Tilmann Moser

Die Zerstörung von Denken, Fragen, Fühlen und Erinnern

Obwohl Freud auch tiefgreifende Aufsätze über sozialpsychologischen und politische Themen geschrieben hat, ist die Psychoanalyse von Einzelpatienten mit neurotischen Störung in der Geschichte der Disziplin bis heute der Hauptgegenstand therapeutischer Bemühungen geblieben. Deutungen des emotionalen und intellektuellen nationalen oder globalen Zustands der Welt und damit der Menschheit sind eher noch selten. Die Psychoanalyse als therapeutische Methoden und Wissenschaft bleibt vorerst weitgehend individuumsbezogen. Doch sie hat sich in der langen Entwicklung immer mehr ausdifferenziert und sich an immer schwierigere Diagnose heranwagt, denken Sie an das Borderline-Syndrom, das sich von einer verachteten Schrottkategorie zu einer ehrenwerten und von vielen Analytikern, natürlich mit Varianten der Technik,behandelt wird. Schwieriger wird es hinsichtlich massenhaft traumatisierter Menschen, die ebenso massenhafte der Hilfe bedürfen. Hier, so ist meine Hoffnung, werden Neurosentherapie und Traumatologie eine langsam wachsende fruchtbare Kooperation eingehen müssen.

Schon jeder Schritt zu neuen Modifikationen der klassischen Technik hat immer jahrezehntelange Kämpfe gebraucht, bis es ein neuer gängiger Kanon sichtbar wurde, wenn auch in lange feindlich rivalisierenden Untergesellschaften. Zu sehr waren die psychoanalytische Orthodoxien Glaubensgemeinschaft, bei der der Beitritt nach schwieriger Ausbildung und kompliziertem Examen gleichzeitig eine Art Konformitätsschwur verlangte. Einer der strafenden Sätze der gläubigsten Untergruppen lautete: „Das ist nicht mehr unsere Psychoanalyse!“ Und auch die Gruppentherapie und Gruppenanalyse hatten lange zu kämpfen, um einen ordentlichen Status zu erlangen und kongressfähig zu werden. Die zum Teil gehässig vollzogenen Abspaltungen und Trennungen der Adlerianer und der Jungianer dürften vielen von Ihnen bekannt sein. Behandelbarkeit vieler seelischer Erkrankungen war ein wichtiges Kriterium, und viele Pioniere des kleinen und großen Fortschritts haben an der Erweiterung des psychotherapeutischen Feldes gearbeitet.

Eines der immer nur teilweise ungelösten Probleme war der zäh schweigende Patient, der unergiebige, der Widerstand leistende, der sprachunfähige, oder der psychosomatische Patient, bei dem sich die Neurose oder das Trauma das Dunkelfeld des rein körperlichen Ausdrucks gewählt hatte. In die psychotherapeutischen Klinik zogen etwa ab Anfang der sechziger Jahre unter dem Druck der Resignation und der anbrandenen alternativen Methoden auch Leibtherapien, inszenierende Verfahren und Imaginations-Gestaltungen, Ergo- und sogar Körpertherapien ein, natürlich auf untergeordneten Rängen der Hierarchie. Und zum verwunderten Staunen der an die reine Sprachkur gebundenen Analytiker wurden diese aktiven Formen mit dem meisten dankbaren Beifall von den später befragten Patienten bedacht, au die neugierige Frage, was ihnen am meisten geholfen habe. In den Pionierzeiten der siebziger und achtziger Jahre gelang es eine Reihe der therapeutischen Institutionen Institute mit Kassenzulassung Verweildauern bis zu einem halben Jahr und mehr auszuhandeln, sodass auch die schwierigsten und bisher gefürchteten Patienten eine hoch zu schätzende Behandlungschance erhielten. Leider mussten sich viele der dabei hilfreichen dieser Verfahren noch getrennt entwickeln zu den klassischen mainstream Verfahren. In die Privatpraxis drangen sie kaum ein, es sei denn als kassenlos sich verbreiternder Wildwuchs mit oft unzureichender Ausbildung. Aber einige unzufriedene klassische Kollegen fuhren zum Urschrei oder bioenergetischen Kollegen und Suchende auf anderen Wegen kamen zurück mit gelegentlich abenteuerlich klingenden Varianten. Die Traumatherapien verschiedener Varianten gewannen an Mut und an Boden, aber kaum liiert und kooperierend mit den Freudschen Urformen von Therapie und Analyse. Vielleicht deshalb wurden sie immer kühner im Umgang mit dem Körper und verloren, wie einige seltene analytische Pioniere auch, die Angst vor der heilsamen Berührung. Inzwischen gilt es nicht mehr als anstößig, vom Körper in der Psychoanalyse wenigstens zu sprechen

