Tilmann Moser

Vortrag für den Kongress Heidelberg 17. April 2015

Die emotionale Dimension der Aufklärung - Verantwortung für unsere Gefühle, biographische Anmerkungen
Ihre individuelle und politische Bedeutung

Meine Damen und Herren,
der Ausdruck „biographische Anmerkungen“ erlaubt oder fordert den Beginn des Vortrags bei der eigenen Gefühlsgeschichte. Die beginnt spätesten – von der intrauterinen Entwicklung abgesehen – bei den perinatalen Stunden oder Tagen, die bei mir ein dreitägiges Geburtstrauma hinterließen. Meine Eltern haben nie darüber gesprochen, ich habe die Daten von einer Tante erfahren, im Alter von ca. 25 Jahren: Angstvolle Stationen mit dem geburtshilflich wenig erfahrenen Hausarzt, Verweisung an die nächste Kreisklinik, Weiterverweisung mit Blaulicht und Sirene an die 20 km entfernte größere Klinik. Dort Zangengeburt mit der Aussage des Arztes an die gepeinigte Mutter: s i e könne er retten, das Kind vermutlich nicht.

In den Therapien vor der Lehranalyse spielte das Thema keine Rolle, in dieser wurden Andeutungen von mir nicht aufgenommen. In einer Gruppenausbildung nach Albert Pesso schöpfte ich Mut zu einer sogenannten Regressions-Struktur: die Gruppe bildete mit ihren Körpern einen Geburtskanal, mit der Anweisung, mich leiblich einzuengen und meiner Austreibung entgegen zu arbeiten. Panik und Todesangst waren die unmittelbare Folge. Ich begann einen verzweifelten Kampf der Befreiung, Kopf voraus, gegen den ihre Hände Widerstand leisteten. Nach eigenen Minuten erlöste Befreiung und tiefe Erschöpfung, später mit deutlicher Verbesserung des gesamten Körpergefühl.

Aber bei der ersten Einnahme von damals noch nicht von Nebenwirkungen freien Psychopharmaka wegen Depression tagelanges schmerzhaftes Ringgefühl am Kopf – die galt zwar im Beipackzettel als möglich, es war aber vermutlich ausgelöst durch frühe Körpererinnerungen. In weiteren Gruppenerfahrungen in abgedunkeltem Raum bei einfühlsamer therapeutischer Begleitung kam es zu einer weiteren Milderung der Zustände bis zum Verschwinden der oft einschießenden und nun abklingenden Symptome. Die lange unbewussten frühen Emotionen konnte ich nun in meine Verantwortung übernehmen durch weitere Therapien.

Es war in der Familie nie von den frühen Vorgängen die Rede. Über Gefühle wurde in der Familie nur rudimentär und anhand praktischer Probleme geredet, deshalb erst allmählich deren Entdeckung und Benennung in Gesprächen mit anderen Personen, und durch Gedichte und Romane, das Literaturstudium, Tagebuchschreiben und erste Therapie als Student, dann in der therapeutische Ausbildung durch hilfreiche Supervision bei der ersten eigenen Patienten. Schließlich bei der körpertherapeutischen Fortbildung durch eine wachsende Körpererfahrung und Körperintrospektion, andeutend dokumentiert in dem Analysebericht „Lehrjahre auf der Couch“ und dem Buch„Grammatik der Gefühle“. Hilfreich wurde die zunehmend Faszination beim Schreiben von gründlichen Fallberichten, die als Taschenbüchern erschienen. Nicht zu vergessen eine jahrzehntelange Intervisionsgruppe und ein lange Selbsterfahrungsgruppe mit analytisch orientierten Analytikern und der wechselseitigen inszenierenden Supervision mit anschließender theoretischer Diskussion über den eigenen und unseren therapeutischen Umgang mit Emotionen.

