Tilmann Moser

Notwendigkeit und Grenzen von Nähe in der analytischen Traumatherapie.

Der analytische Körpertherapeut darf und muss sehr viel leibliche Nähe eingehen, um stark verdrängte Konflikte und Defekte im Patienten zu erreichen. Traumatische Körpererinnerungen können sehr tief und unbewusst gespeichert und dem nur verbalen Zugriffe unzugänglich sein. Durch Berührung werden sie erneut angetriggert, gerade wenn sie nie das Stadium bewusster und verbalisierbarer Erinnerungen erreicht haben. Meist sind es Erinnerungen an bedrohliche Interaktionen mit frühen Personen, die sich mit großer Nähe vollzogen haben und den Kern der Selbstentwicklung angestoßen haben. Aber ebenso tief können sich überwältigende Erlebnisse von Gewalt und Entbehrung eingegraben haben, die sich oft nur durch sogenannte Flashbacks bemerkbar machen, also durch bedrohliche Wiederholungen von traumatischen Erlebnissen, die als unerinnerbares Leid in Seele und Körper einbrechen. Nur im Schutz leiblichen Haltes sind sie überhaupt auszuhalten und zu verstehen. Bei diesem Halt geht der Therapeut das Risiko großer Nähe ein, er sollte aus seinem Mutter- oder Vaterkörper heraus handeln können, weil er sich berührend den eingelagerten Schrecken nähern muss und darf.

Diese große Nähe bedeutet für klassisch arbeitende Analytiker ein Schreckbild, und sie ist weitgehend tabuisiert worden durch die wohlbekannten Gefährdungen der eigenen Sexualisierung wie der des Patienten. Aber Sexualisierung und Manipulation sind nicht die einzigen Gefahren. Sie können noch viel tiefer in der frühen Kindheit des Therapeuten drohen. Psychoanalytiker haben häufig ihren Beruf gewählt, weil sie selbst Probleme haben mit seelischer wie körperlicher Nähe, man nennt sie leicht geringschätzig schizoide Charaktere. Die Vorstellung, eine körperliche Beziehung zu ihren Patienten einzugehen wirkt bedrohlich, zumal neben der Sexualisierung noch eine andere Verlockung droht: der Sog zu einer nachholenden Verschmelzung, wenn in der Beziehung zur Mutter eine nährende Nähe gefehlt hat. Das Baby und Kleinkind darf und soll mit dem Körper der Mutter verschmelzen dürfen, um nach ausreichender Versorgung sich auch wieder zu lösen und zu einem eigenen konturierten Selbst zu finden.

In meinen Seminaren zur analytischen Körpertherapie waren Kollegen erstaunt und dankbar über die Wirkung manchmal auch heftiger körperlicher Interaktion und den Erkenntnisgewinn bezüglich der wachsenden Introspektion in ihre eigene Beziehungsgeschichte mit ihren unbewussten Folgen der Angst vor Nähe, die ihr ganzes soziales Leben behindern kann. Der Analytiker braucht viel Selbsterfahrung und Fortbildung, um sich an das aktive Berühren und sich berühren lassen heran zu wagen. Viele spürten die Ermutigung und machten Versuche mit dem an sich selbst Erlebten. Doch es stellte sich heraus, dass sie zum normalen Setting hinter der Couch zurückkehrten, weil sie sich durch die ungewohnte Nähe verunsichert oder bedroht fühlten. Es kam zu einem Durcheinander der Begegnungsebenen des inneren Kindes und der Anziehung der eigenen erwachsenen Person. Der Grad der notwendigen Regression in dieser neuen Behandlungsform und das Wissen um seine Grenzen geht verloren, und es kommt zu einer Verstrickung durch die Unklarheit der biographischen Ebenen.

Was kann zu einem heilsamen Gebrauch des eigenen Körpers als therapeutisches Instrument führen? Zentral wichtig ist die Vertrautheit mit seinen Reaktionen auch in großer Nähe. Hilfreich ist natürlich das Geschenk einer frühen körperlichen Nähe zu Eltern und Geschwistern. Später hilfreich sind interaktive Sportarten wie Tanzen, Ringen, Yoga, Massagen, und natürlich eine unbefangen erprobende Sexualität, in der die verschiedenen Formen von Intimität erfahren werden können, vor allem aber die Unterscheidung zwischen erotischer Lust und zärtlicher Intimität, bei der auch das verletzte Kind zu seinem Recht kommen darf.

Zur Einführung in das Problem möchte ich Ihnen eine einmalige einstündige Begegnung vorstellen, die im Kern alle Themen des Vortrags enthält, mit dem Titel:

