Tilmann Moser

Interview Tilmann Moser in Badische Zeitung

Aufbrüche und Abbrüche im Alter

„Was, du willst noch eine Therapie machen? In deinem Alter? Mit kopfschüttelndem Erstaunen muss rechnen, wer spät noch aufbricht, neue Wege zu sich selbst zu finden. Dabei gehören Aufbrüche – wie Abbrüche – zum Leben dazu: In der Elternfamilie, in Ausbildung und Beruf, beim Wechsel der Wohnorte, in Partnerschaften und mit Kindern, in der körperlichen Entwicklung, in Gesundheit und Krankheit – bis ins hohe Alter. Das gilt auch für innere Wandlungen.“ Tilmann Moser, 78, Psychoanalytiker und Körpertherapeut, arbeitet sogar besonders gerne mit älteren Menschen. Darüber sprach mit ihm Mechthild Blum.

BZ: Herr Moser, mal ganz vorweg: Die Ausbildungsrichtlinien vieler psychoanalytischer Fachgesellschaften orientierten sich lange an der Altersgrenze von 40 Jahren. Die Deutsche Psychonalytische Vereinigung hat das erst vor Kurzem geändert . . .

Tilmann Moser: . . . Da sprechen wir fast über eine Antiquität. Inzwischen zahlen sogar die Krankenkassen für 86-Jährige. Ich selbst habe einen Mann dieses Alters in Therapie.

BZ: Offenbar traute man früher über 40-jährigen keine Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeiten mehr zu?

Moser: Da tut sich noch erstaunlich viel. Das ist entspricht nicht nur dem Stand neuester Forschung auf diesem Gebiet, sondern auch meiner Erfahrung. Es lohnt sich sehr wohl. Ich arbeite mit Älteren sogar mit wachsender Neugier und Dankbarkeit darüber, was ich mit ihnen zusammen erleben kann.

BZ: Mit welchen Problemen kommen gerade ältere Menschen zu Ihnen? Spielen vielleicht noch Kriegserlebnisse eine wichtige Rolle? Oder ein falsches Leben gelebt, Chancen nicht ergriffen zu haben?

Moser: Das ist ganz verschieden. Die einen belasten familiäre Situtionen, die vielleicht schon lange zurückliegen, auch aus NS-Zeit und Krieg. Die anderen erleben aktuelle Konflikte mit Partnern, Freunden oder sich selbst: Dass sie zum Beispiel noch unerfüllte Wünsche für die Zukunft haben, sie aber partout nicht mehr umsetzen können. Allein Gespräche über eine magere Lebensbilanz können da schon eine große Entlastung sein, Bitterkeiten mildern und Trost spenden.

BZ: Spielen Depressionen dabei eine Rolle?

Moser: Sehr häufig spielen "Bilanzdepressionen" eine Rolle. Sie gehen einher mit Schlafstörungen, dem Gefühl, es habe keinen Sinn mehr, morgens aufzustehen. Da ist es sehr wichtig, zu einer Würdigung des Erreichten zu gelangen.

BZ: Was ist mit Ängsten?

Moser: Wenn es um Ängste geht, sind die meistens sehr konkret: die Angst vor drohenden Krankheiten etwa, dem Sterben und was es für die Verwandten und Hinterbliebenen bedeutet, die man alleine zurück lässt. Manchmal tauchen auch wieder alte Kindheits-Ängste auf. Mein fragt sich habe ich alles richtig gemacht in meinem Leben, werde ich meinem Partner noch gerecht. Und dann geht es zum Beispiel um die Frage: "Was übersehe ich, an was erinnere ich mich gar nicht mehr."

BZ: Geht es auch um den Körper?

Moser: Ja natürlich! Vor allem, wenn man sich nochmal aufmachen oder hoffen will, einen neuen Partner, eine Partnerin zu suchen. Und das kommt nicht selten vor. Da ist die Unsicherheit, die Angst enorm, wenn ein solcher Mensch sich fragt: "Was habe ich eigentlich zu bieten und bin ich denn überhaupt noch einigermaßen attraktiv für andere?"

BZ: Sie liefern mir ein schönes Stichwort: Kommen auch Beziehungskonflikte zur Sprache?

Moser: Oh ja! Sie glauben gar nicht, wie viele langjährige Partnerschaften durch Schweigen, hilfloses oder bitteres, charakterisiert sind. Die Paare reden viel zu wenig miteinander über das, was sie empfinden. So viel bleibt ungesagt. Manchmal gehe ich in solchen Fällen – mit dem Einverständnis der beiden natürlich – aus einer Einzel- auch zu einer Paartherapie über. Und nicht selten staunen beide über die Bereicherung, die sie durch diese Art des "Gefühlssprachkurses" erleben. Einzelnen ist es auch wichtig, Traumatisches aus ihrer Kindheit und Jugend noch einmal anzuschauen, um endlich ihre Verbitterung, ihre Demütigungen und Ängste hinter sich lassen zu können.

BZ: Verstärken sich im Alter die psychischen Störungen, die auf ungelösten Konflikten und Traumatisierungen aus Kindheit und Biografie beruhen?

Moser: Manche sind frisch wie am ersten Tag, manche auch tief verdrängt. Es fehlen häufig ablenkende Abwechslungen im Alltag, oft auch geeignete Gesprächspartner oder überhaupt jemand zum Reden.