Mit einer späten Scham erinnerte ich mich lange Jahrzehnte danach an ein Versagen bei de Verantwortung für meine Gefühle. Die Ereignisse gehören in die Zeit im katholischen Kindergarten, die ich damals als einziges evangelisches Kind mit einem Fremdheitsgefühl erlebt, das mich heute das Fremdheitsgefühl von Flüchtlingen in feindseliger Umgebung, auch ohne physische Gewaltanwendung, verstehen lässt: Es gab Kliquen untereinander vertrauter Bauernkind, die meine Versuche, bei ihren Spielen mitzumachen, zurückwiesen mit dem vernichtenden Satz: „Mir dir spielen wir nicht, du bist evanglisch!“ Damit hängen wohl meine Diebstähle von Bonbons aus einer streng gehüteten Dose mit Bonbons zuhause zusammen, mit denen ich mir unter den Kindern Sympathien zu erkaufen versuchte. Sie nahen sie zwar gierig hin, schenkten aber keine Anerkennung als Spielgefährte zurück. Das Schlimmste war aber, als das Klauen offenbar wurde, die moralische Fassungslosigkeit meiner Mutter, die mich mit Verachtung strafte. Die Gefühle der Isolierung waren damals das, was der Analytiker Hermann Beland später über einige seiner Patienten „unaushaltbar“ nannte. Ich fand aber keinen Ausweg aus ihnen und schritt zu einer vermeintlich befreienden Tat, die aus entwicklungspsychologischer Sicht bereit ein Notruf war. Ein phantasierter idealer Kindertherapeut, den es vielleicht erst 50 Jahr später wohl gab, hätte versucht, mit welchen Methoden auch immer, sich und mir meine unterdrückten Gefühle zu erklären und mir zu einem verzweifelten Weinen zu verhelfen. Mich mit ihnen an meine Mutter zu wenden, war undenkbar, vielleicht „fühlte“ ich bereits unbewusst, welchen eigenen Schmerz über ihre „Verbannung“ in eine damals noch religiös feindselige Umgebung mein Betteln um emotionales Verständnis ausgelöst hätte. Aber es könnte sein, dass meine Beschämung ein Motiv war, eine aufkeimende Verantwortung für meine Gefühle zu übernehmen. Das zweite Vorfall gehört in die gleiche Zeit: Die fehlende Hoffnung, es könnte mir jemand meine Gefühle erklären und sie damit verarbeiten zu lernen, muss sich neben der Verzweiflung auch in Wut verwandelt haben: Ich häufte Sand auf den Kopf eines Mädchens im Kindergarten, um das ich sogar geworben hatte – wir waren vielleicht bei 3 – 4 Jahre alt, das dann schreiend zur leitenden Nonne lief, die ein ähnliches Entsetzen zeigte wie meine Mutter bei der früheren Diebstalsepisode. Nur war meine Schande über die unverständliche Untat jetzt in der Gruppe öffentlich, und ich wollte in den Boden versinken vor Scham. Ich hatte verantwortungslos gehandelt, quasi kriminell auf einer frühen Stufe. Was ich mir viel später über meine Faszination über jugendliche Strafgefangene bei meiner Arbeit in einer Jugendstrafanstalt aus neurotisch-religiösen Gründen zu erklären versuchte – Vorbild Jesu Umgang mit Asozialen – könnte die zusätzliche unbewusste Verbindung haben zur kindlichen Delinquenz aus seelischer Not. Wenn unser Kongressthema also lautet: „Die emotionale Dimension der Aufklärung“, so ist mir bewusst, dass Ludwig Janus meint, der als intellektuellen Prozess der Reifung verstandene Epoche der Aufklärung müsse angesichts der inzwischen kumulierten und durchdachten Erfahrung mit menschlichen Gefühlen erweitert werden um eine den Emotionen geltende Aufklärung. Der lange einsame Pionier dieser neuen Aufklärung, Freud, bildet einen Ausgangspunkt eine neuen, aber wie zögerlichen Entwicklung. Sie wurde so mächtig ausgebremst durch konservative Gewalt autoritärer weltlicher Macht und den Einfluss der Kirchen. Dennoch lässt Aufklärung auch durch einschlägige Medien und psychologische Zeitschriften hoffen. Wenn man im Extrem die terroristischen Ziele und die verheerenden Kämpfe in der heutigen Welt betrachtet und das Ausmaß die mitmenschliche Gefühlsverrohung des Nationalsozialismus und anderer ideologischer Diktaturen, dann kam man entsetzt sein über den grausamen Mangel an nicht erreichter Verantwortung für Gefühle. Das Tragische ist, dass dies Gefühlsverrohung in den gleichen Gruppen einhergeht mit einem Überschwang an emotionalem Rausch und individueller wie völkischer, rechtfertigender Selbstidealisierung, die gerade den zusammen-schließenden Gefühlsbombast sucht und braucht. Verantwortung für Gefühle müsste also auch Verantwortung für destruktiv werdende Emotionen des politisch missbrauchbaren Überschwangs einschließen, den kollektiven Gefühlsrausch, den Freud angesichts des Zustandes von rerin individueller Verliebtheit als Krankheit bezeichnet hat.