Der Preis einer Verstoßung aus der Therapie

Eine mir unbekannte, offensichtlich ältere Dame fragt an, ob ich sie für eine einzige Stunde empfangen könne, es gehe nur um ein wichtiges Kennenlernen, nicht um Therapie. Sie verschob das Terminangebot einige Male, weil es nicht zu ihrer etwas umständlichen eineinhalbstündigen Reise aus dem mittleren Schwarzwald passte. Als sie endlich an einem heißen Tag und nach halbstündigem Weg vom Bahnhof kommt, scheint sie erhitzt und ist dankbar überrascht, als ich ihr ein Glas gekühltes Wasser anbiete. Sie setzt sich in den mir gegenüberstehenden Sessel und schweigt, auch als ich nachfrage, und verneint, ob sie erst mal befangen sei. Nein, sagt sie, aber so geht das nicht, und fragt zu meine Überraschung: „Darf ich Sie berühren?“ Die Stimmung ist ob des Überfalls ein wenig beklommen, und auf meine Rückfrage, was das bedeute, sagt sie sehr bestimmt: „Das erkläre ich Ihnen später.“ Eine Verneinung wäre, das spüre ich, eine bedrohliche Abweisung. Da steht sie schon auf, kommt auf mich zu und streckt mir beide offenen Hände entgegen. Spontan greife ich zu, sie scheint erleichtert, hält meine Hände gut einen Minute wortlos fest, bis ich sage: „Gibt es jetzt eine Erklärung?“ Darauf sie, zuerst noch befremdlicher: „Können wir die Plätze tauschen? Ich: „Würde das uns beim Sprechen helfen?“ Sie: „Nein, aber es ist dringend.“ Da in manchen Therapien in seltenen Fällen ein solcher Platzwechsel eine wichtige Bedeutung haben kann, ist mir die Frage vertraut: Manchmal möchte ein Patient dringend erkunden, wie ich mich auf meinem Sessel ihm oder ihr gegenüber fühle und wie ich sie „drüben“ erlebe; ob die Asymmetrie einen tieferen Sinn hat und ob in der Sitzordnung etwas Demütigendes besteht. Sie staunt fast erschrocken, als ich ihren Wunsch erfülle und greift dann noch inniger und etwas länger nach meinen Händen, wobei es unklar bleibt, ob sie eher mich oder ich sie berühre. Jetzt verwandelt sich die Atmosphäre in etwas Feierliches, mir fallen Berührungen der Gestalt Jesu ein, aktive wie passive, und alles Befremdende verschwindet. Sie erscheint wie am Ende einer langen Wallfahrt zu mir. Als wir uns wieder umgesetzt haben, beginnt eine lange Klageerzählung zu strömen. „Ich stamme von einem Bauernhof, es wurde dort weder gefühlt noch geredet, ich bin mir selbst fremd ins Leben gegangen, die Schule war eine Erlösung.“ Weiter gerafft: „Trotzdem mittlere Reife geschafft, als Hilfssekretärin viele Jahre voll gearbeitet, geheiratet, zwei Kinder nebenher großgezogen, weil mein Mann wenig verdient und getrunken hat. Die Scheidung wurde von mir eingereicht, mit viel Schuldgefühl, als hätte ich versagt beim Versuch, ihn retten. Als er weg war, fiel ich in eine tiefe Depression, aber wenigsten hörte das gegenseitige Anschreien auf. Doch ich konnte das Schreien nicht mehr lassen, ich war so verletzt und kränkbar, und irgendwann riet mir jemand zu einer Therapie. Ich fand einen sympathisch erscheinenden jüngeren Mann. Er hat mir sehr geholfen, mich zu entdecken und zu beruhigen, ich fühlte mich gesehen und geborgen, fast drei Jahre, bis zum Augenblick der Katastrophe: Ich merkte, dass ich mich in ihn verliebt hatte und musste ihm das natürlich gestehen, ich war bestürzt und mir fremd, doch es drängte mich in Angst zu einem Bekenntnis und ich rief ihn an. Da war ich schon fast drei Jahre bei ihm einstündig gewesen. Nach meinem Satz am Telefon kam von ihm der knappe Satz: ‚Dann müssen wir natürlich sofort aufhören! Leben Sie wohl!‘ Ich war wie vom Donner gerührt, fassungslos, und stürzte für lange Jahre ab. Ich war mehrfach in der Psychiatrie, schrie auch dort gelegentlich und legte mich mit den verständnislosen Psychiatern an, die mir schwere Medikamente aufdrängten. Ich kotzte herum, stritt mit ihnen, schrie sie an, ein Pfleger musste mich festschnallen, so lag ich bewegungslos fest, eine Lockerung der Gurte wurde verweigert nach nur oberflächlicher Prüfung. Ich durfte nicht aufs Klo, musste einfach alles loslassen, sie können sich meine Scham vorstellen. Als ich dann doch aufstehen durfte, floh ich mit dem Schrei: ‚Ihr seht mich nie wieder!‘ Mein Leben schien zerstört, ich wagte mich nicht zurück in den Beruf. Jetzt betreue ich ab und zu Flüchtlinge und lernschwierige Nachbarskinder, lebe mit einer minimalen Rente und lerne Bescheidenheit, bin aber stabil und erstaunt, wie viele kleine Freuden es noch gibt. Ich habe eine Regiokarte, wandere viel, gönne mir einmal im Monat Kino und höre oft Musik.“

Ich fahnde nach Spuren der früheren psychotischen Episoden, finde keine einzige, staune über die glaubhafte Gelassenheit, die Klarheit und Schärfe ihres Berichts und das offensichtliche späte zufriedene Dasein. Jetzt endlich darf ich nach ihrer Lebensgeschichte fragen: „Ich war Älteste von sieben Geschwistern, erinnere mich an keine Zärtlichkeit, ja nicht mal an eine Berührung durch meine überforderte und sicher auch depressive Mutter.“ Das Wort Berührung klingt aus ihrem Mund so verzweifelt wie ergriffen, sie wischt sich ein paar Tränen beiseite. Ich frage sie, was ihr Besuch jetzt bedeute. Sie sagt: „Ich bin zufrieden, wie erlöst, ich habe ja manches von Ihnen gelesen, gehofft, dass Sie mich einmal berühren und nicht abweisen, und da Sie es getan haben, kann ich gehen.“ Ich sage, wir hätten noch Zeit, ob es eine Fortsetzung brauche, mit einmal Berühren zufrieden zu gehen, komme mir wie Zauberei vor. Sie denke auch nicht an Therapie, sie trage das Geschehene wie einen Schatz mit sich.

