Tilmann Moser

Aber Sie dürfen bestimmt nicht gucken!

Tilmann Moser (2014)

Eine Patientin eröffnet resigniert die Stunde: sie haben keinen Zugang zu ihren Gefühlen, und sie wisse auch nicht, was mit ihrem Körper los sei; sie fühle sich träge, spüre ihn kaum, sei resigniert und habe sich am neuen Arbeitsplatz so unsicher erlebt, dass sie am liebsten beschämt weggelaufen sei. Zwar habe der Chef sie etwas auffangen können, der ihre Niedergeschlagenheit bemerkte, indem er sagte, sie müsse doch spüren, wie sehr sie alle über ihren Neueintritt freuten, und ein bisschen Unsicherheit sei bei den noch ungewohnten Tätigkeiten doch normal, „Aber ich habe gedacht, der sagt das nur routinemäßig freundlich und meint es gar nicht so.“

Ich habe das Thema gehört: Beschämung und Resignation, die sich auch in den Körper eingeschlichen hatten, und über die einfach nur zu sprechen oder nach biographischen Hintergründen zu forschen wohl nicht viel bringen würde. Er würde stumm und träge bleiben, und wir wüsste zudem noch nicht, wer sich in welchem Alter vor wem schämte. Aber der situative Auslöser scheint der Neubeginn mit einer kaum vertrauten Aufgabe zu sein. Sie sitzt mir starr gegenüber auf ihrem Sessel, hat die Beine hochgezogen und sieht gleichsam verknotet aus wie in einem schützenden Kokon, in dem es kaum 'Bewegungsfreiheit gibt. Sie bedauert sich wegen ihrer zu dicken Beine, über die die Mutter während ihrer Pubertät lästerte, und dabei fällt mir auf, dass sie sie mir schon öfter auffallend gezeigt hat durch die Art ihres Sitzens.

Ich hatte mich schon mehrmals halbbewusst gefragt: Warum führt sie sie mir vor, mit einer Spur von Schamlosigkeit und dennoch fast werbend, als handele es sich um eine höchst ambivalente Kostbarkeit mit der stummen Frage: „Sind sie denn nicht insgeheim doch ansehnlich oder gar zum Anbeißen?“ Ich hatte mich auch schon getadelt, weil ich manchmal von dem mit zugewandtem Blickfang gedankenverloren los nicht loskam, aber einen wirklich starken erotischen Reiz nicht empfand, doch mir das stille Rätsel auch nicht erklären konnte.

Ich schlug ihr vor, aufzustehen und sich im Raum zu bewegen und dabei wahllos Gesten, Schritte und körperliche Impulse auszuprobieren, aber dieses Mal nicht tänzerisch, das hatten wir bereits einmal gemacht, und da sie gerne tanzte, hatte sie das mit Anmut und ohne Befangenheit und wachsender Freude tun können, im Schutz einer bemerkenswerten Kompetenz. Sie stand auf, schaute sich fast verloren im Raum um und blieb wie erstarrt stehen, sodass mir ein Ausspruch meines Lehranalytikers einfiel, der mir bei einer recht späten Thematisierung meiner Körperhaltung auf der Couch sagte, ich läge ja immer bewegungslos wie ein braver Zinnsoldat da. Ich glaube, in bin wie ertappt errötet, weil es mir in der Übertragung unmöglich schien, meinen Körper ihm in emotionaler Bewegung zu zeigen. Da half es nicht, dass ich mich in meinen funktionierenden Sportskörper durchaus wohl fühlte, aber nicht in einem Körper, der sogar Freude, Lust, Sehnsucht und kindliche Werbung hätte signalisieren können.

Die Patientin schien durchaus noch gehemmte Bewegungsimpulse zu spüren, aber es war ihr unbehaglich, sich mit damit zu zeigen, die Einladung erschien ihr wie eine Falle, mit Angst vor Kritik und Beschämung. Da sagte sie deutlich bestimmend: „Aber Sie dürfen nicht gucken. Machen Sie die Augen zu oder drehen Sie sich zum Fenster und schauen hinaus!“ Das tat ich, aber war misstrauisch und noch lange nicht zufrieden. Erst solle ich mein Versprechen noch einmal bestätigen, ja beschwören, aber sie meinte: „Ich traue Ihnen nicht, Sie werden doch herüber linsen!“

Ich drehte mich noch weiter von ihr weg, aber es reichte noch nicht, ich spürte, es ging um ein gefährliches Beobachtet-Werden durch eine Person, der nicht zu trauen war, die übergriffig, neugierig und ein wenig heimtückisch war. Sie gab sich erst zufrieden, als ich meinen Sessel so drehte, dass ich nur noch in die dunkle Ecke schauen konnte. Da entfuhr es mir: „Jetzt fühle ich mich wie damals in der Schule strafweise in die Ecke gestellt“, worauf wir beide herzlich lachen mussten und die düstere Prüfstimmung sich milderte.

