Tilmann Moser

Auf zur Augenweide. Über Gucken, Schauen, Betrachten, Staunen und Flirten.

Tilmann Moser (2013)

Ob Mutter und Kind sich anschauen bald nach der Geburt, kann viel entscheiden über die Art der späteren Bindung. Die Säuglingsforschung hat herausgefunden, dass die noch halbblinden Augen des Kindes sich bald an das Kreuz von Augenpaar und der Linie von Nase zu Stirn orientieren. Und da die Mutter, wenn es ihr gut geht, ständige Lächelzeichen aussendet, stimuliert sie, nebem dem Geruch und der Wärme, den Bindungswunsch des Kindes, und dieses gibt genügend feine Zeichen, um das Bindungsangebot der Mutter in Gang zu halten. Das Kind gibt Bewegungszeichen, dass das Angebot es erreicht. Es entsteht, getragen vom Blick, ein Bewegungsdialog, mit unterschiedlichen Formen des Haltens, des Gurrens wie des Wiegens und des Schaukelns. Der Blick der Mutter scheint das noch kaum vorhandene Kernselbst zu stimulieren, lautlich könnte man von einem Hin und Her diffuser Botschaften sprechen, mit Inhalten wie: Du da, oder Hallo, Süßer, Schatz, und das Kind belohnt den Flirt mit Antwortbewegungen des diffusen Inhalts wie „Weiter so!“ oder: „Wir werden viel Spaß miteinander haben.“ Es bildet sich ein Band der Vitalisierung wie der Erholungspausen, und weil die Mutter manchmal sogar artikuliert spricht, aus Begeisterung über die ihr zur Verfügung stehenden Laute und Wörter, haben Analytiker wie Lacan behauptet: Es sei bereits alles Sprache, und das Unbewusste längst sprachlich strukturiert. Es sind dann die Sprachfanatiker unter sich, und sie haben es nicht schwer, den Austausch von Worten für den Inbegriff der therapeutischen Kommunikation zu halten.

Doch zurück zum Flirt von Mutter und Kind: es entfaltet sich die Mimik des Kindes, und es lernt, die Mimik der Mutter zu entziffern und zu bereichern. Dies Stimmungen zwischen den beiden wechseln oft rapide: Zwischen Staunen, Unsicherheit, Nachfragen, Betonungen von Freude, Begeisterung, Bedauern, Jubel und augenblicklichem Verstummen. Die Mutter muss Zeichen der Ermüdung erkennen, aber auch den Wunsch nach Fortsetzung des liebevollen Austauschs. Der Blick bleibt im Zentrum, er begleitet alle Gesten und Laute. Wenn der Blick der Mutter sich aufhellt, hellt sich die Welt des Kindes auf, und wenn der Blick der Mutter erlahmt oder sich gar verfinstert, abgelenkt wird von eigenen Sorgen und Nöten, verfinstert sich auch die Welt des Kindes, und umgekehrt. Die Mutter fragt: „Erkennst du mich, verstehst du meine Zeichen, teilst du meine Freude?“, und analoges gilt für das Kind. Zwischen ihnen wird Vitalitätsstoff hin und her gereicht, oder geschenkt, beide freuen sich, auskömmliche soziale Umstände immer vorausgesetzt, dass es die „uns beide“ gibt, dass sie ein Paar bilden, das sich wechselseitig erkennt, anerkennt, bereichert und das Repertoir des sich steigernden und des sich erholenden Zusammenseins erweitert. Es bilden sich vertraute Rhythmen, aber auch Entgleisungen des Einverständnisses, auch die Schmerzen der Missverständnisse und die Freuden des Wiederfindens vertrauter Zeichen im Zeichen der Versöhnung.

Das Ergebnis ist Lebenszuversicht, fundamentiert mit dem sogenannten Urvertrauen, das doch so störbar bleibt, bis es sich in Maßen festigt und lebenslang verfügbar bleibt, wenn keine schweren Traumata oder kumulative Störungen dazwischen kommen.

Falls der Analytiker im Off des visuellen Austauschs verbleibt, also im Sessel hinter dem Patienten, und beide fast allein auf Sprachlaute angewiesen sind, um sich zu finden oder zu verständigen, entgeht den beiden eine Grundnahrung des lebendigen Dialogs. Die Blickprüfung und der optische Austausch sind dann auf Begrüßung und Abschied begrenzt. Es fehlt der vitalisierende Stoff der Wechselseitigkeit des Blicks mit seiner Bedeutung der Orientierung und der Ermutigung, des Sendens von Zuversicht und Hoffnung.

