Tilmann Moser

Vortrag zum Kongress „Bindung und emotionale Gewalt“

München 8./9.10.2016

Der böse Blick: Privat und politisch

Meine Damen und Herrn,

Der Blick und dessen Bedeutung in der menschlichen Kommunikation ist in der klassischen Psychoanalyse erst spät, wenn überhaupt zu einem bedeutsamen Forschungsgegenstand geworden,und auch in der praktischen therapeutischen Ausbildung fehlt der Umgang mit ihm weitgehend. Nur einzelne Körperpsychotherapien widmen ihm besondere Aufmerksamkeit und sprechen, wie in der Bioenergetik oder der Gestalttherapie, von „Blick- oder Augenarbeit.“ Das hängt damit zusammen, dass Sigmund Freud es nicht ertragen wollte, von seinen Patienten über den ganzen Tag hinweg angestarrt zu werden, und er verbannte sie auf die Couch, wo er von ihren Blicken verschont blieb. Dennoch ist klar, dass über den Blick ungeheurer dicht viele Gefühle ausgetauscht, erkannt oder entziffert werden. Sie sind ein Grundmaterial von Beziehungen, zwischen Liebe, Verschmelzung, Innigkeit über Misstrauen bis hin zu Hass und Vernichtungswut.

Da selbst der „sehende“ Psychotherapeut, der dem Blick des latent oder unbewusst hasserfüllten Patienten ausgesetzt ist, den Hass in der Gegenübertragung lange zu verleugnen versucht, ebenso wie der Patient ihn oft verleugnet oder tief verdrängt hat, brauchte es eines Hinweises auf eine ebenfalls hasserfüllte Schwester, um plötzlich klar zu sehen und zu fühlen und zu thematisieren. Die Probleme möchte ich verdeutlichen an einer Fallgeschichte, bei der ich selbst viel gelernt habe:


Der Patient, 45-jährig, ist Ingenieur und inzwischen stellvertretender Direktor eines mittelständischen Unternehmens, berichtet von zunehmender innerer Anspannung, Ängsten und Schlagstörungen. Er fürchtet manchmal sogar, er könne erkranken und berufsunfähig werden. Die Ernennung liegt erst wenige Wochen zurück. Es ist sein erster mit bedeutender Autorität versehener Posten. Seit dem Aufstieg im Amt fühlt er sich im Zentrum von Spannungen und Angriffen von seinen nunmehr „untergebenen“ Kollegen. Es hagelt aggressive Vorwürfe wie „Karrierist“, Postenjäger, Mauschelei, Geheimniskrämerei und anderes, auch Ehrenrühriges. Seine Mutter stirbt, als er zwei Jahre alt ist, nach qualvollem Krankenlager im Haus an Krebs. In seiner frühesten Erinnerung sieht er nur den Raum und ein Krankenbett, aber er darf trotz Weinen und Verzweiflung nicht hingehen. Er kommt, weil der Vater mit dm Zweijährigen nicht umgehen kann, als „Quasi-Adoptiv-Kind“ in die Familie seiner vitalen und dominanten Tante und deren schwächlichem und stillem Mann. Sein Vater heiratet ein Jahr später die viel jüngere ehemalige Pflegerin der Mutter, die mit der Tante in offener Feindschaft lebt. Der Vater ist bei seinen Besuchen bei ihm streng und wenig einfühlsam. Er fürchtet ihn.

Auf dem wird er einer der besten Schüler, ist aber im Sport durch eine frühe Erkrankung behindert. Eine Befreiung vom Sport verhindert jedoch sein noch immer militärisch strammer Vater auf Anraten des Klassen- und Sportlehrers. Von seinem schwachen Onkel fühlt er sich nicht geschützt gegen die strenge Dominanz der Ersatzmutter, aber er „beißt sich durch“. Er fühlt sich aber im Zentrum eines „Stellvertreterkrieges“ zwischen den Familienteilen. Er wird mit 20 zunehmend nervös und depressiv, reif für ein paar Monate in einer psychotherapeutische Klinik, kann dann aber die tiefe Krise nach einigen Monaten überwinden.