Mit der Untersuchung und Therapie der jahrelang verloren leidenden und wütenden Vietnam-Veteranen und der NS-geschädigten und von Verfolgung und Holocaust traumatisierten Patienten rückte der Begriff Trauma und Traumatisierung stärker in den Vordergrund. Doch immer noch nicht sehr kooperativ mit der sich ausdifferenzierenden Neurosenbehandlung.Die viele ärztlichen Psychotherapeuten, Experten im Berühren, mussten sich vom in vielen Jahren Gelernten wieder trennen, verzogen sich hinter die Couch und lauschten mit dem sogenannten Dritten Ohr den Assoziationen und Berichten ihrer Patienten. Erst neuerdings suchen eine kleine Reihe von gestandenen Analytikern und Lehranalytikern die scheinbar weit auseinander liegenden Disziplinen zu integrieren und mit Ohren, Augen und Händen die viel tieferen und scheinbar sprachlosen Schichten der unbewussten Körpererinnerungen zu entdecken und zu integrieren. Die damit verbundenen und notwendigen Veränderungen des therapeutischen Dialogs stellen seit einigen Jahrzehnten, aus den verschiedensten biographischen Gründe, mein Lebens- und Forschungsthema dar. Über sie habe ich in mehreren Taschenbüchern berichtet.

Annäherungen von Sprach- und Körpertherapie und deren zukünftige, auch politische Bedeutung möchte ich Ihnen an zwei Extrembeispielen deutlich machen. Zuerst an einem eigenen beginnenden Behandlungs-Beispiel aus jüngster Zeit.Und im zweiten Teil an den Ergebnissen von vielen Reisen von Gruppen von Forschern nach China. Dort fühlten sie sich wie Missionar der Psychoanalyse und stießen zunächst auf großes, ja fast gieriges Interesse , setzten Ausbildungsversuche mit Ärzten in Gang. Doch nach Jahren kehrten sie mit großer Skepsis zurück. Es wurde ihnen leidvoll klar, dass sie sich in einem Land wussten, das sie durch die im 20sten Jahrhundert und danach erlittenen millionenfachen Leiden als kollektiv traumatisiert erlebten. De vielen Teilvölker waren, willentlich und unter Kriegen und diktatorischer Herrschaft und jahrzehntelang terroristisch abgeschnitten von dem, was sich in Europa und den USA entwickelt hatte.Nämlich an Fähigkeiten von halbwegs freien Menschen, zu denken, zu fragen, zu fühlen und sich zu erinnern.

Ich schildere und analysiere zu nächste die zerstörerischen Vorgänge in eine psychisch extrem verengten deutschen Familie, die an mit subtilem seelischen Terror durchaus benennen könnte, und einigen Gedanken und Fallschilderungen eine Frankfurter Analytikers anhand eines bilanzierenden Vortrags von Nov. 2018.

Eine 50-jährige, noch mühsam berufstätige Angehörige einer Familie am Rande des schwäbischen Pietismus kam mit Gefühlen der Scheu, Wehrlosigkeit und inneren Leere in die Praxis. Sie litt zudem an einem Mangel an Erinnerungen und einem Fehlen kindlicher und jugendlicher Affekte. Was sie berichtete über die Kargheit des familiären Gesprächsklimas, das mit einem grausamen Denk- und Frageverbot begleitet war, klang erschreckend. Das ärmliche Leben, das zu einer Existenz als Sozialarbeiterin führte, strömte so dahin; eine frühe Ehe scheiterte, und zwei heute zwischen zwanzig- und fünfundzwanzigjährigen Kinder wurden Schulversager und mussten sich mit einfachen Arbeiter- und kleinen Angestelltenrollen begnügen. Sie selbst empfand ihr Leben als weitgehend ereignislos, nur rhythmisiert durch eine Reihe von Krankheiten und Depressionen in der weitgefächerten Verwandtschaft, bei denen sie immer als Helferin zur Verfügung stand. Es war schwierig, zu einer Introspektion und zu einer Reihe von zusammenhängenden Erinnerungsfetzen zu finden. Nur durch geduldige gestalttherapeutische Konfrontation mit wichtigen Personen – Eltern, Lehrern, Pfarrern und Geschwistern – lockte ich allmählich erkennbare Gefühle und Denkansätze aus ihr hervor. Sie empfand diese schwierige Arbeit nach Jahrzehnten der inneren Leere dennoch als eine Art seelischer Geburt in anstrengenden Etappen. Faszinierend war, wie unterschiedlich manche Phasen von Kindheit und Jugend langsam zugänglich wurden. Bei den drei jüngeren Geschwistern erlebte sie, wie Ansätze zu vitaler Betätigung in der ländlichen Umgebung, zum Teil durch Mitarbeit bei Kleinbauern und einigen geduldeten sportlichen Betätigungen, doch alle lebten in einem armseligen Sprachkosmos, in den höchstens minimale theologische und kirchliche Redefragmente hineinragten.