Ich habe selbst viel Therapie gebracht, um meine Gefühle zu spüren, zu erkennen, und, wie man so sagt, „in den Griff zu bekommen“, und die Arbeit bleibt ja, wie wir wissen, lebenslänglich zu leisten. Dabei gab es auch manche vergebliche Versuche, sei es durch mangelnde Kompetenz und Einfühlung der Therapeuten, aber auch durch die phasenweise zögerliche Entwicklung der Behandlungslehre, die sich erst mühsam die frühen Ebenen der Störungen erarbeiten musste. Auch die Psychotherapie und Psychoanalyse haben hier noch eine Bringschuld dadurch, dass sich neue Erkenntnisse nur mühsam durchsetzen durch die Traditionsgebundenheit der Ausbildungsgänge, bei stark und identitätsbildender Haftung an zum Teil überholten Theorien. Der Boom der humanistisch genannten Therapieformen hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie neue Zugangswege zu noch unbekannten oder schwer zugänglichen Gefühlen gefunden haben, sei es durch inszenierende Verfahren oder durch Einbeziehung des Körpers und dessen Gedächtnis der Einschreibungen auch aus präverbalen Phasen der Entwicklung. Es lässt sich also durchaus von einer mindesten eine Generation umfassenden Verzögerung in der Entfaltung neuer Erkenntnis- und Behandlungsinstrumente in den zunächst rein sprachlich orientierten Therapieformen erkennen. Und um jeden neuen Theorie- und Anwendungsschritt toben die bekannten Grabenkämpfe um Beharrung oder Fortschritt.

Leider schließt die konservative Psychoanalyse den Zugang über den Körper, über Inszenierung, Trauma- und Gestalttherapie noch weitgehend aus, mit der Folge: gerade die frühen, stark abgewehrten Gefühle bleiben aus den Behandlungen oft draußen, sie bleibt unerkannt, und also kann gar keine Verantwortung über sie übernommen werden. Sie spielen aber auf vielen Felder eine durchaus mächtige, entweder stille oder auch lärmende Gefühle eine Rolle, z. B. Im Bereich der Religion und deren Missbrauch in Religionskriegen oder dem Terror mit regligiösen oder scheinreligiösen Begründungen. Es geht um Verschmelzung mit sich „auserwählt“ fühlenden Gruppen und Kampfgemeinschaft, für denen Verständnis die freudsche Identifizierung mit einem alle verbindenden, meist männlichen Führer nicht ausreicht Es sind früh psychologische Prozesse zwischen Mutter und Säugling oder Kleinkind, bei denen sich Nähe vor der Selbstwerdung und Subjektkonstitution sich noch darstellt durch fehlende Abgrenzung, Fusions- und Diffusionserlebnissen, orale Abhängigkeit, Symbiose mit schwachen Konturen und einer nur rudimentären Überichbildung, in deren Räume beliebige Glaubensinhalte eingepresst werden können. Anita Eckstaedt gebraucht den Ausdruck „Intropression“ bei wehrloser Abhängigkeit von wichtigen Personen oder Institutionen, die eine Abgrenzung von den Inhalten wie der frühen und lebenswichtigen Abhängigkeit nicht zulassen.

