Tilmann Moser

Misstrauen: Berechtigte individuelle oder universelle seelische Erkrankung

Man könnte sich dem Thema von zwei entgegen gesetzten Polen nähern: den frühen guten oder missglückten Bindungsformen in der Familie mit ihren stärkenden oder zum Paranoia neigenden Folgen; oder der Weltpolitik und Weltwirtschaft, in denen Vertrauen zum Teil mit einer solchen Drastik und üblen Folgen hintertrieben wird. Das Problem ist herauszufinden, ob in der frühen Kindheit und Jugend eine Prädisposition und Neigung zu Misstrauen erzeugt wird, das sich fast lückenlos in spätere Erfahrungen einfügt und sie verstärkt, oder ob die Welt- und Gesellschaftspolitik vielen Menschen so korrupt und bedrohlich erscheinen, dass ein Teil von ihnen sich weigert, noch Kinder in diese Welt zu setzen, oder nur zum Nichtwähler wird, sich in Verbitterung zurückzieht oder Kontrollzwänge gegenüber jedem täglichen Einkauf entwickelt oder sich auf allen Lebenswegen abgehört fühlt. Prädisposition und reale oder halb reale Fakten überlappen sich, und es entsteht ein Klima, in dem Vertrauen auf allen Ebenen als infantil, uninformiert oder von Gestern gilt.

Fangen wir bei der psychischen Anfälligkeit an, die sich vielleicht angesichts von Stammes- und Religionskriegen, Armut, Verfolgung, Diktaturen, Revolutionen, globaler Spionage usw. auch auf der familiären Ebene bereits weltweit vertieft, begünstigt durch Bindungsverluste in festen sozialen Strukturen, extreme Mobilität und Migration mit dem Zwang zur nachbarlichen, institutionellen und nationalen Neuorientierung unter oft feindseligen Umständen. Wenn die Kriminalstatistik einzelne Wohnquartiere vor gehäuften Einbrüchen warnt; wenn ein Gerücht über die unsichere Zahlungsunfähigkeit der Hausbank streut oder wieder ein Vergiftungs- oder Lebensmittelskandal durch die Medien geistert oder erhöhte Arbeitslosigkeit droht oder schon existiert, dann hat das enorme Wirkungen auf das familiäre Klima und schafft veränderte Formen der Zuverlässigkeit oder traumatisierende Umgangsformen untereinander. Familienkrisen als Vorformen von Trennung und Scheidung, die sich lange hinziehen können, zerstören Aufrichtigkeit und Vertrauen, Lügen oder Verheimlichungen gewinnen die Oberhand, oder der Zwang für die Kinder zum Parteiergreifen unterhöhlt die Orientierung über Glaubhaftigkeit und Zuverlässigkeit. Der Boden des personalen wie durch Verallgemeinerung des Weltvertrauens wankt oder schwindet, und was der Missbrauchsskandal im Vertrauen der Gläubigen in die Kirche bewirkt hat, scheint statistisch noch kaum erfassbar, alle sind auf Vermutungen angewiesen oder auf die resignierten oder erbitterten Austrittszahlen. Und unsere Großbanken wollen Zuflucht nehmen zu so genannten „Kampagnen der Wiedergewinnung von Vertrauen“ oder einer „Neuen Kultur“, wo sich das Misstrauen in ihre Gierkultur vielleicht für Jahre und Jahrzehnte längst festgesetzt hat und durch immer neue Ermittlungen und Skandale laufend genährt wird.

In der Schule gefährden Diebstähle, Mobbing, Betrugsdelikte und die Preisgabe intimer Fotos die Atmosphäre ganzer Klassen, in der Wissenschaft die Forschungsbetrügereien und die Geheimhaltungsstrategien der Konzerne u.a. das Klima. Die Fortschritte des investigativen Journalismus sind erstaunlich, ebenso die Wirkung einer wachsenden Verfolgungsintensität der Strafbehörden gegen den Vertrauen zerstörenden fast universellen Betrug. Gegen die Presse gibt es bereits den Vorwurf auflagenträchtiger Skandalisierung vieler verdächtiger Ereignisse, mit negativen Folgen für Grundvertrauen auf allen Ebenen. Latent kann man in manchen Schichten und Bevölkerungsgruppen von einer paranoiden Grundstimmung sprechen, sie war einer der Gründe für die Explosion von Pegida.