Es war für die Patientin schwierig, zusammenhängende, grammatikalisch etwas schwierige Sätze zu bilden, und manchmal geriet sie ins Stottern und schämte sich. Sie erinnerte sich, wie die neugierigen Fragen und Kindergedanken durch Stummheit oder geringschätzige Antwortlosigkeit allmählich verstummten oder direkt abgewimmelt wurden. Entweder die überlastete Mutter schnitt Fragen ab mit einem ärgerlichen „Darum“, oder es fielen Sätze wie: „Du fragst vielleicht unsinniges Zeug, da fallen einem ja die Ohren ab!“ Die Eltern selbst stammten aus spracharmen Schichten, und sie gaben nur weiter, was sie selbst als Kinder und Jugendliche erlebt hatten. Die Kinder hatten die Frage- und Denkverbote so sehr verinnerlicht, dass sie sich untereinander ermahnten: „Du weißt doch, dass die Eltern die Fragerei nicht mögen.“ Natürlich brachten Schule und Berufsausbildung der Patientin eine Erweiterung des Sprach- und Denkvermögens, doch viel auch die innere psychische Entfernung von Affekt und Worten voneinander auf. Zu vieles war nicht erklärt und zusammengefügt worden. Allmählich ließen sich verschiedene Phasen der Stummheit und der Denkträgheit unterscheiden, und zwar je nach der „Gefährlichkeit“ der Themen für die Eltern und die weitere Verwandtschaft: Am schwersten zugänglich erwiesen sich die Themen Sexualität, Körperbezogenheit, zwischenmenschliche Gefühle und Erinnerungen an Vorfälle oder Umstände, die mit Demütigungen zusammenhingen. Alles war eingebunden in ein Klima extremer Loyalität, in dem nichts thematisiert werden durfte, was Spuren der Unwillens oder Verstummens bei den Eltern erregte. Die aus einer solchen pietistischen überfrommen Familie stammende Psychotherapeutin und Schriftstellerin Lea Söhner hat in einem anrührenden Roman anhand von zwölf weiblichen Personen und deren „Stammvater“ ein durch mehrere Generationen gezogenen Bericht geschrieben unter dem Titel „Vielleicht im Himmel wieder“.

Erschwerend kommt in solchen Familien oft hinzu, dass neben der Kontrollloyalität für ein oder mehrere Kinder eine Parentifizierung hinzukommt, wenn eine oder mehrere spüren, dass sie selbst mütterliche Funktionen übernehmen müssen, neben der Schonung wegen Schwäche, Überlastung, Krankheit, erhöhter Kränkbarkeit oder Depression usw. mindestens bei einem Elternteil. Zu den zu schonenden Bereichen gehören strenge religiöse oder ideologische Bindung, soziale Isolierung, Kriegs- oder Fluchterfahrungen oder auch Glaubens- oder Überzeugungsinhalte anderer Art. Dann kann die Vermeidung oder die Hemmung beim Denken, Fragen, Fühlen oder Erinnern zwanghaften Charakter annehmen und /oder sich mit Phobien, Katastrophen- oder Strafängsten verbinden. Oft komplizieren sich die bewussten und unbewussten Motive der extremen Zurückhaltung und führen zur erwähnten Entleerung des Ichs. In der beschriebenen Familie des Romans war besonders das Erinnern mit tiefer Schuld verbunden: Die erste Ehefrau des religiösen Führers war von der Familie eisern abgelehnt worden, gerade wegen der stürmischen Liebe des Vaters und ihres als hexenhaft wahrgenommenen Charakters. Selbst der trauernde Ehemann erklärte ihren Namen wie die Person zu einem Tabu, das nicht mehr erwähnt werden sollte. Damit versuchte er die Schuld wie die gemeinsame Erinnerung zu tilgen. Praktisch handelte es sich um eine der Höchststrafen des Römischen Reiches: Damnatio memoriae, also das Verbot der erinnernden Namensnennung, vergleichbar einem seelischen wie politischen Tod.