Nicht umsonst wird inzwischen als „Gegengift“ gegen die propagandistische Vergiftung der indoktrinierten Jugendlichen, die zu terroristischen Kämpfern rekrutiert und ausgebildet werden sollen, das Angebot von menschlicher Nähe, neuer, Schutz bietender Gruppenabhängigkeit und Versorgung mit Nahrung und sozialen Chancen sowie neuer Loyalitätserlebnissen. Anders ist besonders bei Rückkehrern aus dem „heiligen Krieg“ und Rekrutierten im ersten Rekrutierungs- und Indokrinationsstadium kaum Erfolg zu erzielen. Eine wichtiges „Resozialisierungsinstrument kann wie bei jugendlichen Delinquenten gestalttherapeutisches Rollenspiel sein, das im Rollenwechsel sich eine noch gar nicht vorhandene Einfühlung fördern kann. Unkenntnis der Emotionen beim Gegner oder beim Opfer und beim eigenen Selbst behindern jedes friedliche Zusammenleben.

Ein außergewöhnlicher Ablauf einer Gestalttherapie-Sitzung eröffnete mir ganz unerwartete Einsichten, sowohl in meine eigenen emotionale Biograpie wie einen fast weltgeschichtlich-politischen Zusammenhang: im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Geburtstrauma tauchte die nie gestellte Frage auf, wie meine Mutter wohl die Vorbereitung auf die Geburt wie deren Ablauf erlebt hatte. Mein Therapeut willigte freundlich in meine Idee ein, mich in einer regressiven Phantasie in der Uterus meiner Mutter zu begeben, um mit ihr emotionalen Kontakt aufzunehmen. Er breitete eine dunkle Decke über mich auf dem Teppich, ich rollte mich zusammen, spürte die Enge und meine eigene Angst, aber dann gelang eine Einfühlung in die ihre. Es war eine Erst- und Hausgeburt, sie freute sich, als professionelle Säuglingspflegerin, auf das Kind, schien mir aber verkrampft und in Panik, und die war mir plötzlich nachfühlbar, weil ihr Körper extrem verspannt war und mich nicht freigeben wollte. Es war eine Konvulsion von Angst, durch mich zerrissen zu werden, und trotzdem konnte ich in einen gestammelten verbalen Kontakt mit ihr treten: "Ich ahne, wie dir zumute ist, und wir scheinen in ein Abenteurer zu gehen, von dem unsicher ist, ob wir es überleben, ob es uns trennt oder eine ungeheure Niederlage bereitet. Deine Stoßgebete wie deine Schreie schienen dir nicht zu helfen, und die gemeinsamen Todesängste und Schmerzen dauerten eine scheinbare Ewigkeit, bis die entsetzlich zerrende Zange uns erschöpft erlöste." Das Ereignis verband uns später auf eine ambivalente, sowohl liebevoll triumphierende wie vermutlich hasserfüllte Atmosphäre, eine innige Beziehung mit Schrecken und übermäßiger, mit Phantasien überlastete Bedeutung. Wir schienen Auserwählte und ich zu einem besonderen Werdegang berufen, den zu ermäßigen und abzuarbeiten viel Therapie erforderte. Aber die später wieder verdrängte Erinnerung führte nach der Wiederholung in der Phantasien eine ungeahnte Versöhnung.