Dass das Verstoßungserlebnis aber einen großen Teil ihres Lebens zerstört zu haben scheine, will ihr ich noch erklären: dass die abrupte Trennung vermutlich ein tiefes Trauma gewesen sei, doch sie sagt: „Ich konnte ihm nie böse sein, nur sehr weh hat es getan, es war ein Schicksalsschlag, für den er nichts konnte. Alles ist verziehen.“ Zum Abschied sagte ich ihr: „Heute würde man mit einer Verliebtheit in der Therapie anders umgehen, es wie ein Zeichen wiederkehrender Lebendigkeit ansprechen und auf die Altersstufen der Gefühle in der Regression hinweisen.“

Freud, das ewige Vorbild

Sie alle kennen das Berührungsverbot in der Psychoanalyse. Sie soll eine reine Sprachkur sein und ist für nicht traumatische Neurosen eine mit inzwischen vielen Verfeinerungen und Modifikationen höchst bewährte Form der Behandlung. Sie muss sich allerdings mit einer sehr reduzierten Wahrnehmungsform durch den Analytiker begnügen und ist um o mehr auf Intuition, Erfahrung, theoretisches Wissen, Rekonstruktion, Einfühlung und Deutungsintelligenz sowie auf einen je eigenen reflektierten Therapieplan angewiesen. Freuds Diktum nach seinem Rückzug hinter die Couch ist bekannt: Er könne es nicht ertragen, den ganzen Tag angestarrt zu werden. Seine Gründe und die seiner Nachfolge haben sich jedoch erweitert: Die meditative Konzentration auf das Gehörte; die Sicherheit des Abstands für beide Partner, die Erleichterung der Introspektion, eine teilweise Verringerung der Scham und die geringe Möglichkeit des Patienten, durch visuelle Beobachtung des Therapeuten abgelenkt zu werden oder die inneren Vorgänge im Gesicht des Analytikers beobachtend oder kontrollierend zu studieren. Die relative Anonymität des „Hintercouchlers“ öffnet klarer die Bahn zu den hochkommenden Übertragungen und ermöglicht dem Analytiker eine ungestörte Erkundung seiner Gegenübertragung, die dem Patienten wieder zugutekommt, gleichgültig wie direkt oder verarbeitet sie dem Prozess eingespeist wird. Außerdem lässt sich Nähe und Distanz leichter regulieren, je nachdem, wie viel Neutralität oder warmherzige Zuwendung der Analytiker mit seiner Stimme zu spüren gibt oder schon beim kurzen Moment der Begrüßung durchscheinen lässt. Auch der Patient wird zur Sicherheit beider von allzu spontanen Aktionen abgehalten, soll selbst nicht berühren, wie stark die Sehnsucht auch werden mag. Er darf sich höchstens, falls er es wagt, durch einen raschen Blick zurück von der Gegenwart des Partners überzeugen, falls ihn in der Übertragung Angst vor der Leere oder Verlassenheit überkommt.

Ein weiteres Beispiel

Es spricht gerade das Beispiel der Dringlichkeit, ja der Unausweichlichkeit der Berührung an, wenn bei starker Traumatisierung Worte und formulierbare Konflikte nicht ausreichen und averbale oder präverbale Zustände kommuniziert werden sollen oder wollen. Ich zitiere aus einem umfangreichen Fallbeispiel, das in meinem neuen Buch „Psychotherapie an der Sprachgrenze“ in voller Länge abgedruckt ist mit dem Titel: „Der verlockende und bindende Augenausdruck. Das Drama einer Liebessucht“. Es lässt das oft Ruckhafte, Unerwartete und extrem Spontane des Prozesses erkennen, ebenso den ständigen Wechsel in den Alters- und Sprachebenen. Das erfordert für den Analytiker Mut, Selbsterfahrung und Training, am besten durch eine wenn auch begrenzte Weiterbildung in Körpertherapie oder eine Zusammenarbeit mit vertrauten Kollegen in der Intervision.

Neben der Hand als neuer Königsweg zu tiefen Konflikte und Defekten sind es die Augen, die einen zentralen Weg ins tiefe Zentrum der auch verwaisten, erstarrten oder traumatisierten Seele führen. Es war der Erfinder der Gestalttherapie, Fritz Perls, die einen wichtigen Zweig seiner Methoden als Augenarbeit bezeichnete. Nicht umsonst spricht man auch alltagssprachlich von toten, leuchtenden, brennenden, finsteren, zornigen, vernichtend blickenden, oder innig verschmelzenden Augen. Zwischen Mutter und Kind spielt sich über die langen Jahre der Selbstwerdung ein faszinierender Dialog des Blickkontakte und der Verständigung ab, der auch durchaus Phasen der schmerzlichen Blickverweigerung enthalten kann. Die Fallgeschichte erzählt von einer tragischen Bindung an den Blick des Vaters, der deshalb so bedeutungsvoll und bannend wurde, weil es keinen liebevollen Blick von der Mutter gab, für die das einzige Kind zu ihrem fortwährenden Entsetzen das falsche Geschlecht hatte. Die Geburt eines Sohne hätte für sie eine Erlösung aus einer finsteren Jugend bedeutet. Auch der Vater verfluchte während der ersten zwei Jahre das unglückliche Geschöpf, weil er sich im bereits höheren Alter dringend einen Nachfolger für sein blühendes Maschinengeschäft ersehnt hatte. Erst im Alter gegen drei erblühte das Kind in verzweifelter Werbung zu einem blond gelockten Glückbringertöchterchen, das er verwöhnte und Stolz herumzeigte. Der neue und verwirrend bindende väterliche Blick wurde zum frühen Ursprung einer tragischen Liebessehnsucht ohne jede Erlösung.

Ihr Freund, der mit Urgewalt in eine nur noch freundschaftlich bestehende Ehe einbrach, war ein von Größenphantasien gequälter, in seiner Ehe gescheiterter Hagestolz, der sich jahrelang einsam auf allen Weltmehren und Kontinenten herumtrieb und wie Wagners „Fliegender Holländer“ sich nach einer rettenden Erlöserin sehnte. Sie trafen auf einer Gruppenreise nach Patagonien zusammen und blieben für Jahre auf tragische Weise verstrickt. So wie sie als bezauberndes „Vaterbräutchen“ dem Vater gegenüber hörig geblieben war, bis sie sich endlich im Zorn zum Studium entwinden konnte. Ebenso hörig fühlte sie sich dem unzuverlässigen Liebhaber gegenüber, der sie nach Belieben demütigend behandelte und sie bei Verabredungen versetzte, denen sie doch immer wieder sehnsüchtig entgegen zitterte. Denn nur in seiner Gegenwart fühlte sie sich, wie schon beim Vater, in dessen Gegenwart wirklich lebendig. Zwischen der Begegnung widmete sie sich ausschweigenden sexuellen Phantasien mit ihm, die sie leer zurückließen.