Diese persönliche Konstellation der Patientin habe ich deshalb genauer beschrieben und abgeleitet, um sie in einem großen gedanklichen Sprung sozialpsychologischen und weltpolitischen Massenphänomenen gegenüber zu stellen. Ein Extrembeispiel ist die von Stalin angeordnete Tabuisierung von Trotzki, die nach dessen Ermordung durch einen terroristischen Sendling Stalins ebenso wahnhafte Züge annahm. Die historische Um-Schreibung des Diktators folgte ebenso zwanghaft eingehaltenen Phasen: vom siegreichen Heerführer, Erbauer und Vollender des Kommunismus, Verbrecher (so die Chruschtschowsche Denunziation zum Verbrecher). Nach Putins diktatorischem Bedürfnis wurde er wieder ewiger Nationalheld usw., bei immer extremer werdender Kontrolle von geschichtlicher Information bis hin zu neuen Denk-, Frage-, Fühl- und Erinnerungsverboten und deren zynischer Revisionen, vor allem aber die jeweils strafbedrohten unterschiedlichen Versionen. Diesen Verboten standen oft die analogen Gebote des ritualisierten Umgangs gegenüber, von begründeter Verehrung bis zu Vergottung. Auf beiden Seiten jedenfalls nichts, was geistiger, seelischer und politischer Freiheit entsprochen hätte.

Einen noch viel bedrohlicheren Fall von universeller Gehirnwäsche stellen die Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten in China vor, die durch die jüngst proklamierte lebenslange Herrschaft des neuen politischen Führers dar mit ungeheuren Vollmachten. Sie krönt die Seelen- und Gedankenkontrolle mindestens seit Maos Kulturrevolution. Mehrere Gruppen von deutschen Psychoanalytikern haben inzwischen versucht, chinesischen Ärzten und Psychologen die Grundlagen der Freudschen Psychoanalyse nahe zu bringen, in Seminaren, Ausbildungen, Supervisionen und praktischen Selbsterfahrungen. Die Bilanz, die eine Forschergruppe aus Frankfurt zieht, ist mehr als ernüchternd. Sämtliche Teilaspekte dieses Textes sind in einem Ausmaß bedroht, der die mutigen Missionierungsversuche an die Grenze der Vergeblichkeit führen könnte. Schon das Buch des körperpsychotherapeutischen Einzelkämpfers Ulrich Sollmann, der über viele seiner Erkundungsreisen und Lehrversuche berichtet, lassen wenig Gutes erhoffen.

(Ulrich Sollmann, Begegnungen im Reich der Mitte. Gießen 2018). Er war überwältigt von dem überwältigenden Interesse, dass einzelne Psychologen, Kliniken und Institute seinen Angeboten entgegenbrachten, aber ihn enttäuschte plötzliche Abbrüche, vor allem aber die Tendenz, nach politisch und ökonomisch brauchbaren Rezepten für rasche kommerzielle Anwendungen zu fahnden und schnelle Joint vVentures zu gründen. Er stieß auf starre Mauern gegen tieferen Verständnisses und auf die Haltung von schneller Machbarkeit der Anwendungen. Zu solider Fortbildungen konnte es, begrenzt auf Reiseaufenthalte, konnte es kaum kommen.

Die Frankfurter Gruppe um Tomas Plänkers, für die er in dem spannen den Buch und Vorträgen berichtete, fand folgende Gründe für die Erschwernisse einer therapeutisch wirksamen Rezeption der Psychoanalyse. Tomas Plänkers (Hrsg.): Chinesische Seelenlandschaften. Die Gegenwart der Kulturrevolution (1966 -1976), Göttingen 2010. Ich nutze im Weiteren Plänkers jüngsten zusammenfassenden Vortrag auf der Oktoberkonferenz des Sigmund-Freud-Instituts zu den psychischen Folgen der Oktoberrevolution 3. -5.5.2017 mit dem Titel „Zu den psychischen Folgen der chinesischen Kulturevolution“.