Viele Patienten erleiden Entzugserscheinungen, wenn auf den Couch der Blick fehlt, es sei denn, sie hätten genug gute Blicke und damit Blicknahrung der Eltern speichern können, sodass sie sich ausreichend dem Genuss wie dem Schrecken der Worte widmen können. In die Übertragung gehen die Schätze früher Zuwendung ein, sie brauchen kaum noch thematisiert zu werden. Thematisiert werden die unvermeidlichen Konflikte, die Einschränkungen, die guten wie die bösen Stimmen, die Gebote und Verbote, die wechselseitigen Wünsche, die anerkannt sein können oder verworfen werden. Es beginnt die lege artis geführt Psychoanalyse von neurotischen Störungen, für die Wort ausreichen, von spärlichen atmosphärischen Zugaben angereichert, das gute Fundament der Frühzeit vorausgesetzt. Und alle Missverständnisse müssen verbal korrigiert werden, getragen vom verbal einholbarem Grundeinverständnis eines positiven Arbeitsbündnisses, das verbale Korrekturen erlaubt, aber auch in gelegentlicher averbaler Verzweiflung enden kann.

Wie findet man nun den Weg zurück zum Blickkontakt auch in der tiefen Regression? Das probateste Setting ist das Sitzen neben der Couch, sodass ein unverkrampfter Blickkontakt möglich ist. Das beendet die verstohlene oder halsverdrehende Anstrengung des Patienten, heimlich oder offen einen seltenen Ausblick auf das Gesicht des Analytikers zu erhaschen, vorausgesetzt, dass er sich traut, sich kurz umzuwenden und kein unwilliger Blick oder gar ein Verbot ihn ereilt.

Seit Freud geäußert hat, dass er ein dauerndes Angestarrt-Werden nicht ertragen konnte und sich auf den sicheren Platz der Übertragungserwartung und der Übertragungsförderung zurückgezogen hat, haben sich seine Schüler in diesem Arrangement eingerichtet. Den Blickwunsch der Patienten auf ein entwertendes Anstarren zu reduzieren, ist eine grobe Verkennung vielfältiger und lebensspendender Bedürfnisse. Natürlich setzt das neue Arrangement voraus, dass sich der Analytiker auskennt in den frühen Formen der Kommunikation, dass er sie genießen kann und sich nicht aufgefressen fühlt vom manchmal saugenden Suchblick des Patienten, der endlich einmal wissen will, wie das Nicht-Gegenüber sich fühlt und ausschaut.

Zwangsläufig gerät ein Patient in der Übertragung in alle Phasen früher Blickerfahrung. Ich beginne mit der Scheu, den Analytiker überhaupt anzuschauen, und er ist bereits inmitten früher Scham, sich als suchend Schauender oder als Sehnsüchtiger zu präsentieren, der hofft gesehen zu werden. Die Szene zeigt unmittelbar, wie es in der Familie des Patienten mit Blickkontakt ausgesehen hat: von strahlender Zuwendung bis hin zu Vermeidung des Sehens oder gar Erforschens des Anderen. Es gibt unzählige Familien, in denen es unstatthaft, ungewöhnlich oder gar verboten war, die Augen als Kommunikationskanal zu nutzen. Die Übertragung bringt es an den Tag, ob der Blick der frühen Mutter strahlend oder kritisch, bejahend oder entwertend bis vernichtend war. Die Grundfragen des Therapeuten: „Wie ist es für Sie, mich anzuschauen, und wie ist es. Von mir angeschaut zu werden? Dürfen Sie mit Ihrem Blick auf meinem Gesicht verharren, meine Miene erforschen, Kraft schöpfen aus meinem anerkennenden Blick, oder fürchten Sie Tadel oder Skepsis, Zutrauen oder Misstrauen? Dürfen Sie Ihre Augen schließen, ohne eine unvorhergesehene Regression zu fürchten oder einen bedrohlichen Kontrollverlust? Dürfen sie sich der Augenweide des sehnsüchtigen oder staunenden Blicks überlassen? Dürfen Sie Zuversicht oder unverhüllte Liebe ausstrahlen, ohne fürchten zu müssen, damit zurück gewiesen oder emotional missbraucht zu werden. Dürfen Sie ihren Blick abwenden, um sich vom zu intensiv werden Schauen zu erholen. Dürfen Sie darum bitten, dass der Analytiker seinen Blick abwendet und zum Fenster hinaus schaut, um aus seinem Blickfeld verschwinden zu dürfen und nicht dauernd beobachtet zu sein?“

Erkennt man eine ungewöhnliche Scheu des Blicks, eine Angst vor der Intensität des Schauens oder der Scham, so kann man dem Patienten raten, es einmal mit dem Fingergitter zu versuchen: das Gesicht zu verbergen, aber durch die Ritzen zwischen den Fingern zu spähen und den Partner ungesehen zu beobachten. Meist ist Heiterkeit die Folge, ein Aufatmen, und Dankbarkeit, dass so viel Freiheit des Experimentieren gewährt wird. Blickspiele können begeisternd oder gefährlich sein, aber sie wiederholen die frühen Vorgänge des Schauens und bringen alle Störungen und Wonnen der frühen Blickgeschichte zum Vorschein. Die Erlaubnis, aus den Augen des Therapeuten zu trinken oder ihn auch grimassierend bedrohen zu dürfen, wird erstaunt zur Kenntnis genommen. Die kleinen Kussbewegungen des Mundes, die noch unbewusst die Zuneigung ausdrücken, dürfen gesehen werden, und geradezu unheimlich wird es, wenn der Analytiker fragt, ob er auch die Zunge sehen bekomme: die frühe heimliche oder offene Gegenwehr des Kindes gegen unliebsame Kritik, aber auch die Anzeichen von Wut und Rache. Wo sie zu zeigen verboten war, setzt ungläubige Scheu ein, oder eine missbilligende Abwehr: „Nein, das werde ich niemals machen!“ Wenn die Zunge aber heraus darf, verbreitert sich die Basis des experimentell Erlaubten, und es öffnet sich ein innerer Freiraum für das Zeigen von Ärger, Unwillen und Wut.