Und nun zur politischen, spät erdachte Bedeutung des höchst intimen Ereignisses:
Mir war es lange ein Rätsel, wie welcher „stolzen Bereitschaft“ islamische Mutter einen ihrer Söhne hergaben für ein terroristisches Selbstmordopfer, und wie diese Bereitschaft vonm Mutter und Sohn auch in der aufgewühlten Verwandtschaft und
in der politisch-religiös aufgewühlten Bevölkerung gefeiert und sogar rituell vorbereitet wurde. Statistisch war an die Geburtserlebnisse unter oft ärmsten, ärztlich unterversorgten Bedingungen zu denken, bei strenger Trennung von beruhigenden Männern, betreut höchstens von halbkundigen Nachbarinnen und oft geringen sanitären Umständen. Man denke nur an die extrem hohe Säuglingssterblichkeit, die fehlende Nachpflege von Mutter und Kind, sowie rasche neue Schwangerschaften. Unterstützt von ideologischeraufgeladener Opferbereitschaft, kollektivem Hass auf den Feind und verlockende Jenseitsversprechungen als Märtyrer wie nicht nur die feierlich Abtretung des Sohnes an einen religiös-politischen Auftrag verständlich, sondern auch, in der Wiederholung und Umkehrung der oft todesnahen Geburt, die Bereitschaft, selbst zu töten. Das Spekulative an der Deutung ermäßigt sich angesichts des fast die Kontinente übergreifenden Mordens in den fanatisierten Gruppen auf dem größenwahnsinnigen Aufbruchs der Gruppen zur angestrebten, religiös aufgheizten oder retarnten Weltherrschaft.

Gefühl und Sprache des erotischen Zusammenlebens

Jede menschliche Beziehung erfordert, wenn sie gelingen soll, Verantwortung für die eigenen Gefühle wie die des möglichen Partners. Nach der Jahrzehnte langen Kargheit des schulischen Sexualkundeunterrichts hat sich inzwischen herumgesprochen, dass technische und physiologische Kenntnisvermittlung nicht ausreicht und beim Beginn einer erotischen Liebe oft gar nichts fruchten, sondern dass seelisches Wissen um sich selbst und den Anderen, also Beziehungswissen viel wichtiger ist. Und denken Sie nur an das Ausmaß an missbrauchter Verantwortung, das sich die katholische Kirche hat zuschulden kommen lassen: Der obligatorische Brautunterricht, den ein der mann-weiblichen Liebe unkundiger Priester zu „vollziehen“ hatte, enthielt wenig an emotionaler Aufklärung und seelischer Verantwortung, sondern beschränkte sich oft auf moralische Indoktrination und Hinweise auf die karge Erlaubnis schwer zu handhabender Verhütungsmethoden. Neben dem Auftrag, wenn nicht der Verdammung zu ewiger Treue, dem Verbot von Sexualität in nicht sicherer Phase der Frau und dem Gebot, eine auf Zeugung zielende Vereinigung gar mit einem Gebet zu eröffnen: „Nun denn ich Gottes Namen empfange meinen Samen!“. Ein Teppich der Peinlichkeit und der Scham bereitete sich über das Gespräch, für das es keine auch nur annähernd vertrautes Vokabular gab.

Der unendliche Reichtum in auf die Hochzeitsnacht bezogenen Witzen bezieht sich auf das Wissen, dass zwei seelisch völlig unvorbereitete, ängstliche Individuen aufeinander treffen, die sich in vielen Völkern es darauf ankommen lassen müssen, sobald wie möglich das blutgetränkte Leintuch aus dem Fenster zuhängen. Seit vielen Jahre frage ich deshalb Männer wie Frauen mit dem gebotenen Takt wie sie den ersten Verkehr oder die Hochzeitsnacht erlebt haben. Sehr oft kommen Schauergeschichte zutage, verborgen hinter Mauern tiefer Scham, auch darüber, dass über die verwirrten oder verletzten Gefühle nie mehr geredet werden konnte. Auch in einer nicht-religiösen Paartherapie kann man oft nur staunen, welches Ausmaß an Sprachlosigkeit der Partner seit Jahren oder Jahrzehnten herrschte, sowohl über das schlichten Erleben wie emotionale die Wünsche oder die Nöte und die verwirrten oder beschämenden oder auch glücken oder unerwartet befremdlichen Gefühle.