Plänkers politsch-psychoanalytische Folgerungen für China gleichen verblüffend meinem Bild der Patientin, nur betont er ausdrücklich, dass es sich in seinen Diagnosen um ein ein millionenfaches Massenphänomen handelt, gewonnen aus einer geringen Zahl von strukturierten Interviews mit Angehörigen der ersten und zweiten Generation handelt, die aber als absolut aussagekräftig gelten können. Deshalb vermeidet er aber auch den Ausdruck der „Pathologisierung eines ganzen Volkes“, obwohl der historisch überzeugend die Traumatisierungen der Nation über einen Zeitraum von 100 Jahren rekapituliert.Für die Folgen der Kulturrevolution gilt für ihn: sie „zielte auf die Etablierung der totalitären Herrschaft in der Psyche jedes Gesellschaftsmitgliedes. … insbesondere unter Intellektuellen und Gebildeten.“, als unter den Kultur und damit die Erinnerung tragenden Schichten. Die Methoden bei den bei meiner Patientin vorliegenden unterscheiden sich vor allem durch das Ausmaß brutaler offener und psychischer, auch massenterroristischer Grausamkeit mit Verschwindenlassen, Gefängnis, Straflager, Folter, beginnend mit der ständigen Propagandaüberschwemmung (Gehirnwäsche), dem „regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen Zeugnisse der traditionellen Kultur“ . Nach einer „gewissen kritischen Auseinandersetzung“ nach dem Tod Maos „Wurde dem „mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Frieden 1989 ein blutiges Ende gesetzt. Seitdem gibt es in China keine öffentliche Auseinandersetzung mehr über dieser Zeit“ Was die Mitscherlichs die „Entrealisierung“ der NS-Zeit wie des Holocaust nannten, vollzieht sich mit staatlich organisierter Gewalt in China. Sie musste schon angesichts der jahrhundertealten kulturellen Hörigkeitstradition mitangstbesetzter Wirkung viel tiefer eindringen als die Folgen der NS-Zeit. Plänkers benutzt den Ausdruck „Mentizid“, also die die Zerstörung des Geistes in fast globaler Form. In der Traumatherapie in Europa ist inzwischen von Seelenmord für das gleiche Phänomen die Rede.

Die so schwer therapeutisch zugänglichen Ereignisse der Traumatisierung dringen vor aller Verdrängung in kaum wieder belebbare Tiefenerinnerung ein und sind deshalb auch kaum zu mentalisieren. Mentalisieren bedeutet die sprachliche und theoretische Durchdringung unfassbarer seelischer Ereignisse. Dennoch hochkochende traumatische Einzelerinnerungsteile und körperlich getriggerte Schmerzen verbleiben damit auf der Körperebene und führen zu extremer vitaler Schwächung und Kränklichkeit, verbunden mit Panikanfällen.Zur Schwächung aller Widerstandsfähigkeit hört die ausgefeilte Methodik der Beschämung, die der Bereitschaft zur Therapie strikt entgegenarbeitet in einer beginnenden Übertragung, soweit sie aus Angst nicht vermieden wird. An diesem Punkt sind hunderttausende von verbalen Psychotherapien und Analysen gescheitert oder sind stagnierend unabschließbar geblieben, zum Leidwesen der Patienten wie der Fortentwicklung der Psychoanalyse zu einem integrierten Instrument. Die Scheu vor traumatischen Störungen hatte auch dazu geführt, dass die Traumen der Nachkriegszeit für Jahrzehnte kaum behandelt wurden. Ähnliches droht den Millionen von Spätschäden massenhaft traumatisierter Menschen, wie sie zu Hunderttausenden in China und Indochina und mit Sicherheit der Menschen, geflohen oder zurückgeblieben aus den Kriegen im Irak und in Syrien. Das Ausmaß der seelischen Verletzungen ist heute in der entsetzlichen Summe noch gar nicht abzusehen. Auch sie werden intergenerativ fortgepflanzt und den Kindern eingepflanzt überleben und noch ganze Generationen heimsuchen. Erst langsam kommt die Wissenschaft zu dieser kollektiven Weitergabe der Verletzungen in Gang, weil eine geordnete und validierbare Forschung aus politischen und sozialen Gründen noch gar nicht möglich war. Hier werden wir noch jahrelang auf mutige Einzelforschungen angewiesen sein, ganz abgesehen davor, dass es an geschulten Kräften fehlt und die internationalen Hilfsgelder vorwiegend in den Wiederaufbau der zerstörten Städte fließen werden.