Die Arbeit mit dem Blick offenbart auch, auf welchem Weg – außer der Stimme und dem körperlichen und verbalen Kontakt mit der Mutter – auf welchem unmittelbaren Weg das Kind Sorgen, Grundstimmungen und Ängste der Mutter in sich aufgenommen hat. Es kann sich bei der ungeheuren Offenheit des Blicks und auch dessen Wehrlosigkeit nicht abgrenzen von Elend einer depressiven Mutter und saugt es auf, über´nimmt es stellvertretend und wird zur mother-caring Tochter, die den eigenen container zur Verfügung stellen muss, um die Mutter zu entlasten. Im Extremfall kommt es zu einer sogenannten omnipotenten Identifikation, das heißt es bilden sich lebensverneinende Introjekte, die sich unter Umständen unausweichlich vor den vitalen Kern des unfertigen Selbst schieben.

Die körpertherapeutischen Varianten des Umgang damit können so aussehen: der Therapeut erforscht aus wechselnder Nähe die Reaktionen des Patienten auf sein Gesicht und meldet ihm seine visuelle Gegenübertragung dosiert zurück. Oder er bittet den Patienten, sich das leidvolle Gesicht der Mutter immer wieder zu vergegenwärtigen und zu ihm zu sprechen. So entdeckt der seine eigenen, früher verdrängten oder unerlaubten Reaktionen auf das Gesicht der Mutter, die ihr Leid über den visuellen Kanal sozusagen implantiert.

Die unbewusste, schädigende Beziehungsform wird deutlich, meist ist Weinen in Trauer oder Wut oder Hass die Folge, bei vorausgehendem Versuch, die Intropression der Affekte durch ein manchmal verzweifeltes Abwenden des Blicks zu vermeiden. Eine andere Reaktion kann sein, zu sagen oder zu schreien: „Schau mich nicht so unglücklich, vorwurfsvoll oder bedrängend an!“

Das freundlich bleibende Gesicht des Therapeuten ist ein alternatives Angebot, dass der Patient durch oft wiederholtes Anschauen in sich aufnehmen darf als Gegengewicht zu den schwächer werdenden, über den oft unausweichlichen Blich der Mutter inrojizierten Introjekten. Der Therapeut muss es allerdings aushalten, vorübergehend forschend und sogar saugend oder staunend angeschaut zu werden, im positiven Fall Augenweide zu sein, bis sich ein anderes Gesichtserleben langsam verfestigt und einen neuen frühen Beziehungskern bildet. Ein anderer transmodaler früher Beziehungskanal wäre in der tiefen Regression das Halten der Hand, über das ich mehrfach geschrieben habe.

Ein Blickkontakt in einer der letzten Stunden

Eine knapp fünfzigjährige Chefsekretärin klagt über ihren Alkoholigervater, der zugleich übermäßig streng, aber auch ihr gegenüber sich fst klebrig verhalten habe. Mit seinem Blick auf sie sei etwas komisch gewesen. Ich ermutige Sie, sich den Vater als etwa achtzehnjähri8ge vorzustellen und sich auf sein Augen zu konzentrieren. Sie versucht es erfolgreich und sagt plötzlich: „Mir wird schlecht!“. Ich darauf: „Können Sie ihm sagen, was sie ihm über seinen Blick sagen könnten?“ Sie, nun direkt zu ihm, plötzlich, zwischen ängstlich und herausfordernd: “Ich kann deinen hündischen Blick nicht ertragen, hör auf, mich so anzustarren, es ekelt mich, und ich werde wütend. Du dringst in mich ein, du versuchst mich zu bannen, du saugst an mir, ich verachte dich und habe Mitleid mit dir und würde am liebsten verschwinden aus der Wohnung.“ Ich musste sie zwischendurch ermuntern, dranzubleiben und sich nicht abzuwenden, was sie sich als Kind nicht getraut hatte.

Es war wichtig, dass ich als ermutigender Zeuge gegenwärtig war. Die Szene gegen Schluss der Stunde dauert etwas 10 Minuten und war für uns beide anstrengend. Sie sagte am Ende, sie sei erschöpft. In der nächsten Stunde bedankte sie sich: „Ich glaube, er hat mir zum ersten Mal zugehört, sein Blick hat sich verändert, ich spürt eine Wirkung, wusste vorher nicht, wie verzweifelt und unbewusst wütend ich war. Das verschlingende Introjekt ermäßigte sich. „Ich kann anfangen ihm zu verzeihen. Es könnte noch zu einer Begegnung kommen, die ich seit Jahren vermieden habe.“