Nach dem problemlosen Studium der von Verfahrenstechnik habe er sich in dem Betrieb „überraschend reibungslos eingearbeitet“ und zwanzig Jahre Praxis und betriebsinterne Forschung genossen. Doch der Rollenwechsel der Höherstufung führt ihn bedrohliche Situationen. Von da an wird Autorität und Macht ein dringliches Problem, ebenso das der Kontrolle seiner wachsenden Aggressivität, die er auch beim an sich liebevollen Umgang mit seine Kindern mühsam zurückhalten muss. Er lebt mit zunehmender Angst und trägt sich sogar mit dem Gedanken eines Verzichts auf seine neue Stellung, entschließt sich aber zum „Sich-Durchbeißen“, entdeckt seine kämpferischen Seiten und will mit Hilfe einer Psychoanalyse überleben.

Der frühe Tod der Mutter hat sicher zu einer Schwächung des seelischen Wachstums geführt, die aber durch das Leben in der Zweitfamilie anfangs partiell kompensiert wird. Bedrohlich bleibt aber der ständige Krieg der beiden Familien, der ihn hilflos macht, bei wachsender untergründiger Wut. Vermutlich handelte es sich auch um Angst vor der Zukunft aufgrund mangelnder stabiler, vor allem männlichen Vorbildern, denn der Vater ist ein unberechenbarer Tyrann und unverbesserlicher Altnazi.

Es besteht eine Angst, in manchem seinem oft jähzornigen Vaters zu gleichen, was zu anstrengender Aggressionskontrolle führt. Leistung bleibt seine überwiegende Lebenshilfe, bis zum drohenden Zusammenbruch nach der Ernennung. Seine im Ganzen glückliche, aber auch krisenreiche Ehe wird plötzlich schwieriger und bietet weniger Halt. Lange latent gebliebene Erkrankungsängste, Probleme mit Rivalität, Neigung zu Schlafstörungen und Erschöpfungszuständen und hoher Kränkbarkeit mit Versagensängsten brechen wieder auf. Der Gutachter der Krankenkasse genehmigt problemlos eine Psychoananlyse, aber wegen seiner hohen Arbeitsbelastung zunächst einstündig im Sitzen geführt wird..

Hinter der überaus zivilen, angenehmen und scheuen Fassade scheint gelegentlich Misstrauen wechselnder Stärke auf, vor allem beeindruckt, ja schüchtert mich ein Blick ein, den ich schließlich als „bannend“ bezeichne, und der mich tatsächlich latent erschreckt und zu erhöhter Selbstkontrolle zwingt, als sei ich unter Bewährung: Ich darf keine therapeutischen Fehler machen, sonst passiert ein Unglück. Ich wage aber lange nicht, ihn auf diesen Blick hin anzusprechen.

Als er vor einer Begegnung mit seiner schwierigen älteren Schwester mit ähnlichem Blick im Auto auf der Hinfahrt einen Angstanfall erlebt, spricht er von ihrer unerbittlichen Strenge und einem ihn „ängstigenen, ja mörderischen Blick.“ Da wage ich es, diesen Blick auch bei ihm anzusprechen, und frage nach möglichen Hintergründen einer mörderischen Atmosphäre in der ganzen Familie. Wir werden auf eine verblüffende Weise fündig.

Von der Schwester kommt er auf die Härte seines Vaters zu sprechen, von da auf einen mörderischen Kampf zwischen zwei älteren Brüdern des Vaters, der jüngere ein „glühender Nazi“, der älteste Sozialdemokrat und dem Widerstand nahe stehend. Ohne dass sich alle Details klären lassen, findet er heraus, dass das SS-Mitglied den Bruder an die Gestapo verraten habe, die ihn darauf hin zu Tode foltert. All dies ist lange Zeit ein dunkles Familiengeheimnis, doch er erforscht unter großen Ängsten die Geschichte in verschiedenen Archiven.

Ich lasse ihn zu den beiden, Vater und Schwester, gestalttherapeutisch auf dem leeren Stuhl sprechen, und da entfalten sich, aufsteigend aus tief vergrabener emotionaler Deponie, Gefühle von Angst, Terror, Hass, Verzweiflung und Verachtung Er entdeckt aber auch ungeahnte, bisher ungenutzte Identifikationsmöglichkeiten mit dem ihm real unbekannten Helden des Widerstands, und er empfindet Dankbarkeit für dessen nur verschwommen von ihm aufgenommenem Bild.