BZ: Was sind die Auslöser dafür?

Moser: In der Hauptsache die zunehmende Zahl der Trennungen von nahe stehenden Menschen, die gestorben sind. Hier kann eine Psychotherapie sehr sinnvoll sein, als Hilf beim Trauern. Auch in Umgang mit den eigenen Krankheiten wie denen der Angehörigen. Ich habe zum Beispiel eine 60-jährige Tochter erlebt, die durch die lange Pflege eines Elternteils seelisch beinahe ruiniert gewesen ist. Das ist erschütternd, auch wenn außerdem noch Schuldgefühl übrig bleibt, doch nicht genug getan zu haben. Ein weiterer Auslöser ist nicht selten das Ausscheiden aus dem Beruf. Auch Erlebnisse im Ersten oder zweiten Weltkrieg tauchen plötzlich wieder auf.

BZ: Wie werden die Ziele und Umfang einer solchen Behandlung festgelegt? Zusammen mit dem Analysanden? Und wer zahlt dafür wieviel?

Moser: Zunächst einmal sprechen wir gemeinsam über das, was erreicht werden kann oder soll. Dann einigen wir uns auf eine bestimmte Stundenzahl zwischen 20 und 50 Stunden. Die Krankenkassen stimmen einer Übernahme der Kosten bei guter Begründung zu, allerdings die gesetzlichen bei mir seit ich 68bin, nicht mehr. Private schon, notfalls auch länger. Haben sie doch die Erfahrung gemacht, dass eine Verbesserung des psychischen Zustandes eines Menschen sich auch gesundheitlich ausgesprochen positiv auswirkt.

BZ: Ist auch Sexualität im Alter noch ein Thema?

Moser: Sexualität kann ein Tabu sein, mit viel Scham und Peinlichkeit behaftet.

Für Ältere ist es oft aufwühlend, ernsthaft über die eigene körperliche Liebe zu sprechen, auch über ihre Fantasien und Wunschfantasien. Da muss man sich vorsichtig herantasten, wenn man es für nötig hält. Das kann funktionieren. Aber man muss die Grenzen respektieren, die sind aber erstaunlich fließend, auch was eine späte Aktivität angeht..

BZ: Kann man eine Analyse in höherem Alter auch als Aufbruch in neue Welten begreifen?

Moser: Oh ja. Es gibt so viel erzwungenen Lebensverzicht. Eine Analyse kann zur Befreiung selbst auferlegter wie familiärer Fesseln führen. Eine meiner 70-jährigen Klientinnen konnte so ein kreatives Leben mit erstaunlichen künstlerischen Entwicklungen beginnen. Wer sich aufmacht, einen neuen Zugang zu seinem Innenleben zu suchen, überschreitet die Schwelle zu einer für sie oder ihn neuen Welt.

BZ: Verändern sich im psychoanalytischen Prozess möglicherweise auch Verwirrtheit, Schwindel und Vergesslichkeit? Rückzüge aus der Realität und Desorientierung werden ja meist als Symptome einer Demenz gedeutet.

Moser: Wenn sie Symptome mangelnder Autonomie sind, unbedingt. Abwehr und innere Blockaden können nämlich auch dazu dienen, mit bestimmen Realitäten nicht konfrontiert sein zu wollen. Mit psychotherapeutischer Hilfe, die sich hier vorsichtig herantastet, können diese Symtome zumindest gemildert, wenn nicht gar ganz zum Verschwinden gebracht werden, wenn sie nicht organischer Natur sind.

BZ: Gelingt es mit einer Psychotherapie älteren Menschen besser, Unabhängigkeit und Identität zu wahren? Und vielleicht Abhängigkeiten von Verwandten oder anderen Hilfspersonen anzunehmen? Welche Voraussetzungen sind dafür nötig?

Moser: Mut, Konflikte anzusprechen, von denen bisher in diesen Zusammenhängen nie die Rede war, Mut, Sprechtabus aufzulösen. Das gelingt am besten im Rollenspiel mit imaginierten Stellvertreterpersonen auf dem sgenannten leeren Stuhl, die während einer Therapiesitzung direkt angsprochen werden können. Ich arbeite viel mit Gestalttherapie.

BZ: Kann es durch eine Therapie leichter werden, sich mit der eigenen Sterblichkeit abzufinden und sich auf den Tod einzustellen?

Moser: Dazu müssen auch die jeweiligen Therapeutinnen und Therapeuten selbst bereit sein. Ich mache die Erfahrung, dass vieledie Menschen froh sind, wenn über den Tod gesprochen werden kann. Irving Yalom verlangt es sogar für jede Therapie.

BZ: Sie selbst sind jetzt 76 Jahre alt und arbeiten noch immer als Psychoanalytiker: Wird Ihnen das nicht zuviel?

Moser: Im Gegenteil. ich mache das immer lieber, natürlich mit weniger Wochenstunden, und genieße meine Erfahrung auf vielen Gebieten, freue mich, dass ich mich keinem Leistungdruck mehr ausgesetzt fühle und sich meine Neugier auf Menschen erhalten hat. Das ist meines Erachtens der eigentliche "Jungbrunnen".