Wenn das Auge nicht schauen darf, obwohl sich spannende Dinge hinter ihm tun, wird das Ohr immer aufmerksamer und hellhöriger und liefert wichtige Daten, reale und von der Phantasie erweiterte, als da sind: Kleiderrascheln, schleifende Sohlen auf dem Teppich, Dehngeräusche, Varianten des Atmens, angestrengtes Stöhnen und raumgreifender, wenn auch noch vorsichtiger Jubel, staunende Ohs der Erleichterung, und Rufe und Fragen nach meiner aufmerksamen, aber eben noch blinden Präsenz.

So werde ich Zeuge einer spürbaren körperlichen Entfaltung, über die sogenannten hin und hergehenden Spiegelneuronen, und wir spüren gemeinsam die Freude über verblassende Hemmungen. „Sie dürfen sich umdrehen, Sie waren tapfer und haben nicht geschaut. Und Sie haben einen wichtigen Raum geboten, ich habe mich sicher gefühlt und kann Ihnen jetzt ein paar Bewegungen vorführen, die ich mit immer geringerer werdender Scheu ausgeführt habe. Sie fand Anschluss sowohl an kindliche Zeigefreude wie an erwachsene weibliche Werbung, und die fülligen Beine waren nicht mehr hochgezogen und wie versteinert, sondern erfüllt von Bewegungsfreude und Bereitschaft zum Tanz.

Therapeutisch war es ein Gewähren von Entfaltung und erfolgreiches Arbeiten an Jahrzehnte lang drückender Scham mit der Einschränkung alles körperlicher Präsenz und Ausstrahlung. Und sie erinnert sich, wie oft ihre gar nicht mehr zu dicken Beine von Freunden und Freundinnen gerühmt worden waren als Zeichen ihrer Charakterstärke, ihres Charmes und ihrer Zuverlässigkeit. Sie hatte hinter meinem Rücken, aber in meiner fühlbaren Gegenwart eine Art Versöhnungsfest mit ihnen gefeiert.

Das Angebot eines nicht optisch überwachten Raumes hat sich auch mit anderen Patienten bewährt. In der Übertragung handelt es sich um eine Arbeit an den kritischen Blicken meist der Eltern, die um sie tiefer und hemmender eingedrungen sind, je früher und anhaltender sie auf die Patienten gerichtet waren. Wie alles braucht auch diese „Übung“ gelegentliche Wiederholung, aber auch mutige Erprobung „auf freier Wildbahn“, wenn es um einen unbefangenen Auftritt vor Einzelnen oder Gruppen geht, auf der Bühne oder bei Vorstellungsgesprächen, wenn Hemmung und Lampenfieber drohen.

Meistens sind es dann nicht nur die Beine, sondern es kann der ganze „nicht vorzeigbare Körper“ sein, oder andere symbolisch wichtige Teile, die Hüften oder der Busen, bei Männern die schmale Brust oder die Phantasie eines zu kleinen Penis. Die anschießende Aufarbeitung bringt lähmende Erinnerungen zum Vorschein, quälende Schamerfahrungen, Selbstzweifel, ja Selbstverfluchungen, je nach dem Schweregrad der Störung, bis hin zu der schrecklichen Unsicherheit: „War ich überhaupt willkommen, hatte ich das falsche Geschlecht, war ich schon den ersten Blicken zuwider oder hätte gar nicht geboren werden sollen.“ Ein Segen, wenn die Augen des Therapeuten probeweise nicht mehr gefährlich erscheinen, sondern wenn sein ermutigendes und anerkennendes Strahlen gesehen werden darf, ohne das Misstrauen, er spiele nur Zustimmung und müsse sich die Würdigung aus therapeutischer Pflicht abringen.

Die meisten Patienten haben ein zunächst unsicheres, dann wachsendes Gefühl für echtes Mitschwingen und aufrichtige Mitfreude. Der Therapeut darf sich belohnt fühlen, auch für ihn ist es Ernte, und erst recht der meist auf die „Redekur“ beschränkte Analytiker darf stolz sein über eine heilsame Grenzüberschreitung bei seinem herkömmlichen Instrumentarium. Er ist deshalb nicht weniger klassischer Analytiker, sondern er spürt, dass er auf dem Gefängnis des „Nicht-Handelns“ vorübergehend heraustreten darf. Er erntet Dankbarkeit und eine Vertiefung des Arbeitsbündnisses.