Die Fremdheit der Gefühle für die Kunstgeschichte

Wohin man schaut, überall noch herrscht Unkenntnis von Gefühlen, Verwirrung oder Verleugnung ihrer Bedeutung. So zum Beispiel in der Kunstgeschichte. Es gibt kaum eine Sparte in der Auseinandersetzung mit Kunst, in der die Bedeutung der Affekte wirklich wahrgenommen wird,wie in der Kunstgeschichte. Ich zitiere den bedeutenden Kunsthistoriker Martin Warnke, der in seinem Nachwort zu meinem Band „Kunst und Psyche“, der in erweiterter Auflage 2014 neu erschienen ist (psychoanalytische Deutung von Gemälden): „Es lässt sich nicht behaupten, die beiden Wissenschaften, die Psychoanalyse und die Kunstwissenschaft, seien sich im relativ kurzen Verlauf ihrer Geschichte besonders nahe gekommen. Die Kunstgeschichte war im 20. Jahrhundert zu sehr mit stilgeschichtlichen Bestimmung ihrer Gegenstände befasst, die allenfalls

um historische und soziale Bedingungen ergänzt wurden.“ (S. 198) Während dieser Niederschrift habe ich den 3-stündigen Film des genialen Dokumentarfilmers Wiseman gesehen über die Londoner „National Gallery.“ Sein „Kunstwerk“ hat Mwarkes Warnkes Urteil mehr als bestätigt: Stilkunde, Farb- und Raumtheorie, Komposition, Übermalungen, Materialkunde, Zuschreibungen, historische Reflexionen, Verhältnis von Kompositionsskizzen zu endgültigen Bild oder seiner Doppelungen, usw. Man könnte fast von Psychologie-Feindlichkeit sprechen, wenn nicht im Film eine einzige kundige Museumsführerin sich begeistert hätte an der Dramaturgie des Rubensbildes „Samson und Dalilah und die Betrachter ermutigt hätte, sich in die Befindlichkeit der beiden Helden hinein zu versetzen, ein lebendiges Gefühlslernen. Dabei könnte man die Hälfte aller Bild- und Skulpturwerke jedenfalls der bedeutenden Künstler geradezu als eine Erforschung der menschlichen Affekte betrachten, bei früh traumatisierten sogar die der frühen, sogar perinatalen Affekte, die nur im Bild auszudrücken sind.

Besser sieht es in der schöngeistigen Literatur aus, insbesondere bei der psychologische Deutung von Romanen und ihrer Helden. Hier war die Erforschung schon so intensiv, dass sich bereits mancher Schulenstreit entwickeln konnte darüber, welche Tiefenpsychologie und welche Entschlüsselungsinstrumente am geeignetsten wären, um den verborgenen Sinn des Handlungsgeflechts und der Persönlichkeit der Helden am hilfreichsten wären, neben der Untersuchung der bewussten und unbewussten Affekte.

Die Nutzbarmachung der Gefühle in Großgruppen

Obwohl seit langem der Satz gilt: „Die Hälfte der Finanzwissenschaft ist Psychologie“, so hat es doch einige Jahrzehnte gebraucht, bis es zu präziseren Forschung über die Bedeutung der Affekte gekommen ist, über die Psychologie des Betrugs, der Gier, der Mythenbildung, der Ansteckung, was die ansteckende Wucht immer neuer Trends angeht. Und die Lehre hat übergegriffen auf die Psychologie des Betriebsklimas, die Optimierung der Kommunikation durch die Beachtung der Gefühle und die Bedeutung der motivierendenAnreize, sowohl materieller wie psychologischer Natur.

Nicht zu vergessen die Erforschung Affekte mit dem Ziel die Steigerung der Kampfmoral von Truppen in verschiedenen Phasen der erbitterter kriegerischer Auseinandersetzungen. Dabei steht ganz im Vordergrund die Bedeutung der Gruppendynamik mit den Faktoren Solidarität und Vertrauen, bis hin zu den Ergebnissen in Hinblick auf ideologische oder religiöse Feindbilder, die neben Schnaps und aufrüttelnden Reden der Politiker und Kommandeure bedeutsam waren und sind.