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“, ist einerseits eine Uraltweisheit für alle sozialen Interaktionen und Verträge, aber angesichts der neuen, nein gar nicht mehr neuen „Unübersichtlichkeit“ (Habermas) gewinnt sie an Bedeutung und kann zum Zwang werden, bis in die Intimität von Familien. In der Politik ersetzen inzwischen weltweit allen Verhandlungen vorgeschaltete „vertrauensbildende Maßnahmen“ das wirksame Handeln und sprechen für die Tiefe des obwaltenden Misstrauens in Motive und Handlungsweisen der Mächte wie der Parteien und Institutionen.

Misstrauen kann, obwohl eine Erbschaft von zersetzten Verhältnisse von Familie bis Weltpolitik, angemessen sein, aber auch zerstörerische Folgen haben. Tückisch ist: es wirkt seinerseits zurück auf die ursprünglichen Verhältnisse, sodass oft ein Teufelskreis entsteht: Misstrauen schafft weiteres Misstrauen, Verdächtigungen, Kränkungen, Demütigungen, ja jene Urzweifel und die Resignation, ob sich die Verstrickungen je wieder auflösen lassen. Und es brauchte bei ähnlichen Erneuerungen von politischen Krisen oft Persönlichkeiten, die sich auf intimerer Ebene und in gelassener seelischer Verfassung daran machen konnten, dem führenden Repräsentanten der anderen Nationen oder des anderen Bündnisses wieder zu trauen. Dabei spielen auch sehr private, zum Teil unbewusste Vorgänge eine Rolle, die mit sensitiven Körperwahrnehmungen und atmosphärischen Schwingungen zusammen hängen. Sie sind vermutlich ihrerseits rückgekoppelt mit früheren biographischen Erfahrungen, die Selbstvertrauen wie Vertrauen in Andere auch in komplexen und bedrohlichen Ausgangslagen zumindest ermöglichen. Es gilt also durchaus zu unterscheiden zwischen kollektiven oder institutionellen oder internationalen Misstrauensszenarien, die auf Gruppenkonferenzen oder Friedenskongressen geregelt werden sollen, bei denen das Paranoide sozusagen „endemisch“ geworden ist, von Einzelbegegnungen, die in einer ganz anderen Atmosphäre stattfinden.

Gezüchtetes Misstrauen

Misstrauen kann auf allen Ebenen zwischen Familie und Weltpolitik zu einer Waffe werden, die gezielt eingesetzt wird, um Vertrauen zu untergraben. In zerstörerischen Familienkrisen untergräbt ein Elternteil die Anhänglichkeit eines oder der Kinder zum Partner, sei es verbal, sei es durch mimische Zeichen oder Gesten. Das kommt einer subtilen oder offenen Verleumdung gleich, bildet eine Verschwörung zur Parteinahme, dient der Unterstützung des einen Partners in einem latenten oder offenen Kampf um Einfluss, Beistand oder Macht. Das kann sowohl bewusst wie als bewusste Strategie erfolgen, will Koalitionen erzeugen oder festigen, beruht meist auf borderline-artigen Charakterstrukturen oder zielt auf eine Zerstörung der Beziehung, bei der eine distanzierte Abgrenzung oder reale Trennung nicht gewagt oder aus Ichschwäche oder formalen Gründen nicht gewagt wird. Es kann zu einer gar nicht auf Beendigung oder Lösung angelegten Dauerverstrickung kommen, die sogar der familiären Loyalitätsbindung dienen soll. Um die Loyalität und Bündnistreue zu festigen, gibt es ein ganzes Arsenal von „misstrauensbildenden Maßnahmen“, in der Partner sich reichen Vorrat zu verschaffen versuchen und situative Vorteile erstreben, um den Kampf zu verschärfen oder zu stabilisieren.

In instabil gewordenen Partnerschaftsbeziehungen ist das Abstreiten von Seitensprüngen oder längeren Nebenbeziehungen ein sprichwörtliches Vergehen, wird vom anderen Partner lange „nicht bemerkt“ oder verleugnet, oder empört oder giftig oder streitbar nachgewiesen oder behauptet. Die Beziehung wird untergraben oder zum Arbeitsfeld von Anwälten oder Paartherapeuten. Die Folge ist Resignation, Verbitterung oder Trennung, es sei denn, die „Fehltritte“ werden zu einem Neubeginn auf vertrauensvoller Ebene. Aber das setzt längere Seelenarbeit voraus und die üblichen, durchaus sinnvollen „vertrauensbildenden Maßnahmen“, die das dünn gewordene Eis wieder zum Tragen bringen können.