Die Familie hatte versucht, diesen Sohn aus jeglicher Erinnerung zu verbannen. Seit jenem Gestalt-Dialog spricht er jedoch von einer positiven Veränderung seines sonst immer angespannten Körpergefühls und von abnehmenden nächtlichen Ängsten. Es gelingt ihm, sein Amt auch inmitten von inzwischen stark nachlassenden Anfeindungen ruhig zu führen. Er schildert seinen Chef als machthungrig, schwankend zwischen Leutseligkeit und Verschlagenheit, zu seinen Untergebenen weitgehend loyal, aber doch unberechenbar, wenn jemand sein Image des perfekten Leiters der Firma in Gefahr bringen könnte. Der Patient leidet bei Spannungen mit ihm an tiefen Ängsten vor sofortiger Entlassung bei einem drohenden Fehler.

Sein Aufatmen von den früheren Entlassungsängsten ist nach der Gestaltsitzung so tief greifend, dass ich nach Vorläufern der drohenden Furcht frage. Und da enthüllt sich die lebenslange Wolke einer lähmenden Angst, die über seinem ganzen Leben schwebte und ihn sich nie als wirklich freien Menschen fühlen ließ. Die Auflösung:

Die Übergabe des kleinen Jungen nach dem verstörenden frühen Tod der Mutter an das verwandte, kinderlose Ehepaar war eine Rettung und zugleich eine Verstoßung gewesen. Es kam zwar Ordnung, Zuneigung und Stabilität in sein aufgeschrecktes und desorientiertes Leben, aber auch eine gefährlich Strenge. Er wurde ein stiller, aber lebendiger Junge. Doch als der kleine Erstklässler lebendiger, lauter und störender wurde, setzte ein Regiment der Drohungen ein: „Wenn du nicht brav bist, geben wir dich dem Vater zurück!“ Dies wurde zum Hauptinstrument der Erziehung, ja der Domestikation des Jungen. Er wurde brav, unterdrückte seine Vitalität, verzichtete auf die wilden Spiele mit seinen Freunden, wurde überbrav in der Schule und fand nie aus seinen Ängsten vor dem Ende der mit Dankbarkeit zu belohnenden Aufnahme in seine Pflegefamilie. In der lebte er wie im Exil lebte, ohne konkrete seelische Erinnerung an seine Mutter, wohl aber mit unbewussten Körpererinnerungen an ihre Zärtlichkeit. Er fand nach ihrem Tod aus einer latenten Depression nie mehr heraus. Dass seine Pflegeeltern ob ihrer Wohltätigkeit im Dorf geachtet waren, verstärkt den Druck des Bravseins. In Zeiten von pädagogischen Krisen hatte er die Pflegemutter gelegentlich über ihn sagen gehört: „Er ist ja nicht unser Blut!“, was ihm zu verstehen gab, dass sein Verbleiben bei Enttäuschungen für immer ungesichert blieb.

In der weiteren Analyse fand er, als er über seine Gefühle zu den Pflegeeltern sprach, zu den Gefühlen von Hass, Demütigung, Angst, ja der Wut über die erpresserische Drohung mit der „Entlassung“ aus ihrer Obhut. Es entdeckte auffallende Ähnlichkeiten im Charakter zwischen seiner Tante und dem Direktor, dem er jahrelang unterstand, und auch dem Vater, warf beiden voller Groll ihre Machtgier und ihre Kränkbarkeit vor. Er war sich der Tatsache schmerzliche bewusst, dass trotz der tiefen, aber immer ambivalenten Bindung sein Pflegevater ihn nie schützen würde vor dem erzieherischen Terror der Pflegemutter, wenn sie ihn wieder einmal bei einem kleinen Delikt überführt hatte.

Es löste sich nach seinen verbalen Angriffen auf die erpresserische Unterdrückung seines Lebenswillens, die er von der Couch aus an sie richtete,“ ein Bann der Angst, und er sagte ihr zum Schluss, als ich ihn zu einer späten, erwachsenen Kündigung der immer noch bedrohlichen bedrohlichen Bindung ermutigte, geradezu feierlich und stolz wörtlich: „Ich verlasse hier mit dein Gefängnis und führe mein eigenes Leben!“

