Tilmann Moser

Die Edathyhatz

Gedanken eines Psychoanalytikers

Tilmann Moser (2014)

Die Sozialpsychologie der Hysterie

Früher musste, wer sich mit Lepra angesteckt hatte, mit einer Schelle oder Rassel zur Warnung vor Ansteckung herumlaufen, bevor er ins ummauerte Ghetto oder auf eine ferne Insel verbracht wurde. Der schnelle und fast populistische Versuch von Sigmar Gabriel, das Ekeltier Edathy rasch aus der Partei auszuschließen zu lassen, zeigt in der Hatz auch die Hetze beim Versuch der kollektiven Selbstreinigung vor ihm. In der streng moralisch denkende, altisraelischen Gesellschaft gab es das Ritual des Sündenbocks: Jeder durfte ihm die während eines Jahres gesammelten Verfehlungen und Sünden aufladen, worauf dieser mit Getöse in die Wüste geschickt wurde.

Es gibt jeweils individuelle und trotzdem massenhaftes Schuld- und Schamgefühl, das sich nach stellvertretender Entsühnung sehnt, es gibt aber auch eine lauernde kollektive Schuld, die, um Martin Walser zu zitieren, als Moralkeule noch immer auf uns Deutsch niedersaust, trotz weltweitem Lob über unsere vorbildliche Bewältigung der NS-Vergangenheit. Dass die zweite Generation unter der Arbeit der Verleugnung oder den Neurosen der seelischen Vererbung der Schuld ächzt, zeugt für die lange Nachwirkung der Katastrophe. Und die Erbschaft in der Enkelgeneration fängt gerade an, die Wissenschaft, die Literatur, die Filme und die öffentliche Debatte zu beschäftigen. Natürlich ist ein direkter Zusammenhang zwischen der Edathyhysterie und den Nazifolgen nicht direkt nachzuweisen, aber er ist plausibel, wenn man die Wut des medialen Anklage- und nationalen Reinigungsprozesses bedenkt. Es ist der ins Unbewusste abgesunkene Gedanke, unsere Holocaust-Schuld sei nicht wirklich zu Ende gebüßt, und noch heute werden deshalb 90-jährige Mittäter unterster Grade verfolgt, als ob die moralische und juristische Reinigung noch nicht vollendet sei, man denke nur daran, dass kein einziger Jurist je verurteilt wurde, Kriegsverbrechen in Italien ungesühnt blieben und die Kriegsverbrechen in Griechenland noch immer kaum Thema sind. Politische latente Schuld- und Schamgefühle darf man sogar angesichts des wachsenden Rechtsradikalismus oder dem Umgang mit Flüchtlingen oder dem massenhaften Kindsmissbrauch in der Kirche vermuten. Die Hetzjagd nach einem endlich enttarnten Sünder bietet verdeckte Entlastung und Distanzierung für die Unterwelt kollektiver Untaten. Und in Sachen verheimlichter Süchte gibt es ebenfalls viel Schuld- und Schamgefühl, weil mutmaßlich Hundertausende betroffen sind.

Der klinische Begriff der Hysterie bei der Hatz und der „politische Ausarbeitung ist“ durchaus angebracht: bedeutet er doch, dass unter der lärmenden Oberfläche tiefere Abwehrprozesse stattfinden: durch Freud entdeckt die kindliche Sexualität mit all ihren Verkleidung, in der Politik ähnliche Urthemen wie Macht, Konkurrenz, Verrat, Verfolgung, Verdächtigung, Ansteckungsangst. Hinzu kommt: Für kluge Beobachter waren die letzten beiden Monate des Beginns eines langweiligen Schmusekurses der beiden Volksparteien journalistisch fast eine Sauregurkenzeit. Da kam der ins Gigantische verzerrte Aufreger einer vielleicht gar nicht strafrechtlich relevanten Affäre einer unappetitlichen Sucht eines Politikers gerade recht, um die Hämemeute, (von den ernsthaften Kommentatoren und investigativen Berichterstattern rede ich nicht), von der Leine zu lassen. Alle wollten ihren Enthüllungseifer beweisen, und die verlegenen Politiker wetteifern, ihre Unschuld an den undichten Stellen behaupten.

Und plötzlich spielen auch noch Rachegedanken eine Rolle, Aufklärungswut in Form von institutionalisierten Beichtritualen, Untersuchungsausschusstribunalen, als könne man die Gespenster der vor sich hin galoppierenden Gerüchte so wieder einfangen, in der Hoffnung, dass die aufgeregten Harmonie- und Vertrauensreparaturappelle wieder greifen könnten. Schmuddelaffäre und Staatsaffäre fallen zusammen und gehören in der Tat wieder getrennt.