Sie blieb noch mit über 65 Jahren eine bezaubernde Altersschönheit und war bei ihrem ersten, noch sehr unerfahrenen und noch in Ausbildung befindlichen Analytiker nach wenigen Monaten auf seinem Schoß sitzend gelandet, bei ihrem zweiten, noch in seiner Lehrtherapie befindlich, nach ebenfalls einigen Monaten auch im Bett. Sie hatte Bücher von mir gelesen versprach sich von der Kombination von abstinenter Analyse und zuverlässiger Kultur der Berührung Heilung. Keiner der beiden Therapeuten war bis zum Urtrauma des falschen Geschlechts vorgedrungen, sondern war der Verlockung der werbenden Kinderprinzessin des Vaters – nun in deren erwachsener Form – zum Opfer gefallen.

Sie hatte einige körpertherapeutische Bücher von mir gelesen und suchte nun die Rückerinnerung an die im Körper gespeicherten frühen Gefühle. Dies gelang ihr im Schutz der Geborgenheit auf der Couch an meiner Hand. Sie konnten wahrgenommen werden, als sie sich zu mir drehte und mit ihrer Hand Halt an meinem Knie suchte. Es war eine dramatische Abfolge von disparaten emotionalen Zuständen, die vermittelt durch die starke Regression wieder fühlbar wurden. Mir wurde nach einiger Zeit klar, dass wir zu den traumatischen frühen Blicken der Eltern zurückkehren mussten. Ich bot ihr also eine Wiederholung der Ursituation an und schlage ihr vor, sie liege neugeboren auf der Couch: Es gelingt ihr eine Spontanregression, sie fühlte sich als Baby, mit verschwimmendem Blick in unendlicher Verlorenheit. Aus Scham schlägt sie die Hände über dem Gesicht zusammen. Ich erkläre ihr die archaische Tiefe der frühen hoffnungslosen Bindung an die Mutter, später wohl auch an den Vater, bevor er das Goldkind in ihr entdeckte. Sie liegt, öffnet und schließt wiederholt die Augen, wie um zu prüfen, ob ich noch da bin, wenn sie sich nach innen in ihren namenlosen Schmerz entfernt. Wenig später beginnt in der Beruhigung ihr Gedärm zu gurgeln und sie fragt: „Hören Sie die Entspannung? Ich könnte Stundenlang so liegen.“

Die Bedeutung der Blicke

In den nächsten Stunden gelingt uns in vielen Wiederholungen das Aufblickspiel: Sie verschließt wie erschrocken die Augen im Stadium der alten Angst. Immer an meiner Hand öffnet sie diese wie in großer Gefahr und findet anstatt des frühen Schreckens mein annehmendes, wohlwollend lächelndes Gesicht. Sie kann kaum aufhören mit dem Hin und Her des Schauens und des Verschwindens im Inneren, in dem sich aber das Grauen langsam auflöst und gespannter positiver Erwartung Platz macht. Sie: „Ihr konstanter Blick überstrahlt jetzt die innere Düsterkeit. Ich werde ihn mitnehmen.“ Sie prüft mich später auch mit dem Verführerblick der Dreijährigen und staunt über meine Nicht-Verführbarkeit. Dann wählt sie mehrfach den Blick der verführerischen jüngeren Erwachsenen und jubelt schließlich „Sie halten ja stand! Ich gebe mich geschlagen und danke Ihnen für die sichere Geborgenheit.“ Einige Wochen nach der Heimkehr meldet sie, nach einigen beschämenden Rückfällen, die endgültige und rettende Trennung von ihrem verfolgerischen Freund. Die Blickdialoge waren ergreifend in ihrer nicht mehr gefährlichen Innigkeit.

Das Schwanken zwischen Nähe und Distanz gerät immer wieder zunächst unwillkürlich, nach einer unberechenbaren Blick, aber dann wird es zu einer heilsamen Übung, bei der sich ein Subjekt herausbildet, das Nähe und Entfernung, oder Ferne und Annäherung selbst gestalten kann und Gefühl für Autonomie und Meisterung des Augenkontaktes gewinnt. Grimassen und Variationen der Augenöffnung kommen hinzu: von im Schrecken aufgerissenen Augen bis hin zu spähenden oder misstrauischen Sehschlitzen. Sie probiert die Blickwirkung, das gewollte Drohen wie die eingestandene Sehnsucht oder das lockende Winken mit den Wimpern, oder spaßige Zeichen mit abwechselnd offenem oder geschlossenem Auge.

Auch der Therapeut lernt staunend, wie viel Blickformen er unbewusst gespeichert hatte und kramt zum besseren Verstehen in seinen Erinnerungen über den Wechsel von Nähe und Distanz in seiner Herkunftsfamilie. Er mag sogar nachträglich Trauer empfinden, wenn er während der Übungen merkt, wie karg die frühe Verständigung zwischen Eltern und Kindern oder zwischen den Eltern war, ob aktiv oder passiv „gefunkt“ wurde, oder in welchem Ausmaß der Augenkontakt vage, fragend oder rätselhaft war, ob er Glück verhieß oder Angst bereitete. Denn oft genug hört man auf die Frage, über welche averbalen Machtmittel die Eltern verfügten: „Sie haben uns wortlos mit den Augen gelenkt und kontrolliert, Befehle gegeben oder Zustimmung verweigert oder auch Ermutigung und Zustimmung, ja sogar Begeisterung oder Enttäuschung signalisiert.“ Und in emotional gespaltenen Familien gab es die geheimen Botschaften der befreundeten oder verfeindeten Fraktionen, Zeichen geheimer Zustimmung oder Verneinung, Bündnistreue oder Verschwörung, Angst- oder Glückssignale.

