlt sie unsere Arbeit jedes Mal, wie Sie berichten,ungeheuer auf und Sie geraten in depressive Rückfälle. Deshalb kann ich mir eine Weiterarbeit nur vorstellen in Kooperation mit einer regelmäßigen, mindestens einstünden Psychotherapie. Nach längerer, zum Teil demütigender Suche durch einer Therapeutin fand sie ein orthodoxe Koryphäe in einer eine Fahrstunde entfernten Stadt. Die hatte keinen Analyseplatz frei, sondern bot ihr angesichts ihres Zustandes eine zweiwöchig geführte Stütztherapie an, die die Patientin annahm. Da sie aber aus früheren analytischen Kenntnissen annahm, wie schwer sich Analytiker tun mit erweiterten Therapieformen, verschwieg sie die Arbeit mit mir. Als sich die Beziehung aber festigte und sie das Engagement der Dame spürte, wagte sie es, um eine Zusammenarbeit mit mir zu bitten. Die Koryphäe weigerte sich aber nicht nur brüsk, mit mir zu kooperieren, sondern verbot ihr weitere Besuche bei mir. Das teilte sie mir resigniert mir, und ich erinnerte sie daran, als sie mir den Namen nannte, dass ich skeptisch gewesen war bezüglich einer Kooperation. Sie griff aber nach mehreren Absagen trotzdem zu und schrieb später verbittert: „Jetzt bin ich in der gleichen Lage wie als Kind mit, mit zerstrittenen Eltern, die nichts miteinander zu tun haben wollen.“