Tilmann Moser

Verbotene Mündigkeit

Wunschlose Fügsamkeit und seelische Lähmung

Als Psychotherapeut und Psychoanalytiker gerät man gelegentlich an Patienten, eher Patientinnen, die außerordentlich zuvorkommend, höflich, fügsam, zurückhaltend, ja demütig und gar unterwürfig sind. Vielleicht genießt man zunächst die anpassungsbereite Friedlichkeit, das willige oder dankbare Annehmen von Vorschlägen oder Deutungen, und die Rückmeldung, wie hilfreich die Arbeit bereits sei, wenn nicht sogar schon früh Verbesserungen des Befindens gemeldet werden. Ein Stück leicht überzogene rasche Idealisierung des Therapeuten im von vorn herein asymetrischen Setting scheint den Prozess zu fördern, bis sich manchmal eine Spur von Stillstand und Langeweile einschleichen kann.

Sobald sich dieses Verhalten als „Problem“ unvermeidlich aufdrängt, weil das Ziel des Prozesses ja ein anderes, gegenteiliges ist, fängt man an zu fragen, was dieses unterwürfige Verhalten verursacht und geprägt hat. Man stößt beim Nachdenken auf ganz vorläufig erklärende Fantasien: Wie zwingend streng oder auch liebevoll drängend die Erziehung gewesen sein mag, die solche Fügsamkeit belohnt hat und sie allmählich ins kaum noch veränderbare Lebensrepertoire aufnehmen ließ. Bei Nachfragen stößt man auf Sätze wie: „Ich galt immer als braves, folgsames Kind, das sich gut anpassen konnte.“ Und man hört weiter: „Streit zwischen mir und der Mutter oder dem Vater gab es nie, wir waren immer eine harmonische oder harmoniebedürftige Familie, und wenn es mal Unstimmigkeiten, die meistens nur auf Missverständnissen beruhten, so wurden sie schnell wieder beseitigt. Es durfte eigentlich keine Konflikte geben, und spätestens vor dem Zu-Bett-Gehen musste alles wieder befriedet oder beseitigt sein.“

Solche PatientInnen haben früh auf Widerspruch verzichtet und verzichten müssen, sie kennen kaum ein Nein, keine Auflehnung, keinen auch nur wahrnehmbaren Konflikt, und man findet kaum ein deutlich betontes Ich, das Konturen und einen erkennbaren Eigenwillen zeigt. Man reagiert zuletzt irritiert, weil man dieses Ausmaß von Sanftmut und Fügsamkeit schwer für möglich halten will. Als teilnehmender Beobachter spürt man in der eigenen Person Unwillen oder Ärger, den man doch als Lebenszeichen in der Patientin erhofft. Wenn man gar keine Konturen findet, kann das zu stiller Wut führen, und man mag als halbwegs emanzipierter Mensch mit einiger Zivilcourage ohne böse Absicht leicht oder sogar gereizt reagieren, wenn man sozusagen sprachlich oder affektiv in psychische Watte fasst. Stundenverlegungen werden widerspruchslos hingenommen, eigene Verspätungen mit leichter Hand banalisiert, Anfragen nach Veränderungen des Rhythmus oder gar eine dauerhafte Verschiebung der Tageszeit der Therapiestunden auf die höflichste Weise gebilligt. Die fügsame Konturlosigkeit beginnt selbst als eine stille Aggression zu wirken, bis einem einfällt, dass der eigenen Reaktion eine projektive Identifizierung zugrunde liegen könnte, die in einen solchen Satz münden mag: „An meinem leichten Ärger meine ich zu erkennen, wie viel verdeckter Ärger sich in Ihnen gebildet hat, über so viel unausweichliche, duldende, sogar liebevoll erlebte Unterwürfigkeit.“ Dann kann kommen: „So etwas habe ich nie gespürt, aber manchmal nahmen Ungeschicklichkeiten zu, für die es Tadel gab, und das fühlte sich wie drohender Konflikt an, den alle, vor allem die Eltern, schnell beiseite wischten.“