Der Reichtum der Gesten

Neben den Variationen des Blickens zur Bekanntgaben von Graden zwischen Liebe und Hass und deren unzähligen Vermischungen spielen Gesten eine wichtige Rolle. Alle sind meist verbunden oder befrachtet mit bekannten oder geheimen Bedeutungen oder Affekten, und alles wird eingeübt zwischen Mutter oder Vater und Kindern, Freunden oder Geliebten. Das meiste ist auch in der Therapie selektiv zu gebrauchen. Immer geht es um Nähe oder Distanz, anzeigend oder fragend, jedenfalls mit Regulierungsbedeutung für die Art der Beziehung und zur Orientierung für eine unendliche Fülle von Botschaften, bekannte oder fragwürdige oder noch einzuübende. Der Verwirrung ihrer Bedeutung ist außerdem oft Tür und Tor geöffnet.

Berührung als vielfältige Mitteilung, stumm oder von Worten begleitet

Jeder Mensch ist Zeichengeber und Zeichenempfänger, eingebunden in angeborene Fähigkeiten, die einen langen Weg der Übung und Einübung durchlaufen müssen, bevor ein gewisse interpersonale Sicherheit als geteiltes System entsteht, zwischen Aufrichtigkeit, Missverständnis und Täuschungsabsicht. Bei Körpertherapeuten herrschte einige Jahre lang die inzwischen korrigierte Phantasie bis Überzeugung: „Der Körper lügt nicht!“ Heute weiß man es besser, selbst Tiere können lautlich wie gestisch täuschen, erst recht der Mensch. Und dennoch muss bei den vielfältigen therapeutischen Berührungsmöglichkeiten eine gewisse Kultur und Eindeutigkeit erarbeitet werden, die zu Vertrauen, Halt und Geborgenheit führen sollen. Die Summe der von mir gezielt, manchmal aus spontan und unwillkürlich, oder strategisch durchdacht gewählten, habe ich in meinem Buch „Berührung auf der Couch“ gesammelt und interpretiert.

Manchmal werde und wurde ich gefragt, wie ich bei solcher Nähe auch bei enger beruhigender, stützender, Halt und Widerstand gebender Berührung den Anfeindungen des Eros gewachsen sei. Und ich kann die Frager beruhigen: Aus eigener vielfältiger Regression ist mir trotz sehnsüchtigem Berührungstraum über den nahe sitzenden Lehranalytiker das nie ein realer Wunsch gewesen, höchstens in Zeiten der Verzweiflung nach seiner tröstenden Hand. Jeder Übergriff von seiner Seite im orthodox gehandhabten Duo hätte mich erschreckt. Auch wusste ich zu viel von therapeutischen Katastrophen, wenn ein Analytiker sich vergessen hätte und auch nur übergriffig geworden wäre. Ich hätte auch immer zu gut gewusst, dass mein entbehrungsreiches inneres Kind mit im Spiel gewesen wäre, das sich durchaus einmal mit frühem Doktorspiel begnügen konnte. Aber ich habe in dem Aufsatz „Die leere Stimme im leeren Selbst“ den beiderseitigen Schrecken beschrieben, der uns überfiel, als ich mit meiner Hand bei einem Weinkrampf der Patientin eine tröstende Berührung ihres oberen Brustbeins vornahm. Sie darauf scharf: „Wenn Sie zugegriffen hätten, wäre ich sofort gegangen!“ Aber dass zärtliche und gehemmte Phantasien und ebensolche abstinenten Berührungen bei der analytischen Körperanalyse dazugehören, ist für mich und viele inzwischen ähnlich arbeitende Kollegen selbstverständlich.

Ein Wort zum Umgang mit gehemmter Aggression

Jeder Psychotherapeut und Psychoanalytiker hat Patienten, denen man die körperliche und seelische Anspannung, Verhärtung und Erstarrung manchmal schon von weitem Ansehen oder schon beim ersten Händedruck und seinem Absitzen ansehen kann. Bei schweren Fällen spürt man vielleicht selbst ein angespanntes leibliches Unbehagen. Natürlich spricht man das nicht sofort an, aber irgendwann spürt man die Frage auf der Zunge, wenn ein Lebensbericht schon etwas fortgeschritten ist: „Was spüren Sie gerade im Körper?“, oder „Wie gehen Sie allgemein mit Ihrem Körper um?“ Dann können, wenn man Glück hat, schon brauchbare Auskünfte über Anspannung zum Vorschein kommen, oder man hört quasi vorbereitend: „Schon beim Herkommen hatte ich zunehmend Kopfweh, und jetzt wo Sie fragen wird es stärker.“ Selbst wenn von lebhafter oder auch gebremster oder auch aufgegebener Sexualität darf man sich nicht täuschen lasst: Häufig ist in solchen Fälle eine oft schmalspurige oder phantasielose Sexualität der letzte Zufluchtsort der Lebendigkeit.


Dann erkläre ich einiges über körperliche Verspannung, Körperscheu, schmerzhafte Erfahrungen oder Missbrauchserlebnisse und erfrage irgendwann, ob ich ihm oder ihr eine Kraftprobe vorschlagen darf. Viele Varianten habe ich auch hierfür in „Vorsicht Berührung“ beschrieben, und je nach der Intuition über das Distanzbedürfnis schlage ich im Stehen bei der Begegnung ein Aufeinandertreffen von vier geballten Fäusten vor. Schon diese Aktion löst viel aus und spricht schon Bände. Oder: ein wechselseitiges Drücken von mir auf seine oder er gegen meine Schultern, mit der Bitte, auf die fast unwillkürlich gefletschten Zähne zu achten und bei angestachelter Wut auch den heftigen Ehrgeiz zu kämpfen oder die resignative Erlahmung wahr zu nehmen.