Um aber zu verhüten, dass er mit dem zornigen Fluch auch das Gute und Rettende an der Beziehung zerstörte, fragte ich ihn, ob es auch Reste von Anerkennung und Dankbarkeit gebe, und er konnte die lebensrettende Aufnahme in ihre Obhut würdigen und den Druck anerkennen, in dem diese Pflegeeltern im Dorf selbst selbst gelebt hatten. Da selbst als der „sehende“ Psychotherapeut, der dem Blick des latent oder unbewusst hasserfüllten Patienten ausgesetzt war, den Hass in der Gegenübertragung lange zu verleugnen versuchte, ebenso wie der Patient ihn oft verleugnet oder tief verdrängt hatte, brauchte es eines Hinweises auf eine ebenfalls hasserfüllte Schwester, um plötzlich klar zu sehen und zu fühlen und den mörderischen Blick zu thematisieren. Das ich ihm überhaupt ausgesetzt war, hängt damit zusammen, dass der Patient erst spät vom Sitzen zur Couch überwechselte. In einer klassischen Analyse bekäme ihn der Analytiker hinter der Couch vielleicht nie so Angst machend zu sehen, höchstens in den kurzen Momenten der Begrüßung oder des Abschieds,wenn er sehr aufmerksam schaut, ansonsten müsste er den mörderischen Hass aus vielleicht ebenso quälenden Affekten in der rein verbalen Übertragung erschließen.

Hinter der überaus zivilen, angenehmen und scheuen Fassade scheint gelegentlich Misstrauen wechselnder Stärke auf, vor allem beeindruckt, ja schüchtert mich ein Blick ein, den ich schließlich als „bannend“ bezeichne, und der mich tatsächlich latent erschreckt und zu erhöhter Selbstkontrolle zwingt, als sei ich unter Bewährung: Ich darf keine therapeutischen Fehler machen, sonst passiert ein Unglück. Ich wage aber lange nicht, ihn auf diesen Blick hin anzusprechen.

Als er vor einer Begegnung mit seiner schwierigen älteren Schwester mit ähnlichem Blick im Auto auf der Hinfahrt einen Angstanfall erlebt, spricht er von ihrer unerbittlichen Strenge und einem ihn „ängstigenden, ja mörderischen Blick.“ Da wage ich es, diesen Blick auch bei ihm anzusprechen, und frage nach möglichen Hintergründen einer mörderischen Atmosphäre in der ganzen Familie. Wir werden auf eine verblüffende Weise fündig.

Von der Schwester kommt er auf die Härte seines Vaters zu sprechen, von da auf einen mörderischen Kampf zwischen zwei älteren Brüdern des Vaters, der jüngere ein „glühender Nazi“, der älteste Sozialdemokrat und dem Widerstand nahe stehend. Ohne dass sich alle Details klären lassen, findet er heraus, dass das SS-Mitglied den Bruder an die Gestapo verraten habe, die ihn darauf hin zu Tode foltert. All dies ist lange Zeit ein dunkles Familiengeheimnis, doch er erforscht unter großen Ängsten die Geschichte in verschiedenen Archiven.

Ich lasse ihn zu den beiden, Vater und Schwester, gestalttherapeutisch auf dem leeren Stuhl sprechen, und da entfalten sich, aufsteigend aus tief vergrabener emotionaler Deponie, Gefühle von Angst, Terror, Hass, Verzweiflung und Verachtung

Die Mechanismen des „Mörderischen Blicks“ gelten auch für Gruppen, vom Kinderarten mit Kindern aus traumatisierenden Familien bis hin zu bösen Konflikte in Alters- und Pflegeheimen, wenn die Traumata von Krieg, Verfolgung, Flucht, Vergewaltigung und Anderes aufbrechen. In Großgruppen, ethnischen Kollektive, verfeindete Religionsgruppen und ganze Nationen, die ihren Bestrafungs- oder Vernichtunghass gegen einen Feind richten, der durch Entwertung, Diffamierung, Verdächtigung und Hasspropaganda der Ketzerei oder der Ungläubigkeit verdächtigt oder abgestempelt oder auch seit Jahrhunderten gepflegt wird. Wie wir wissen kann das bis zu totaler Entmenschlichung gehen. Er wirkt auch „von Angesicht zu Angesicht“ bei Folter, Vergewaltigung, Verstümmelung und öffentlicher Hinrichtung, oft verbunden mit Triumphgeschrei der Täter wie der Zuschauer. Nicht umsonst spricht Klaus Theweleit in seinem Buch über die Psychologie der Massenmörder schon im Titel vom „Lachen der Täter“, die im Rausch der Tötung zu sich selbst und eine neuen Ganzheit finden.