Meine persönlichen therapeutischen Folgerungen: Angesichts des kaum noch Widerstand zu nennenden Fehlens von symbolisierten Inhalten muss auch angesichts der schwierigen analytischen Behandlungsversuchen im Lauf der Zeit vermehrt auf die Ebene Körpererinnerungen zurückgegriffen werden. Das bedeutet, dass die Analyse lernen muss an der Traumatherapie und ihren inzwischen vielfältig zugänglich werdenden Varianten. Das explosive Interesse daran, auf das Sollmann stieß, zeugt von einem fast noch unbewussten Interesse sozialtherapeutischer Kreise in China an psychotherapeutischen Neugier auf neue Verfahren. Es wurde allerdings von vielen Chinesen getrübt von der Gier nach rasche praktische psychologische und damit auch industrieller Verwertbarkeit in der Millionenbevölkerung, die sich längst dem Aufbau- und Bereicherungstaumel überlässt. Totales Gedanken- und Frageverbot sind aber nicht auf China begrenzt. Es ist eine weltweite Behinderung von freiem Denken und erst recht von freier Äußerung zu beobachten, gelegentlich noch umrankt von halbdemokratischer Behinderung der Meinungsfreiheit, von drohenden Verboten und diffamierender Verdächtigung von Andersedenkenden bis hin zu Strafen von Verhaftung, Behinderung, Einschränkung der Lebensmöglichkeit, Verhaftung, Anklagen und einer Fülle von Strafen und Entzugsformen bürgerlicher Menschenrecht, wie heute in Ungarn und Polen, in der Türkei und östlicheren Nachfolgestaaten der Sowjetunion. „Weichere Formen“ der Behinderung von Denken, Fragen und Fühlen finden sich auch in formell ganz demokratischen Staaten wie den USA, und zwar in geistige Freiheit massiv einschränkender Art durch mangelnde Bildung, nationalistischer Massengesinnung, Schüren von Ängsten und der Forderung nach akklamatorischer Zustimmung und Schlichtwahrnehmung von einseitig in Besitz genommener Meinungsbildung durch teilweise längst organisierter Propaganda. Vereinfacht ließe sich sagen, dass freier Zugang zu Meinungsbildung und persönlicher ungefährdeter seelischer und intellektueller Reifung nur noch einem Drittel der Menschheit halbwegs zugänglich sind.In anderen Staaten sind sie behindert durch Armut und gelenkte Presse sowie abgeschaltete privat nutzbarer Medien.Wo der Regierung zustimmende Massen sich mit den verfügbaren Informationen oder Desinformationen, Lügen und Verschleierungen zufrieden geben, herrscht weitgehenden politische Ruhe. Wo sich Teile der Gesellschaft nicht zufrieden geben, herrscht Unruhe oder Apathie, revolutionäre Stimmung gemischt mit Angst oder Bürgerkriegsdrohung, oder abwartende Resignation mit dem gefährlichen Versuch, über fremde und zum Teil verbotene Kanäle Informationen zu bekommen, bis die jeweilige Quelle schon wieder verstummt.Einige exemplarische Strafen genügen, um die Einschüchterung wieder zu vertiefen. Ausreiseverbote vertiefen das Gefühl, politischer und intellektueller Gefangenschaft.

Die einschüchternde Kontrolle der öffentlichen Meinung ist in China fast total. Die führt dazu, dass sowohl öffentlich wie im privaten Raum sich Zonen des Schweigens ständig erweitern oder das ängstliche Tuscheln hinter der hohlen Hand oder die Flucht in averbale Zeichengebung zur Verständigung die allgemeine Einschüchterung verstärken. Es gibt aber auch die nicht so drastischen Kaskaden des Informationsmangels und der Resignation im Denken.

Die bosnische Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja .Mijatvic schrieb am 24. April 2018 in einem Kommentare zur „Pressefreiheit unter Druck in der Süddeutschen Zeitung“: „Die brutalen Morde an den Enthüllungsjournalisten Daphne Caruna Galizia und Jan Kuciak erinnern auf tragische Weise daran, dass Europa ein gefährlicher Ort für Journalisten bleibt. … Seit 1992 wurden mehr als 150 Journalisten auf unserem Kontinent ermordet. Und im Jahr 2017 insgesamt 220 Journalisten inhaftiert.“ Auch damit kommen auf mehreren Ebenen schleichende, noch undramatisch erscheinende Zerstörungskatastrophen in Gang, weil die Verschweigepraktiken sich ausweiten aus Angst … „weil viele Journalisten sich einer Selbstzensur unterwerfen, um Probleme zu vermeiden.“.Noch herrscht in Europa heftige Kritik an der einschüchternden Zensur in den erwähnten Staaten ideologischer Tyrannei, aber die Zerstörung des Denkens und Erinnerns könnte könnte auch hier um sich greifen. Tröstlich ist, dass die Gegenkräfte wie die der investigative Journalisten sich grenzübergreifend etablieren.

Schluss: Nordkorea mit Kim Jong Un und seinem eingeschlossenen Zoo der bisher totalen Einsperrung und Abtrennung von der Welt: Isolierung von aller Information außer der für uns lächerlich wirkenden Eigenpropaganda, Gehirnwäsche, Terror, Angst, Dauerdrohung mit Atomschlag, extremen Feindbildern zu internen Disziplinierung, unüberbietbarem Personenkult. Er übertrifft China in Allem bei Weiten. Die inneren wie äußeren Schäden, politisch wie in den Seelen, werden wohl Jahrzehnte zur Milderung brauchen. An Psychotherapie für die Millionen ist kaum zu denken.