Es geht nun um das Thema „Nähe und Distanz“ in der körperlichen Auseinandersetzung, und die kann ebenfalls gewaltige Dimensionen von Intimität, Nähe und Distanz Intimität oder gar einen Fluchtversuch auslösen. Meine Erfahrung, nach dem Erstaunen: Dankbarkeit, dass der „Gegner“ keine Scheu, keine Angst oder keine eigene heftige oder ungebremste Wut an den Tag legt. Manchmal endet der erste oder einer der nächsten Kämpfe in variierenden Formen mit einer spontanen Umarmung durch den Patient, mit der er das Geschenk der unerwarteten Nähe feiern will. Alle Begegnungsformen bieten ebenso viel und vielfältigen Stoff für die sprachliche Rekapitulation und Integration des Erlebens, und der Lohn für beide ist eine vertiefte und tragfähigere Arbeitsbeziehung mit erweitertem Erwartungshorizont für den Erfolg der Therapie.

Ein weiteres spannendes Thema sind

Unbewusste Körpererinnerungen

Der Körper speichert oft viel mehr und genauere Erinnerungen, sowohl für das Baby und das kleine Kind, als die in der Übertragung auch gegen Widerstände abrufbaren, bereits vorsortierten und bewusstseinsfähigen, symbolisierbaren und versprachlichbaren Gedächtnisinhalte. Es gibt auch zu den im Körper gespeicherten, oft tief vergrabenen und beunruhigenden „Niederschlägen“ einen Königsweg durch gezielte Reize, wenn sie sich in Träumen und beunruhigenden leiblichen Empfindung melden. Eine Patientin berichtete, sie erlebe ihren Körper nach drei Jahren Analyse weiter als einen unheimlichen Kontinent von Unruhe, Erschöpfung, Spaltung, mit unberechenbaren Stimmungswechseln und schmerzhaften Überraschungen im Befinden. Sie lebe mit dem Rätsel eines instabilen Identitätsgefühls, trotz hoher erwachsener Kompetenz in einem anspruchsvollen sozialen Beruf. Sie hat geduldig versucht, das Rätsel zu lösen und erreichte durch sich steigernde Selbstbeobachtung und Körperintrospektion einen Überblick über viele über und durch den ganzen Leib wandernden angenehmen und viel eher missliebigen, ja quälenden Empfindungen. Von denen nahm die Patientin zu Recht an, dass es sich um wichtige unentzifferte Botschaften handeln müsse. Wir hatten bereits eine Kultur von Halt gebenden und beruhigenden Berührungen entwickelt, die zu ihrer Erleichterung zu starkem Weinen und Anklagen gegen traumatisierende Eltern geführt hatten. Doch die quälenden Körperbotschaften, die ihre Chancen zu wittern begannen, wurden immer bedrängender.

Körpererinnerungen als Wegweiser zur Seele

Eine knapp vierzigjährige Patientin, Sonderschullehrerin mit pädagogischem Zusatzstudium, kommt wegen Depression, Leeregefühlen und starken Beziehungsproblemen. Sie klagt, dass sie oft ihre eigenen Gefühle nicht erkenne, große Mühe mit der Abgrenzung vom Partner habe, sich aber trotzdem immer wieder nähebedürftig fühle bei hochgradigem Einsamkeitserleben. Den Vater, erfolgreicher Privatgelehrter, empfindet sie als körperlich zugänglich und gelegentlich warmherzig lebhaft, der sie aber aus innigem Körperkontakt abrupt verstößt und brutal absetzt, sodass sie weinend, verständnislos und mit Schuldgefühlen zurück bleibt.

Die Mutter habe, selbst depressiv anfällig und putzwütig, für das vierte Kind kaum noch Zeit und Aufmerksamkeit gehabt, schon gar nicht für das verkümmernde Leid der Tochter, und hat diese quasi dem Vater überlassen, sie vor dessen übertrieben wirkenden Leibkontakt mit den schmerzhaften Abbrüchen aber nicht geschützt. Die Patientin ist, neben einem turbulent narzisstischen Bruder, der sie auch bevormundete und quälte, ein stilles Kind geworden, das aber für die Stimmungen der Mutter zuständig wurde und eine parentifizierte Fürsorge für sie entwickelte. Sie rettete sich in intellektuelle Leistung, obwohl sie in der Grundschule fast versagt hätte. Hilfreich waren ab und zu hochsportliche Unternehmungen mit dem Vater, die ihre Körperwahrnehmungen unregelmäßig hochschnellen ließen, bis sie in diffusen und nicht seelisch entzifferbaren Empfindungen wieder verschwanden.

Über Monate berichtete sie und empfand eine Linderung ihrer Depression – „Sie sind der erste Mann, dem ich vertrauen lerne“ – während eine erste Therapie zwar zum Verstehen ihrer Geschichte und zu weiterer Gedankenarbeit hilfreich war, aber wegen der „Neutralität“ der Therapeutin nicht zu einer engeren Bindung und vor allem nicht zu tiefer Regression führte.

Wie ich es von der Arbeit mit depressiven und verzweifelten Patienten kenne, bot ich ihr, nachdem sie nach längerem Zögern das Liegen auf der Couch akzeptiert hatte und ich mich neben sie setzen durfte, meine Hand an, deren Wärme und Festigkeit sie lange prüfte. Es gelang ihr, Kraft und Ruhe zu tanken und sich von schubartiger Erschöpfung – Teilzeitstelle und 3 Kinder und eine anstrengende Partnerbeziehung – zu erholen. Dann erwachten, mit zunehmender Heftigkeit, Körpergefühle, zum Teil angenehme, zum Teil angstvoll schmerzende, die sie sich nicht deuten konnte. Auf meine Frage, ob ihre intensive, nicht abgewehrte oder gebremste Anspannung nicht auf ihre bedrohlich erscheinende Wut hindeuten könnte, reagierte sie erstaunt, verschämt und erleichtert, so als hätte sie ungeahnt eine wichtige und vielleicht hilfreiche Entdeckung gemacht. Von da an glich unsere Arbeit einer gemeinsamen Forschungsreise zur tiefen Spaltung von Körper und Seele, und die Worte „gemeinsame Forschung“ wurden zum Inbegriff unserer Arbeitsbeziehung.

