Tilmann Moser

Kündigungsbriefe als Hilfe bei seelischen Trennungen

Art und Intensität von bewussten und unbewussten Bindungen an die Eltern unserer Patienten, aber auch an andere wichtige Personen, können unendliche Formen und Tiefen haben: Loyalität, Dankbarkeit, Bewunderung, Stolz, Verachtung parentifizierte Verantwortung, Verstrickung, Zorn und Hass, Vorwürfe, Schuldgefühle, Scham, usw. Und all dies kann im Bewusstsein repräsentiert sein, kann aber auch tief im Unbewussten vergraben liegen und trotzdem das Leben weiter prägen, vor allen aber ein Gefühl von Freiheit, Selbständigkeit, Ablösung und gelungene Trennung untergraben. Manche Patienten leiden tief an der Unabgeschlossenheit ihrer Selbständigkeit und Individuation, besonders dann, wenn diese Bindungen selten oder nie durch Gespräche und Konfrontationen besichtigt oder gemildert werden konnten. Undurchdringliche Zonen des Schweigens haben sich ausgebreitet, und oft galt schon das Ansprechen als eine Versündigung an der stillen, aber zwingenden  Vereinbarung von Harmonie in der Familie.

Die Folge kann eine innere Abkehr sein, Entfremdung, latente Bitterkeit, Resignation, Depression, jedenfalls ein Gefühl der Unfreiheit, eine Verflachung der Beziehungen und ein Ende in Fremdheit. Es ist für eine Therapie schon viel gewonnen, wenn ein Patient als Grund seines Kommens angeben kann, es gebe „unerledigte Themen“ in der Familie, und bisher habe es nicht nur an einer Auseinandersetzung gefehlt, sondern auch an einem inneren Umgang mit den Themen, ja, sie seien auch in früheren Therapie nur unzureichend berührt worden, trotz umfangreicher Beschäftigung mit der seelischen Biographie. Wichtige Auskunft ist dabei, dass zwar „darüber“ gesprochen worden sei, dass aber die spannungsreichen und auch als gefährlich erlebten Bindungen nie in eine konturierte Übertragung eingetreten seien. Man könnte den noch unzureichend konturierten Wunsch als den nach einer Befreiungs- oder Ablösungtherapie bezeichnen. Oft ist das Thema liiert mit einem Gefühl des Versagens, weil das einseitige Beschweigen der fortbestehende Verstrickung als Unfähigkeit und Feigheit erlebt wird, was die Empfindung einer kontinuierlichen Niederlage verdoppeln kann.

Manchen Analytikern, die das Ausmaß lebenshemmender Verstrickungen erkennen, sind in der Lage, die „Konfrontationen“, die niemals befreiend stattgefunden haben, zu ermöglichen, ja sogar zu inszenieren durch Anleihen an den Möglichkeiten der Gestalttherapie und des Rollenspiels. Noch ohne das Couchsetting zu verändern, hat es sich für mich und ähnlich fortgebildete Kollegen als hilfreich erweisen, mitten in einer Klagerede des Patienten über lastende Erinnerungen an eine Elternfigur, die sich auch in die gefürchtete Übertragung hineindrängen will – gefürchtet wegen dem drohenden Objektverlust bei starkem begleitendem Hass – ihn anzuregen, sein „Nie-Gesagtes“ auch im Liegen gegenüber einer wichtigen Figur auszudrücken. Mit Ermutigung des Therapeuten kann sich allmählich ein Panorama „unerledigter Bindungen“ zeigen, die seit lange Zeit im Schweigen begraben waren und sind.

Dies ist eine Variante innerhalb des vertrauten Settings, die ein Präsentmachen des Anzusprechenden in der Phantasie nötig macht, am besten mit geschlossenen Augen. Sie kann aber auch mit den Übertragungsbilden zum Aufstehen führen und in eine Szene mit dem „Leeren Stuhl“ übergehen, auf dem ebenso eine herbei fantasierte Person sitzen kann, wie ein diese Person darstellendes Kissen oder manchmal ein „Thron“. Mitsprache wegen Kissenund Stuhl ist erwünscht zu Förderung der Autonomie.

Bei Patienten, die nur das „Sprechen über“, Übertragungen,verbale Empathie und Deutungen aus dem Verstehen oder der Gegenübertragung des Analytikers kennen, brauchen eine gewisse „Lernzeit“, um sich an das Konfrontieren zu gewöhnen und müssen durch mehr oder weniger strenge Ermunterung durch den Therapeuten immer wieder an das noch ungewohnte Setting des direkten Ansprechens zurück geführt werden. Der Widerstand erwächst meist aus der Tatsache, dass die Vorstellung, den „Bindungsgegner“ direkt anzusprechen, zu Scheu, Angst, Schuldgefühl führen kann, sowie zu begleitenden körperlichem Erleben wie Herzklopfen, Schwitzen, Erstarrung, Unruhe, ja gar Panik. All dies können Lockzeichen für das Einsetzen verstärkter Abwehr sein, die zu Verstummen, Ausflüchten, Zögern, Formulierungsschwierigkeiten führen, oder zu der trotzigen Weigerung: „Das mache ich nicht, das kenne ich nicht, und das ist mir zu riskant, das hilf sowieso nicht.“ Es verweist auf die Wiederholung der eingeübten Scheu in der Familie, unliebsame Wahrheiten überhaupt zu formulieren und auszusprechen. Wenn das Prinzip aber verstanden ist und sich bereits einige Male befreiend bewährt hat, dann greifen Patienten oft von sich aus immer wieder zurück auf diese Möglichkeit und kommen sogar in die nächste Stunde mit einem vorläufigen Programm: „Heute will ich mir die und jene Person vornehmen, und wählen nach der Anregung der Therapeuten ein  Gegenüber.“

Die konfrontierenden Begegnungen wirken auch während der Therapiepause stark nach. Hilfreich kann aber auch ein ganz anderer Vorschlag sein: An die betreffende Person/en einen Bilanzbrief zu schreiben, was wiederum eine Reihe von unterschiedlichen Reaktionen hervorrufen wird: „Das kann ich nicht, ich bin zu scheu, das würde sie/ihn  verletzen, da kriege ich jetzt schon Herzklopfen, und soll ich das Gute wie das Böse ausdrücken?“, usw., wobei offen bleiben muss, ob der Brief, soweit er nicht an Tote gerichtet ist, abgeschickt wird oder nur der Gefühlsklärung gilt. Manche wollen wissen: „Ist das nun eine Hausaufgabe?“ Antwort: „Nein, eine Anregung, vielleicht auch in Etappen und mehreren Ansätzen zu verwirklichen.

Die Anregung steht im Raum, und falls sie aus Abwehr nicht gleich vergessen wird, beschäftigt sie die Patienten, sie berichten ab und zu über den Fortgang des Nachdenkens oder Schreibens, und sie finden auch Zugang zu neuen Themen und Einsichten, Sätzen oder auch Variationen des inneren Stimmklangs, mit dem sie dialogisieren oder monologisieren. Wichtig sollte in der noch immer bedrängenden Umklammerung der Gedanke der Kündigung bleiben, die immer wieder ausgesprochen gehört  und die durchaus die Form eines phantasierten Vertrages annehmen kann.