Auf allen Ebenen erzeugen geheime Parallelverhandlungen mit anderen Partnern den gleichen Effekt, was wiederum die Spionagetätigkeit intensiviert oder teure Detektive beschäftigt. Alle Parteien versuchen ein multidimensionales Sensorium für Betrug zu entwickeln. Die Steigerung des öffentlichen Misstrauens war das diffamierende Wort der Pegida-Bewegung von der „Lügenpresse“. Es spaltete aber auf der psychologischen Ebene ganze Familien, in denen fanatisierte unvereinbare Grundhaltungen plötzlich aufeinander stießen, die ein vertrauensvolles Miteinander zerstörten.

Gibt es ein allgemein gültiges Mittel gegen das Überwuchern von seelischem Misstrauen? Vertrauenskrisen in der Familie sind eine starke Herausforderung. Entweder sie bedrohen langfristig den Familienfrieden, oder sie sind Ausgangspunkt für eine neue Vertrauensordnung, wenn über die Ursachen offen gesprochen werden kann. Einzel-, Paar- und Familientherapie könnte man als die Kunst bezeichnen, vermiedene oder gescheiterte Gespräche wieder in Gang zu bringen, sodass Gefühle ohne Angst vor raschem Missbrauch, Häme und Entwertung wieder gezeigt werden können.

Wichtig ist es, zuerst einmal den entstandenen Groll wie das Misstrauen zu würdigen: beides sind Größen, deren Dauer und Wucht zunächst schwer abzusehen sind. Der Therapeut muss es aushalten, dass die zerstrittenen Partner erst einmal klagen und anklagen, ja hasserfüllt „schmutzige Wäsche waschen“ wollen. Für mich hat es sich bewährt, den Berg des Grolls zwischen ihnen aufzustellen, durchaus so hoch, dass sie sich kaum noch sehen können. Das gibt einen ersten Überblick über das Maß der zu leistenden späteren Versöhnungsarbeit. Hilfreich ist die Frage, was bisher ungesagt blieb, aber auch, was die verletzendste Kränkung war. Man muss das Leid würdigen, das sich beide angetan haben, und vielleicht die Frage, wie viel und welches Gute vielleicht geblieben ist, auf dem aufzubauen wäre. Manchmal kann man erreichen, dass der Eine oder Andere sagen kann: Es tut mir Leid, jetzt verstehe ich, wie sehr Dich dies oder das verletzt hat.

Von Bedeutung ist, Beginn und Ausmaß des Misstrauens zu ergründen, um einen Begriff von der Dauer des Zerwürfnisses zu erhalten. „Wer kann wem nicht mehr, und wie lange nicht mehr, in die Augen schauen. Die Blicke sind wichtige Kommunikationskanäle für Aufrichtigkeit und ein Ende der Verstellung. An jeder Stelle des Gesprächs kann erneut Groll, ja Geschrei ausbrechen, wenn eine alte Wunde neu berührt wurde. Therapeutisches Moralisieren ist grundverkehrt, auch wenn die giftigen Äußerungen den Moderator erschrecken und ganz gegen dessen zivilisierte Gepflogenheiten gehen. Er muss sich vielleicht gegen eine Wut und Abscheu wappnen. Auch dann vorsichtiges Lob am Platze sein kann, wenn dann wieder ein Brücke des Verstehens und Verzeihens gangbar wird. Falsch wären Versprechungen, dass vorübergehende Besserungen eines neu aufbrechenden Vertrauens gleich dauerhaft sein müssen. Rückfälle dürfen nicht beschämend sein, weder für die Partner noch durch den Therapeuten. Die Wiederherstellung der Achtung muss im Vordergrund stehen, um so mehr, wenn sich neben der Wut Verachtung, ja moralischer Ekel ausgebreitet hatte. Je nach Therapieform sind Rituale der Wiederannäherung und des Verzeihens denkbar, und es kann den Beteiligten überlassen bleiben, wie sie einzelne Schritte oder gar das positive Endergebnis feiern wollen. Trotzdem sind manche Patienten dankbar, wenn man ihre Seelenarbeit würdigt, indem man betont: Feiern könnte wichtig sein.