Spannungen in Nacken und Bauch erwiesen sich als Depots von Wut, die zu äußern sie sich im Elternhaus früh abgewöhnt hatte, um nicht die kümmerlichen Reste von Zuneigung zu verlieren. Nach einem enttäuschend uneinfühlsamen Anruf des Vater ohne jede Nachfrage nach ihrem Befinden konnte sie ihn endlich auf den gestalttherapeutischen „leeren Stuhl“ setzen und ihn angreifen, was sie erst nach wachsendem Zorn zunehmend entlastete und in der Folge ermutigte, den riesigen Keller unbewusster Körpererinnerungen langsam weiter zu öffnen. Neugierig kam sie dann oft in die Stunden mit der Frage: „Was will er mir heute wieder mitteilen?“ Und der teilte sehr viel mit, auch wenn sie seinen Botschaften noch weitgehend ratlos gegenüber stand.

In einer der nächsten Stunde spürt sie intensiv ihre Unterarme. Sie streckt mir jetzt selbständig ihre Hand entgegen, um beruhigenden Halt zu suchen. Es wird in den nächsten immer deutlicher, dass sowohl ihre Sehnsucht wie ihr Widerstand gegen Berührung zunehmen, obwohl sie drängt, mit dieser Berührungserforschung fortzufahren. Wir bilden zunehmend ein Team zur Kartigraphierung ihrer bedeutungsvollen Körperlandschaft. Sie erkennt, dass der Körper diese beiden Trends mit ganz verschiedenen Mitteln ausdrückt. Um es zu erproben, biete ich, neben ihr sitzend, einen leichten Gegendruck gegen beide Seiten ihres mir entgegen gestreckten Unterarms an. Sofort fühlt sie einen warmen Verschmelzungswunsch auf der Innenseite, während sie einen Abwehrimpuls auf der Außenseite spürt. Um seine Stärke auszutesten, biete ich Gegendruck, der sich bei ihr in heftigem Stoßen ausdrückt: „Weg, weg!“. Sie will wütend und ächzend meinen Arm beiseiteschieben, und ich brauche sie gar nicht zu fragen, wem das zornige Stoßen gilt: „Weg, weg! Platz!, möchte ich meinen Vater anschreien, hau‘ ab und fass‘ mich nicht mehr an!“ Der anwachsende Schrei gilt dem Vater, der das Kind immer wieder fröhlich zum Toben verführte und sie dann abrupt absetzte und sie weinend zurück blieb, mit einem unklaren Schuldgefühl und der dunklen Ahnung, dass mit dem Vater etwas nicht stimmte. „Ich habe ihm nie mehr getraut, wenn er mich zu sich ziehen wollte.“

In einer nächsten Stunde erlebt sie beide Unterarme pulsierend warm und in mir wächst die Überzeugung, dass ihre Zuneigung, die aggressive Vitalität wie das kindliche Zärtlichkeitsbedürfnis zunehmen und riskiert werden dürfen. Wir nennen es Tanken. Wenig später kommt: „Die Unterarme pulsieren wie vor Freude“, doch dann: „Meine Hände werden plötzlich kalt, eben waren sie noch lebendig warm.“ Ich deute vorsichtig einen „massiveren Schub von Abwehr“ entgegen dem wachsenden Nähewunsch an, und als ich vermute, das könne der Mutter gelten, stimmt sie erstaunt zu: „Wenn sie wieder sehr depressiv war, wollte sie Körpernähe, aber dann hat mich, ich traue mich kaum es auszusprechen, Ekel erfasst. Dabei hat sie mir neben meinem wachsenden stummen Zorn auch leidgetan. Ja, Mitleid war ein ewiger Teil unserer Beziehung, wegen ihrer offensichtlichen Überforderung.“

Schließlich bin ich ermutigt genug, ein Experiment zu wagen, das den Wunsch nach gleichzeitiger Verschmelzung samt aggressivem Abwehrwunsch kombinieren kann: Ich biete ihr stehend an, mich von hinter zu umklammern, um gleichzeitig Sehnsucht und Wut, also liebevolle Gewaltsamkeit zu empfinden. Sie spürt der Wärme nach, der sie inzwischen vertraut, wagt immer stärker und mit viel Kraft zu drücken und haucht atemlos: „Ich darf ja klammern. Du darfst nicht entkommen.“ Die ganze Sehnsucht nach seiner zärtlichen und weniger kämpferisch ersehnten Nähe bricht aus. Sie berichtet in der nächsten Stunde von einer „wundersamen Wirkung“ der Umklammerung und betont: „Ich habe das stolze Gefühl in meiner täglichen Morgenmeditation mehrfach tröstend wieder hochholen können.“

In einer der nächsten Stunden spürt sie in der rechten Handfläche, die sich an meine schmiegt, ein schmerzhaftes und zugleich angenehmes Prickeln, das sie befremdet. Auf ihre Frage, was das nun wieder melden soll, fällt mir zu meinem Glück eine Erinnerung aus einer anderen Therapie ein mit einer etwa gleichaltrigen Patientin: Der tägliche Postbote bittet die Vierzehnjährige immer wieder, mit seinem Mittelfinger sie in ihrer gewölbten Innenhand kraulen zu dürfen. Sie genießt zunächst das fremdartige Gefühl fast widerwillig, bis ihre Freundin ihr klar macht: „Der will dich doch nur anmachen!“, worauf sie sich gegen den zudringlichen Mann in Zukunft zornig tadelnd wehren kann.

Bei einer solchen Störung, die zu einer Verdrängung oder Abspaltung früher Affekte geführt hat, ja bei der diese überhaupt nicht wahrgenommen werden durften, und die nie den Zustand einer auch nur rudimentären Mentalisierung erfahren haben, darf und muss der analytische Körpertherapeut eine große leibliche und seelische Intimität riskieren. Er muss sich seiner emotionalen und körperlichen Unverführbarkeit sicher sein, bei gleichzeitiger Fähigkeit zum Mitschwingen bei früher Unterdrückung oder Verstümmelung des affektiven Erlebens. Das erfordert Training und einige Selbsterfahrung in körpertherapeutischen Verfahren, um sich seiner eigenen Körperreaktionen sicher zu werden. Der Lohn ist eine sichere Arbeitsbeziehung mit einem vergrößerten Risikoraum für heilende Begegnungen, die dem inneren Kind des Patienten bei klar diagnostizierbarer Regression gewährt wird, die gegen Ende der Stunden wieder aufgehoben werden muss. Es bedarf also einer eigenständigen Methode, gegenüber der rein analytisch erweiterten Abstinenz zum Schutz des Patienten.