Meine etwas traurige weltpolitische Gesamtbilanz zum Thema: Das universale Herrscherpotential ist deprimierend, und Trumps Motto „America first“ könnte für alle derzeitigen Diktatoren, Halbdiktatoren und Halbdemokraten Gelten. Der nationale Egoiismus zeigt auf allen Seiten mehr oder minder brutale Züge. Was vollkommen zu fehlen scheint ist eine solidarische Sorge um das das friedliche, auf Entfaltung des seelischen, geistigen und gerechten materiellen Wohls ihre Völker. Der Rivalitätskampf um Vormacht, Verteilung der irdischen Güter, Drohvermögen und Einschüchterung bindet die politischen Grundkräfte der Völker im Übermaß. Die sogenannte Wertegemeinschaft Europas bröckelt, Solidarität ist zwar noch Devise, aber es drohen ideologische Kämpfe und ein Zerfall der Solidarität und der programmatischen Einheit. Viele Staaten scheinen nicht mehr interessiert an freiheitlicher Bildung und Wohlstand für alle, im Gegenteil, das Ideal einer gerechten, ausbalancierten Gesellschaft weicht einem Kampf aller gegen alle, unter dem bedrückenden Schirm einer lokalen oder internationalen Wirtschafts- und Kriegsdrohung, mit der die wichtigsten Nationen fast spielerisch umgehen. Es gibt keine Ziel für eine gemeinschaftliche Entwicklung der Menschheit. Selbst die Religionen scheinen in manchen Gegenden auf das Niveau einer kämpferischen Rivalität herabgesunken. Kontrollierende Herrschaft nach Innen und Außen über wiegt den Massenbetrieb an internationalen Konferenzen proklamiert friedlichen Wettbwerbs. Bismarcks Ziel der Rolle eines ehrliche Maklers scheint in weite Ferne gerückt. Wer wird Weltführer im Wettbewerb des Handels, der Wirtschaft, der politischen wie der geistigen Dominanz, aber auch von Forschung und wissenschaftlichem Entwicklungstempo. Die Völker und ihr menschliches Potential erscheinen als Verfügungsmasse Ihrer Herrscher im Kampf um plebiszitäre Zustimmung für narzisstisch extrem bedürftige Potentaten, die die Welt unter sich aufteilen wollen. In ihr führen sie ohne viel Rücksichten auf das sogenannte Volkswohl ihre Stellvertreterkriege.

Gibt es ein Fazit?

Je nach individueller seelischer und intellektueller Tagesform erscheint mir der Weltzustand bedrückend oder schwankend hoffnungsvoll, abhängig von der Angst oder dem Hochmut, dem Verantwortungsgefühl oder der Verantwortungslosigkeit aller beteiligten Mächte um deren Rang. Er ist ablesbar an der mehr oder minder erzwungenen inneren Zustimmung oder dem äußeren Drohpotential. Ablesbar aber auch an dem in weiten Teilen der Welt gezielt sinkenden intellektuellen Bildungsstand, während der technische und wirtschaftliche Bildungsstand auch in den diktatorisch beherrschten Nationen gezielt gefördert wird und entsprechend steigt.Nur die Börsen suggerieren noch, derzeit ohne aktuelle Untergangsszenarien, den vorläufigen Fortbestand der extrem ungerechten Weltgesellschaft. Die Freiheit der Presse ist vielfach bedroht. Auch das sinkende oder bereits tiefe Niveau der Medien, die die wenig gebildeten Bevölkerungsteile erreichen, ist erschreckend. Das Projekt Aufklärung bleibt im Westen auf die verwöhnte Bildungsschicht beschränkt, aber auch dort steigt der Druck gegen die Aufklärung durch Nationalismus, Angstmache und die Produktion von Feindbildern.In den Wahlkämpfe ist es längst üblich geworden, dass Scharen von Wahlkämpfern von Haus zu Haus eilen, um ein paar Menschen zu jeweils erwünschten Wahlverhalten zu ermuntern. Es könnte eine Utopie sein, dass Gebildete, also Menschen mit einem gewissen geistigen und politischen Durchblick, sich in ihrer Umgebung verantwortlich fühlen, Wissen und Informationsbedürfnis sozusagen in Graswurzel-Aufklärung zu verbreiten. Wenn man das Werbungs- und Missionspotential bedenkt, das Kirchen, Sekten, radikale politische Gruppierungen aufbringen, im Großen wie im Alltag, dann wir einem klar, dass wir Einzelnen auch vor Ort die Aufgabe haben, Aufklärung zu verbreiten; auch gegen die Widerstände der Dummheit, der Konformität und der lähmenden Angst vor Einsicht. Ich danke Ihnen.