Man fängt an nachzudenken über die Bindungsart des kleinen Kindes, die schwierigen Liebesbedingungen, die zum Brav- und Einfühlsam-Sein führten, zu einem fehlenden Selbstaufbau und klaren Ichgrenzen, zur mangelnden Selbstbetonung und zu unterdrücktem Freiheitswillen. Man nähert sich vorsichtig dem Zweifel, ob die längst bestehende Grundübertragung und Wiederholung in der Therapie ohne Unverständnis oder ohne Befremden des Patienten angesprochen werden kann. Denn es wird ja etwas aufgedeckt, das im tiefsten Grund auch mit Scham überdeckt ist, denn die Beobachtung von aufmüpfigen Mitschülern (oder ganzen Nationen im Bereich der Politik) hat längst dazu geführt, dass das eigene Verhalten nicht selbstverständlich als das eines eben „stillen Kindes“ weg interpretiert wurde. So hat sich schließlich die Familie, falls ihr endlich etwas auffiel an der widerstandslosen Bravheit des Jugendlichen, oder wenn sich Besucher über die Lautlosigkeit des Jugendlichen wunderte, in eine etwas reduzierte Bewertung von „normal still“ gerettet.

Aber ach, zu viel einfühlsamer Untertanengeist, in weibliche Anmut gebettet, kann nicht die ganze Wahrheit sein. Des Therapeuten Aufgabe ist es, verschüttete Vitalitätsspuren aufzufinden, wenn er sie nicht nur in der vorschnellen Altklugheit, in manchmal bitter klingendem Humor und schulischem Ehrgeiz sehen will.

Ein möglicher Zugang läuft über Träume, in denen sich Unheimliches andeutet, wilde Menschen, Stürme, Tiere oder absonderliche Begegnungen mit aggressiven Menschen, vor denen das Kind zuerst zurückschrecken will. Oder man mag den durchaus in stillem Beruf erfolgreichen Patienten nach beobachteten Konflikten am Arbeitsplatz deren Möglichkeit ins Bewusstsein rücken, vielleicht verbunden mit einem Gefühl der Missbilligung oder des moralischen Abscheus vor Streit oder Spannungen.

Und dann wagt man die Frage, ob bei fortgeschrittener Therapie jemals eine Spannung zur Person des Therapeuten aufgetreten sei, die schnell wieder weg beschwichtigt oder beschämt gestanden wird. Ob es einmal einen geheimen Zweifel an seinen Deutungen oder seiner umfassend idealisierten Allwissenheit aufgetreten sei. In irgendeiner unerwarteten Form wird sich etwas heimlich Widerspenstiges zeigen, vorsichtig geleugnet, aber dann vom Therapeuten mit der erstaunten Erklärung beantwortet, dass er oder sie fast ein Wunderkind an Fügsamkeit sei und es der menschlichen Natur im Allgemeinen nicht eigne, diese Unterdrückung aller selbstbewussten Vitalität ungestraft zu dulden. Irgendwann darf man das Fest der ersten Frechheit oder des ersten Widerspruchs oder des ersten unentschuldigten Versäumens der Stunde feiern. Dann kann ein neues Arbeitsbündnis gegründet werden, das die Suche nach der verlorenen Selbstbehauptung und lebensnotwendiges Verfügen über eine lebbare Aggressivität beinhaltet.

Wenn man Spaß dazugeben möchte, fragt man bei fortgeschrittener Forschung nach Wut, Hohn oder Entwertung: ob ihm oder ihr ein Schimpfwort für den Therapeuten einfalle. Dann kann man staunen über das plötzliche Blackout, vielleicht verbunden mit der verwegenen Behauptung: „Ich kenne keine Schimpfwörter oder widerspenstigen Ausdrücke!“ Dann sage ich unterstützend: „Ich kenne eines, das mit A wie Anfang anfängt.“ Erstes wirklich freies Gelächter: „Sie meinen doch wohl nicht A ...“, verlegenes Stammeln, darauf ich: „Doch, genau das!“, dann kommt endlich ein gehauchtes „Arschloch“, und da ich nicht sofort erschrocken oder missbilligend vom Stuhl falle, wird klar, dass keine Endzeitkatastrophe geschehen ist, sondern ein therapeutischer Fortschritt vorsichtiger Auflehnung. Die Fortsetzung der Selbstbehauptung folgt dann geduldig später, wenn auch in vorsichtigerer Sprache – ähnlich in Nationen -, bei denen ein Freiheitswille erwacht, wie etwa im nordafrikanischen Frühling.