Die Erlaubnis zu töten

Über die Mordlust der IS und anderer Banden

Spätestens seit den öffentlichen Hinrichtungen westlicher Geiseln durch blutige Enthauptungen ist weltweite Empörung an der Tagesordnung, und eine große Allianz von Nationen hat sich zusammen geschlossen, um dem Terror Einhalt zu bieten. Ein riesiges Kalifat soll errichtet werden unter der Führung von „Kriegern“, deren Psychopathologie offenkundig ist durch das Ausmaß der Verfolgung und brutalen Ermordung von Zehntausenden, ja Hunderttausenden, die von vielen Seiten zu Recht als Völkermord bezeichnet wird. Aber warum strömen aus aller Welt Tausende von fanatisierten Kämpfern nach Syrien, um beim Morden gierig zu helfen? Und warum reisen selbstmörderische und mordbereite Deutsche, von denen man fürchtet, dass sie nach ihrer Heimkehr zu weiterem mörderischen Terror bereit sind?

Zwei erfahrene Psychoanalytiker haben in dem jüngst erschienenen Buch „Wie hältst du´s mit dem Tod?“ (Vandenhoeck und Ruprecht, 2014, Hrsg. Helmward Hierdeis) mit einem Rückgriff auf Freuds Theorie zur Tötungslust versucht, eine allgemeine Antwort zu finden. Bernd Nitzschke zitiert einen Vortrag Freuds aus dem Ersten Weltkrieg (1915), in dem dieser schreibt: „Sie verwundern sich darüber, daß es so leicht ist, Menschen für den Krieg zu begeistern, und vermuten, daß etwas in ihnen wirksam ist, ein Trieb zum Hassen und Vernichten, der solcher Verhetzung entgegen kommt.“ Der Satz könnte auch für die neuen Hassprediger und ihre aufgehetzte Gefolgschaft gelten, über deren Ausweisung aus Synagogen in Deutschland debattiert wird. Und Freud fügt hinzu: „Wir sind die Nachkommen einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern. Die Mordlust steckt uns im Blut.“ Das ist ein fast biologisch-anthropologische Aussage, von der er sich nie mehr distanziert hat.

Da Sexualität und Mordlust eng verbunden sind, wird die Freigabe der Massenvergewaltigung in vielen blutigen Kriegen gleichsam selbstverständlich als kollektiver Seelenmord eines Volkes.

Günther Bittner in seinem so klugen wie ethnologisch materialreichen Aufsatz mit dem Untertitel „Ein Versuch, Freuds Vorstellung einer instinktiv verwurzelten Destruktionslust zu rehabilitieren“ greift im gleichen Buch noch auf andere Äußerungen von Freud zurück im Gefolge des zuerst willkommen geheißenen, später entsetzt kommentierten Ersten Weltkrieg zurück.

Bittner schreibt: „Der letzte Schritt in Sachen Tötungstrieb wird in ´Das Unbehagen in der Kultur` (Freud, 1930a) vollzogen. Der früher deskriptive Befund wird bekräftigt: Der Mensch sei, so Freud, „kein ´sanftes, liebebedürftiges Wesen … , das sich höchstens, wenn angegriffen, zu verteidigen vermag. Vielmehr ist er bereit, den Mitmenschen zu 'demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, ihn martern und zu töten. Die Tötungslust äußert sich aber bei Wegfall von Hemmungen auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigene Art fremd ist.'“ Bittner wendet sich heftig gegen das bloße Reiz- Reaktionsschema neuerer Aggressionstheorien, wonach Tötungslust nicht auf einem angeborenen Trieb beruht, sondern auf sozialpsychologisch verständlichen Auslösern.

Viel plausibler erscheint angesichts der derzeit weltweiten ideologisch und religiös verbrämten Mordbereitschaft etwas des IS oder der Bokoharam-Sekte ein Wegfall von Hemmungen und außerdem eine Überschwemmung mit aufheizender Hetze, sodass enthemmter Urtrieb und sozialpsycholgische Reaktionen sich verstärkend ineinandergreifen: Das Hinzukommen von Demütigung und Verzweiflung durch Armut, Ausbeutung, Unterdrückung usw. bilden kein Widerspruch, es braucht die Mischung und wechselseitige Durchdringung von Faktoren verschiedener Wirkungsebenen der Verteufelung. Und dies nicht nur durch den verächtlichen,mörderischenBlick, um das grauenhafte Handeln zu befördern. Selbst massenhaft wirksame individuelle und völkerpsychologische Faktoren kommen hinzu: Familienstrukturen, in denen Hass erzeugt wird in Kindern und Jugendlichen, der ein Ventil sucht für Rachetendenzen, die nach außen drängen, weil sie in der autoritär unterdrückenden Familie oder im Clan nicht ausgelebt werden können. Kommt dann noch eine legitimierende und auffordernde Ideologie hinzu, dann kommt es zur massenhaften Erlaubnis, ja zur Aufforderung oder zum Befehl zum Töten. Bittner lässt sich die Urfassung von Freuds „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915b) nicht entgehen zur „Hemmungslosigkeit des Urmenschen“. Er zitiert::