In einer weiteren Stunde sagt sie: „Jetzt spüre ich eine gewaltige Spannung im Mittelbauch.“ Doch zu meiner Überraschung kommt, mit zutraulicher Stimme: „Können Sie mal Ihre Hand darauf legen?“ Wärme durchströmt sie, doch dann eine neue Empfindung: „Knapp über Ihrer Hand öffnet sich ein Krater, der mir Angst macht.“ Sie zeigt mir mit der Hand eine Grenze, knapp unterhalb der Brust. Ich sagte: „Ich versuche, die Grenze zu erforschen, darf ich mit meiner Hand höher rücken?“ Sie bejaht. Mein Daumen reicht jetzt fast bis zur Brust. Ich: „Spüren Sie die Grenze zum Krater?“ Sie: „Ja, aber der kalte Krater von Leere und Angst erwärmt sich, er wird weniger unheimlich als mein ständiger Begleiter. Nie habe ich ihn so deutlich gefühlt, eine Leere, in die keine Gefühle mehr eintreten durften. Aber er erwärmt sich, wird ein heißer Vulkan. Etwas explodiert in mir.“ Meine Hand endet wenige Zentimeter unter ihrem Busen.

Plötzlich blitzt eine lange Vermeidung in mir auf: „Über den Busen haben wir überhaupt noch nie gesprochen.“ Sie zuckt etwas zusammen, als hätte ich eine unbekannte Gefahrenzone erwähnt. Sie stimmt verschämt zu und ich frage: „Welche Gefühle melden sich bei der Überraschung bei Ihnen?“: „Ich kenne ihn nicht, er ist mir fremd!“, und dann strömen Erinnerungen: „Er wurde nie beachtet, gesehen. Er war, das merke ich jetzt, von mir und allen verleugnet. Seltsam, ein ganzer Körperteil.“ Wir feiern zusammen eine neue Erkundung der Körperbotschaften.

Nach zwei Jahren beendet sie nach einer langen Ferienpause relativ plötzlich, angeblich zufrieden, die Therapie. Das gewachsene Bedürfnis nach Autonomie wolle sie in eigener Regie erkunden. Sie fühle sich gestärkt und habe den Mut, alleine weiter zu wachsen, während ich gerne noch ein Jahr Zeit gehabt hätte, um noch deutlich Ungelöstes zu bearbeiten.

Dazu zwei Sätze zu meinem Trost: Manche Patienten vermögen sich trotz langer Therapie nicht, sich von ihren Eltern wirklich abzunabeln. Sie fürchten zu sehr die elterliche Kränkung oder schonen sie wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit. Bei einem vorzeitigen Abschied vom Analytiker vertrauen sie eher seinem Verständnis, seiner Toleranz und seiner hoffentlich geringeren Kränkbarkeit. Sie schrieb nachträglich, sie habe mir das einfach zumuten müssen, statt mir zuliebe zu bleiben.

Ein Stück Theorie

Vor fast zwei Jahrzehnten habe ich einen Vortrag vor der deutschen und europäischen Gesellschaft über Körpertherapie gehalten: „Was kann der Analytiker von Ihnen und Sie von der Psychoanalyse lernen?“ Der Beifall war mäßig, der Subtext lautete: Was muten Sie uns zu, und fragen Sie das erst einmal I h r e Kollegen, die wollen von uns sowieso nichts wissen und benehmen sich geringschätzig, und wir finden sie dem Körper und seinem konkreten Reichtum borniert und unserer Erfahrung gegenüber abweisend.

Der tiefe Graben und eine weitgehende Unkenntnis voneinander sind fast unverändert geblieben. Nur wenige Kollegen auf beiden Seiten haben einen neugierigen Blick über die Grenze geworfen oder gar in einseitiger Not heimlich Hilfe oder Selbsterfahrung geholt. Um meine Erweiterung des therapeutischen Settings zu verstehen oder gar einiges davon wenigstens in die orthodoxen Varianten beider Seiten zu integrieren, braucht es für beide nicht nur zwei Wochenende Selbsterfahrung oder einige Probemonate Psychoanalyse, statt arrogante Abgrenzung. Deshalb hier mein Appell, weil ich Vertreter beider Seiten im Saal vermute: Lernt euch kennen, schätzen und gegenseitig benutzen. Die meisten Ärzte verbringen Studien- und weitere Assistenzjahre mit dem Lernen von heilendem und diagnostizierendem Berühren. Als werdende Psychotherapeuten und Analytiker müssen sie es wieder verlernen, und der ganze Kontinent der unbewussten Körpererinnerungen bleibt ihnen verschlossen. Sie nehmen sie in der Übertragung und der reinen Sprachkur mit den unübersehbaren Symptomen zunehmend zur Kenntnis unter dem neuen Modebegriff von Embodiment. Vieles bleibt ihnen aber in den Auswirkungen unheimlich oder nur erschließbar oder die Behandlungen verlängern sich wegen mangelnder Ausbildung in den tiefen Quellen aus Angst nicht abgerufener Information.

Körperpsychotherapie braucht eine ebenso gründliche sichernde Abstinenz wie die klassische Psychoanalyse, aber eine erweitere, doch ebenso tief gehende Formen von Supervision und Intervision. Wer berührt, begibt sich in eine oft wirksamere Nähe als das reine Wort. Aber ohne die Theorie und die Kunst der Psychoanalyse bleibt Körpertherapie leider oft Blindflug mit Übungen, ohne geschulte Analyse der Übertragung.