„Harmoniebedürftig“ ist als Charakteristik der Ehefrau für viele kritische und durchsetzungsstarke Ehemänner ein Ruhmeswort, mit dem sie die friedfertige Frau in den Himmel heben können. Aber die Kennzeichnung und Selbstkennzeichnung kann auch eine Falle sein: für die Fortsetzung eines falschen Friedens, bei dem die lebendige Selbstbehauptung der Frau auf der Strecke bleiben kann.

Ich habe über meine Erfahrungen mit einer bestimmten Art von Frauen (Patientinnen) geschrieben, die eine Form von stiller Verblühtheit mit in die Praxis bringen, die sie nicht umsonst aufsuchen. Sie wirken zu still, gehemmt oder gelähmt, was zuletzt in eine handfeste Depression mündete, und in einen traurigen Rückblick auf ein Familienleben, in dem sie die notwendige Durchsetzung nicht gelernt oder gewagt haben. Sie wiederzubeleben kann eine langwierige Aufgabe sein, sowohl in Einzelnen wie in autoritären Religionsgemeinschaften oder ganzen Nationen.

Kluft und Nähe zwischen den Wirkungen der Machtmittel

Der Sprung von der verschüchterten Einzelseele mit den psychologischen Bedingungen ihrer „Zurichtung“ in der Familie hin zur Atmosphäre der Einschüchterung und Wehrlosigkeit von Gruppen oder Völkern in Diktaturen scheint verwegen, und doch gibt es Ähnlichkeiten in den seelischen Mechanismen, die diese Zustände hervorrufen oder verlängern. Beide Gruppen leben mit der Angst vor Gewalt, möge sie bewusst sein oder nur noch latent spürbar. Im extrem Privaten der stillen Fügsamkeit kommt die Drohung aus den verinnerlichten Introjekten, die auf Zeichen des Freiheitswillens drohend reagieren. In der Diktatur übernehmen, summarisch gesprochen, die Geheimpolizei und die bereits vollzogenen Strafen die Funktion der Drohung. Innerfamiliär sind die Agenturen der Einschüchterung natürlich körperliche oder psychische Gewalt, nämlich Schläge und Liebesentzug. Ein konkretes Beispiel für die Wirkung des letzteren: Rückzug des am meisten wichtigen Elternteils in Schweigen und Kontaktverweigerung, die als bedrohlicher Zustand der Ungnade erlebt werden und bis zur psychischen Verzweiflung führen können. Auf der Gegenseite wirken Lob und Belohnung durch Anerkennung und Aufmerksamkeit zugleich erfreuend und disziplinierend.

Schwieriger zu erfassen ist die Fülle der Gewaltmittel in der Politik: drakonische Gesetze, vorfabrizierte Verurteilungen, Verhaftungen, Einkerkerung und Hinrichtung. Subtiler oder drastischer: Entzug von Chancen und Teilnahmeberechtigung, Ächtung und Verfolgung, öffentliche Anprangerung oder Auspeitschung. Aber auch hier kann man von Sonderformen des Liebesentzugs sprechen, wenn die drohende Autorität symbolisch personalisiert oder symbolisch erhöht worden ist: Väterchen Stalin, der „große Bruder“, der „Genosse oder große Führer und uns liebende Mao“ oder die über Jahrhunderte erzeugte Aura von ins Übermenschliche oder Göttliche gesteigerte Bedeutung einer real oder übermächtig oder göttlich gedeuteten Autorität von Königen und Kaisern sowie mächtigen religiösen Führern. Sie muss um Milde angefleht werden, damit sie sich nicht zürnend zurückzieht und grollt. Angst und lobende oder materielle Verführung haben jeweils ein analoges domestizierendes Gewicht, eine einschüchternde Wirkung.