Mein kleines Hausrezept besteht darin, Freunde und solche die es werden könnten, aufmerksam zu machen auf Veranstaltungen, in die ich selbst gehen möchte, aufmerksam zu machen und sie zum Mitgehen einzuladen. Eine persönliche Einladung mit einem anschließenden Bier oder Wein überwindet manche Trägheit und verführt zum Diskutieren, in einem intimen privaten Stammtisch, der den normalen Stammtisch um einige Lichtpunkte erleuchten kann.

Eine wichtige aktuelle Ergänzung:

Die beiden atomaren Raufbolde und Trump und Kim Jong Un spiele erneut verrückt in der Sprache autoritärer Drohgebärden: Trump droht, den kleinen Diktator finanziell und politische zu Boden zudrücken, der bremst natürlich den Abbau seine Rüstungsprogramms und geht natürlich wieder auf Gegendrohung auf Augenhöhe, beide kläffen wie wild gewordene Kampfhunde.

Zurück zum Schicksal des weltweiten Projekts Aufklärung. Es besteht fast nur noch, mit polnischen und ungarischen Abstrichen, in den Ländern der europäischen Union und in Teilen der USA, erreicht aber dort kaum noch die riesigen Regionen der der Ungebildeten wie Evangelikalen, also der Leugner der biologischen Evolutionstheorien, mit anderen Worten der Kreationisten, die dem lieben oder bösen Gott eine Schöpfungsdauer von 6000 Jahre genehmigen. Und bei Trump besteht die Verschwörungstheorie, dass in der T i e f e des amerikanischen Volkes finstere Mächte ihr Unwesen treiben,um das Land in den Abgrund zu reißen. Er will die Nation mithilfe der rechten Presse und rechter think tanks darüber aufklären, dass äußerste Gefahr besteht. Ursprünglichen amerikanische Grundwerte von Demokratie, Liberalismus und Freiheit gefährdeten sein Programm „America first“. Wir würden das hierzulande als Gegenaufklärung deuten. Was Nordkorea angeht: Die Bevölkerung war seit Jahrzehnte für die Diktatoren eine ausgebeutete indokrinierte Masse für Propaganda, Gehirnwäsche und Zerstörung selbstständigen Denkens und Verhinderung von freier Information. Die fast kindische Illusion, die zwei atomaren Revolverhelden würden die Konflikte rasch ausräumen, platzt gerade. Aber wie würde es den verarmten nordkoreanischen Massen ergehen? Wie würden im Informationskäfig bleiben, dem großen kontrollierenden Führer ausgeliefert. Denn sie dürfen die Weltläufe nur aus dessen Propagandamaschinerie wahrnehmen. Freiheit des Denkens, des Fühlens und der Erinnerung blieben tabu, damit sie, frei gelassen, nicht das grausame Regime zerstören. In allen großen, längst nur scheindemokratischen Diktaturen besteht nicht das geringste Interessen am Projekt Aufklärung. Im Gegenteil, die Angst davor wird geschürt, die Anhänger werden verspotten oder verhaftet, die sogenannten westlichen Werte erscheinen als zu bekämpfende Abweichung, eine historische Missgeburt, und sie müssen als lächerlich und bedrohlich entlarvt werden. Trump belügt sein Volk mit dem Versprechen der Fürsorge und des sozialen Aufstiegs, er meint aber die Reichen. Die östlichen Diktatoren führen das Wort Volkswohl nur noch betrügerisch im Mund und halten sich durch ein System der Propaganda und der Korruption an der Macht. Sie haben angesichts der extremen ökonomischen und politischen Dauerrivalität der Staaten und Blöcke gar nicht die Zeit, über das Wohl des Volkes in Wohlstand und Freiheit nachzudenken. Es herrscht die künstlich spannende politische Dauerunruhe, die Regierenden fliegen und flitzen aufgeregt durch die Welt und suchen nach beruhigenden Worten und Kongressen, aber die Zerstörung von Denken, Fühlen und Erinnern schreitet fort. Kompetente Führung innerhalb der Staatengemeinschaft, gar für die Staatengemeinschaft selbst fehlt. Die Führungen der größten Blöcken halten, wie bereits Trump und andere, inzwischen den für eine fiktive, ja gefährlich lähmende Täuschung und rechnen zunehmend nur noch mit Kategorien der Macht, in der Verträge hinfällig oder beliebig kündbar erscheinen. So weit mein derzeit düsteres Bild der Welt, und ich bin froh über jeden Hoffnungsschimmer und dankbar für jede Formen der Ablenkung.