In der Kinderpsychologie wie in der Frühpädagogik wurde die Bedeutung des Gefühlslernens entdeckt, sie spielt in der Kleingruppenbetreuung und bei der schwierigen Integration von Migrationskindern eine wichtige Rolle und ist bis in die Sonntagsreden und Grabenkämpfe der Politiker eingedrungen, mit dem Ziel, wenigstens für die Zukunft Fremdheit, Abstoßung und Hass mildern zu können.

Ein eigenes emotionales Versagen

Zum Schluss das Bekenntnis eines emotionalen Versagens in einer Psychotherapie, das ein Licht wirft auf unsere Verantwortung für unser Emotionen in den Turbulenzen von Übertragung Gegenübertragung: In der Therapie eines ca. fünfzigjährigen Kollegen mit einer erheblichen narzisstischen Störung, der mir manchmal durchaus untergründig auf die Nerven ging wegen einer chronischen Selbstüberschätzung seiner therapeutischen Methoden. Es ging um eine allzu rasche Verliebtheit in eine hübsche Patientin, die ihn nach wenigen Monaten, angesichts ihrer destruktiven Beziehungsgeschichte mit vielen auch selbstverschuldeten Trennungen ängstlich fragte, ob er sich vorstellen könne, ihrer einmal überdrüssig zu werden, die Geduld zu verlieren und sie loswerden zu wollen, als also ein tiefe Angst vor einer Wiederholung desTraumas. Fast im Posaunenton einer gewissen Selbstherrlichkeit sagte er: „Das wird niemals geschehen!“ Da brach es aus mir unkontrollierbar heraus: „Sie omnipotenter Angeber!“, auch weil er glaubte, sie mit unerschöpflicher Güte heilen zu können. Er war natürlich sehr gekränkt, aber es gelang uns schließlich , als ich mich entschuldigte, wieder auf gelassenen Kurs zurück zu finden. Er hatte die biographischen Hintergründe der Angst der Patientin gar nicht erforscht, sondern sie sozusagen übertönen wollen mit einer nicht erfüllbaren Versprechung. Meine sich langsam anbahnende kritische Gegenübertragung, die ich nicht rechtzeitig geäußert und kreativ verwendet hatte, hatte nur auf diesen Auslöser gewartet, um sich so überschießend und verletzende zu äußern.

Die Entdeckung der „projektiven Identifikation“ mit unbewussten Gefühlen von Patienten ist kaum zwei Jahrzehnte als, und ihre kompetente Handhabung stellt uns immer wieder vor große Ansprüche. Oft leiden wir mit dem Patienten an einer schmerzlichen und gereizt oder ohnmächtig machenden Stagnation der Therapie, bis wir in unserer Not entdecken, dass der Patient uns auf diesem Weg seine „unaushaltbaren“ Gefühle übermittelt hat, die in eine unheilvolle Verstrickung hätten führen können. Die Botschaft:“Jetzt fühle ich, wie Ihnen oft zumute ist.“ kann die Spannung lösen und den Patienten spüren lassen, dass wir uns tatsächlich mit den eigenen Emotionen eingelassen und die Verantwortung für sie übernommen haben. Es wir wohl noch eine Weile dauern, bis dieser psychologische Mechanismus auch für die Psychologie von großen Gruppen in verzweifelter Spannungsposition fruchtbar gemacht werden kann. Das destruktive Klima zwischen Tätern und Opfern sowohl auf der individuellen wie auf der Großgruppenebene lehrt uns, dass da noch große Aufgaben zur Erforschung der sozialpsychologischen oder gar völkerpsychologischen projektiven Identifikation warten. Man denke nur an die nationale und internationale Erregung quer durch die einander fremden Religionen und deren Grundanschauungen und Formen des Fühlens anlässlich der mörderischen Karikaturenkrise um Charlie Hebdo in Frankreich mit ihren verletzendem und ätzenden Hohn über den Propheten. Es fehlte an der tieferen Kenntnis der eigenen Affekte der Karikaturisten wie an Einsicht über das Ausmaß der religiörsen Kränkbarkeit von manchen Gruppen des Islam.