„Der Tod des anderen war ihm recht, er erfaßte ihn als Vernichtung und brannte darauf, ihn herbeizuführen. Der Urmensch war grausamer … grausamer und bösartiger als die anderen Tiere. ...Er mordete gerne und wie selbstverständlich.“

Bittner weist zurecht auf neuere Forschungen zu „biochemischen Prozesse im Gehirn“ hin, auf das „Dopamin- bzw. endogene Opiatsystem, innere Hassdrogen wie auch das 'Wohlfühlsystem`, das uns natürlicherweise 'belohnt`, wenn wir etwas für unser eigenes Überleben oder für die Arterhaltung getan haben.“ Die Erlaubnis zum Töten durch die gruppendynamischen Ansteckungsprozesse von Angst und Hass erzeugt eine rauschhafte Verstärkung. In Deutschland wächst derzeit das kollektiv verstärkte Gefühl der Bedrohung der eigenen sozialen Identitäten, nämlich „Nation, Abendland, Christentum, Europa, Deutschland durch einen entwerteten Feind, den aggressiven Islam, im Extrem sogar mit destruktiver Absicht durch Überwältigung, religiöse und rassische Vergiftung und ideologische Überflutung. Oft ist der Rausch getragen von fanatisierten Bindungen an die wiederum in sich gespaltenen und verfeindeten Fraktionen. Und in der Tat arbeiten die am meisten mörderischen Gruppen durch die gezielte Verstärkung von Gruppenbindung, gefestigt durch Versprechungen, Verheißungen, Propaganda und Terror. Es ist die Umkehr der in Geborgenheit und Zuneigung angebotene Bindungen durch Eltern, die die aggressiven oder rache- oder vernichtungsbereiten Impulse zähmen durch genug libidnöse Zufuhr aus gütigem Blick und Körper, die drohenden Hass und Unheil mildern und zivilisieren kann.

Ein Teil der religiös entfesselten Gewalt der Massenmörder richtet sich auch gegen Homosexuelle als Perverse und Entartete. Die Terroristen wie die religiösen Eiferer kennen in der Regel keine heimatliche, familiäre oder erotische und tolerante Geborgenheit, außer im Anschluss an die fanatisierte bergende Gruppe. Und so wabert in ihnen ihre unverbrauchte homoerotische Energie, die weder bewusst werden noch libidinös abgeführt werden, sondern nur durch Gewalt, oft bis zur Erschöpfung, gemildert werden kann. Man staunt, wie instinktiv die Verächter und Hasser von Homosexualität Bandenschlägerei und -krieg suchen. Und es eröffnet sich eine merkwürdige Gedankenverbindung: Dass Homosexuelle jetzt in manchen Ländern geduldet sind oder sogar heiraten dürfen und sich auch in muslimischen Ländern Forderungen nach Toleranz erheben, erhöht den Hass und die Kampfwut der Verblendeten, weil es das Fehlen liebevoller Sexualität zwischen Männern sichtbar werden lässt. Denn für Islamisten ist die mann-männliche Sexualität noch ein bedrohliches Tabu. Und mit einem weiteren, aber nicht unplausiblen Gedankensprung landet man bei den Instanzen, die über die Jahrhunderte Homoerotik und Homosexualität verteufelt haben: die europäischen Kirchen und der Islam, die beide das „Laster“ bis hin zu tödlichem Hass verteufelt haben. Bis auf Bordelle und Massenvergewaltigungen aus Rache oder als Mittel der Kriegführung haben beide Religionen ihre Heere durch Strafen und Tabuisierungen von homosexueller Erotik und Energie ferngehalten, um sie in Form von Kampfbereitschaft zu missbrauchen. Zum Schluss also eine kühne These: Wenn Homosexualität oder auch nur homoerotische Freundschaften weltweit etwas sozial geduldetes oder gar Selbstverständliches geworden sind, müsste der massenhafte Terror der Gewalt überall in der Welt sich ermäßigen, weil es ein Gegengewicht in heilsamen menschlichen Bindungen gäbe. Der moralische Terror der Religionen ist also wahrscheinlich mitschuld an der ungeheuren Gewalt, die heute und zu allen Zeiten in der Welt tobt und tobt.

Die Mechanismen des „mörderischen Blicks“ gelten auch für Gruppen, vom Kindergarten mit Kindern aus traumatisierenden Familien bis hin zu bösen Konflikten in Alters- und Pflegeheimen, wenn die Traumata von Krieg, Verfolgung, Flucht, Vergewaltigung und anderes aufbrechen, so. z. B. in Großgruppen, ethnischen Kollektiven, verfeindeten Religionsgruppen und ganzen Nationen, die ihren Bestrafungs- oder Vernichtunghass gegen einen Feind richten. Dieser wird durch Entwertung, Diffamierung, Verdächtigung und Hasspropaganda der Ketzerei oder der Ungläubigkeit verdächtigt oder abgestempelt, wie sie auch seit Jahrhunderten gepflegt werden. Wie wir wissen, kann das bis zu totaler Entmenschlichung gehen. Er wirkt auch „von Angesicht zu Angesicht“ bei Folter, Vergewaltigung, Verstümmelung und öffentlicher Hinrichtung, oft verbunden mit Triumphgeschrei der Täter wie der Zuschauer. Nicht umsonst spricht Klaus Theweleit in seinem Buch über die Psychologie der Massenmörder schon im Titel vom „Lachen der Täter“, die im Rausch der Tötung zu sich selbst und zu einer neuen Ganzheit finden.

Zum Schluss also eine kühne These: Wenn Homosexualität oder auch nur homoerotische Freundschaften weltweit etwas sozial Geduldetes oder gar Selbstverständliches geworden sind, müsste der massenhafte Terror der Gewalt überall in der Welt sich ermäßigen, weil es ein Gegengewicht in heilsamen menschlichen Bindungen gäbe. Der moralische Terror der Religionen ist also wahrscheinlich mitschuld an der ungeheuren Gewalt, die heute und zu allen Zeiten in der Welt tobt und tobt.

Zum Film über Stalin (ntv-25. 7. 015). Eine pathologische Fallgeschichte

Über Stalin ist unendlich viel geschrieben worden, von historisch bis psychoanalytisch, von verehrend bis dämonisierend. Sein gängiges Bild in der westlichen Welt: Eine der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte. So wurde der Film auch eingeführt. Mich interessierte, ob das Bildmaterial aus alten und neu zugänglichen Archiven genug Seelenstoff hergeben würde, um aus Schrecken und Einfühlung, Übertragung und Gegenübertragung mit der Beobachtung der eigenen Gefühlsregungen beim Betrachten des Films sich diagnostische Erwägung einstellen würden: aus den Geschauten wie dem historisch Berichteten. Zur historischen Bestätigung wandte ich mich an die monumentale Biographie Der junge Stalin (20017, S. S. Montefiori).

Stalin war ein von der gedemütigten Mutter vergöttertes, vom jähzornigen Alkoholikervater malträtiertes und geprügeltes Kind. Für gigantische Größenphantasien und erbarmungslose Rachsucht war der Keim früh gelegt. Liebevolle Einfühlung ohne die rivalisierenden Demütigungen und Grausamkeiten durch ihn dürfte er nie erlebt haben. Eine permanente misstrauische Habacht-Haltung war die Folge. Es sind kaum introspektive Äußerungen über sich selbst bekannt, es dürfte keinen inneren Raum für einfühlsame Selbst- und Fremdbeobachtung gegeben haben, außer dem Versuch, sich durch Lauern über Bedrohungen und Aussicht auf Vorteile zu orientieren. Er war ausersehen zu einer Popenkarriere, scheint unter der Priesterherrschaft, an die die Mutter glaubte, nur Strenge, Zucht, Grausamkeit und Verlogenheit erlebt zu haben. Es ist sogar plausibel, dass die Erfahrungen mit dem frühen Zwang der Beichte eine entsetzliche Spur zu den durch Folter und Selbstbezichtigung organisierten Schauprozessen geführt hat. Die Dimension der erzwungenen Lüge war früh vorhanden. Stalin hat sie zum System ausgebaut, und er hatte Helfer wie Jagow und Wischynski, die ihm mit bedenkenlosem Zynismus zuarbeiteten. Sein „wahres Gesicht“ ist hinter der Verstellung verloren gegangen. Menschlich tiefere Bindung sind nicht erhalten geblieben, die gefühlsarme Grausamkeit machte vor den nächsten Angehörigen nicht Halt. Ein belegtes Zitat aus dem Film: „Das Persönliche ist wertlos.“ Der Vernichtungskrieg gegen die Kirche dürfte auf seine Erfahrungen im Dressurinternat zurückgehen. Er hat den Zerstörungsorgien seiner aufgehetzten Anhänger gegen Kirchen und religiöse Symbole freien Lauf gelassen. Demütigung und Einschüchterung wurden zu einer Art Wunderwaffe. Sowohl die eigene wie die historische Vergangenheit des Volkes sollten ausgelöscht werden und durch eine Phantasie-Utopie von Gerechtigkeit, Glück und Wohlstand für alle ersetzt werden. Die Falschheit der Inszenierungen mit peinlich sauberer Massengymnastik sticht ins Auge. Die Propaganda entfernte sich immer mehr von der sozialen Wirklichkeit, Verstellung wurde zum obersten Prinzip: Undurchschaubarkeit des Charakters und eine immense Fähigkeit zur Treulosigkeit sind beinahe Alleinstellungsmerkmale seines Wesens geworden, verbunden mit seelisch erzwungener und später als Herrschaftsmittel genutzter Einsamkeit. „Ein Kommunist ist hat keine Familie!“ Morde und Hinrichtungen hinterließen tief ausgekostete Triumphgefühle. Seine Rachsucht verbreitete sich in die Massen der unbarmherzigen Verfolger von zur Ermordung freigegebenen Feind des Systems. Auf der Gipfel der Raserei des Terrors stellte der Diktator eigenhändig beliebig quantifizierbare Listen der anonym und so kollektiv wie wahllos Hinzurichtenden auf, als tägliches Soll des zu erfüllenden und einschüchternden Grauens.

Die inszenierte Vergottung und Selbstvergottung im entgleisten Personenkult schuf eine berauschende Theaterlandschaft auf aufgezwungener Väterlichkeit mit einer intendierten magischen Verschmelzung von Diktator und Volk. Die erzwungene Massenverehrung griff nach der infantilen religiösen Grundstimmung des Volkes, auch nur vorsichtige Distanzierung oder aufkeimende Zweifel wurden todeswürdig. Aber anders als das kollektive Trauertheater beim Ableben der nordvietnamesischen Diktatoren mit der Hysterie der sich vor simuliertem Schmerz krümmenden verlassenen Kinder der Untertanen wirken die verzweifelten Tränen der am Sarg Stalins vorbei ziehenden Massen bis heute echt, als sein eine das individuelle Selbst umhüllende und stärkende Riesenfigur plötzlich verschwunden. Stalin hatte sich nicht nur den Seelen, sondern auch den Körpern der Untertanen „einverleibt“. Die gigantischen, organisierten Hungerkatastrophen etwas in der Ukraine mit dem Raub der letzten Nahrungsreserven vor dem Massenhaften Hungertod konnten verschwiegen werden, wie überhaupt erzwungenes Schweigen, mit Ausnahme des konzertierten Zustimmungsgebrülle, stabilierte das „verrückte“ Verschmelzungstheater mit „Väterchen Stalin“.

Wie könnte das „Innenleben“ des Diktators ausgesehen haben? Bei der Diagnostik der Spätfolgen von frühem sexuellen Missbrauch hat sich durch die Schweizer Psychoanalytikerin Ursula Wirtz der Ausdruck Seelenmord verbreitet (so auch der Titel ihres bahnbrechenden Buches). Diesen Seelenmord darf man in Stalins frühen Jahren als die Folge gehäufter Traumata annehmen, mit der Folge einer psychischen Erstarrung einerseits und einer aufgewühlten Scheinvitalisierung eines bereits ausgebrannten psychischen Potentials, das nach Gemeinheit giert, und sich selbst zu fühlen. So beinahe verniedlichend es klingen mag, handelt es sich in der Grausamkeit um eine Selbstvergewisserung durch „Thrill“, die eine suchtartige Entwicklung durchlaufen hat, mit einer Steigerung ins Unersättliche.

Gegen Ende seines Lebens soll er gesagt haben, nachdem er einige Millionen von ihnen hat hinrichten, verhungern oder umbringen lassen, die Russen hinterlasse er als „blinde Kätzchen“, von denen er nicht wisse, wie sie ohne ihn überleben würden.