Heribert Prantl schreibt (20.2. in der Süddeutschen Zeitung): „Der Fall des Sebastian Edathy ist beschämend und bestürzend genug. Es muss nicht sein, dass die große Koalition in Berlin auch noch so abstoßend damit umgeht. Die Koalitionäre sind dabei, aus einer Tragödie ein Schmierentheater zu machen ... Das ist nicht Politik, das ist ein Ärgernis.“ Und Tina Hildebrandt meint in der ZEIT (20. 2.): „Noch kann niemand sagen, durch wie viele Etagen der Regierung und in welche Richtung sich das politische Gift fressen wird, das der Fall Edathy freigesetzt hat.“ Der Gebraucht des Wortes Gift ist durchaus bemerkenswert und vermutlich zutreffend. Auch sie spricht von „akuter Neurose“. Aber vielleicht wird das Hype-Ereignis zu einem hilfreichen Lehrstück.

Mutmaßungen zur Person des Ertappten

Um die Hauptcharakterisierung des TäterOpfers vorweg zu nehmen: Sebastian Edathy ist ein einsamer, innerlich gespaltener Junggeselle, einzige wirklich nahe vertraute Haupt“person“: ein weißer Hund; weit und breit keine Frau zu sehen, privat extrem zurückgezogener Mann mit einem Gesicht, auf dem folgende Gesichtszüge sich abwechseln: negativ vergrübelt, misstrauisch, lauernd, affektiv uneindeutig und gespalten zwischen einem introvertierten und einem kontrollierend extrovertierten Auge. Positiv: gilt er als kämpferisch, denkerisch, entschlossen, tatkräftig, zielstrebig, auch „akribisch, gnadenlos, mit finsterer Wut oder mit leisem Spott“, (Mariam Lau über sein Verhalten als Vorsitzender des NSU-Ausschusses, ZEIT, 20. 2.) Er galt auch als bemühter Strahlemann, der Tatkraft, Ermutigung und Zuversicht signalisieren will. Er gilt als Einzelgänger, der Spiegel schreibt (8, 17. 2.): „Sein Privatleben blieb Tabu.“ Es heißt, er habe erwogen, nach dem Abitur selbst Priester, dann Pfarrer wie sein Vater zu werden.

Das alles spricht für ein seelisches Doppelleben: extreme Öffentlichkeit als Politiker, und ebenso extreme Verschlossenheit, verbunden mit Scham, Unsicherheit und möglicherweise Schuldgefühlen. Hinzu kommen biographisch Mobbingerfahrungen, Hassbriefe nach Fernsehauftritten mit vermutlich rassistischem Hintergrund, dazu latente Verfolgungsgefühle, dramatisch aktiviert durch die Angst vor Entdeckung seit längerer Zeit und die explodierende, nicht mehr überschaubare Verfolgung.

Dazu: Suchtartiger langfristiger Kauf von pädophilen Videos und Bildmaterial, zum Teil konspirativ organisiert durch wechselnde Adressen und Zahlungsformen: Folge: Straf- und Entdeckungsangst, mit schwer bestimmbaren Quanten und Verarbeitungsformen. Vermutung, ganz ähnlich wie bei vielen unter dem Doppelleben des Zölibats lebenden Priestern: neben der Qual erotischer Abstinenz und deren schwierige Handhabung nächtliche Videositzungen vor gerade noch nicht strafrechtlich relevantem pädophilem Bildmaterial und den unendlichen Verlockungen am überreichlich quellenden Pornomaterial am Bildschirm.

Zurück zum stellvertretenden Sünder: Trost der Identifizierung mit fröhlicher, exhibistischer Jugend erotische und sexuelle Erregung, vielleicht einsame Selbstbefriedigung mit Scham und Katzenjammer, Trauer um eine vermutlich verquere oder missglückte Pubertät. Dies stellt keine Anklage oder Denunzierung dar, sondern die Einfühlung in Hunderttausende, von denen vielleicht Tausende den Weg zu therapeutischer Hilfe finden, wenn der Leidensdruck groß genug wird.

Vorsichtige diagnostische Hauptthese: narzisstische Gefährdung, latente Depression mit Kompensation durch Ehrgeiz, Arbeit, öffentliche Sichtbarkeit und Anerkennung, und heimlichem Suchtverhalten mit hohem Tarnungsdruck: Eine noch längst nicht wirklich krankhafte Störung, sondern eine weit verbreitete Störung mit geringer Entlastung durch vertraute Gespräche mit Freunden oder einer Frau.

Indikation: im Prinzip vielleicht längst behandlungsbedürftig, aber offenbar noch ohne ausreichenden Leidensdruck und Hoffnung auf mindestens Beratung ausgehaltene Belastung, die noch lange noch abgewehrt werden konnte, weil seelische Verletzbarkeit, Hilfsbedürftigkeit und Kränkbarkeit in diesem Ausmaß selbst wieder tief beschämend sind. Dazu: Möglicher Medikamentengebrauch oder sogar -missbrauch zur Angstminderung oder Vitalisierung ist nicht bekannt, aber möglich und weit verbreitet. In Edathys inzwischen bedrohlicher Kränkung zeigt sich angesichts der Hatz inzwischen eine Bereitschaft zum Umsichschlagen mit juristischem Gegenangriff und Gegenverleumdung.

Psychologische These zur Lebenskrise: Der befürchtete Einbruch kam nach einem ängstigenden Vorlauf, seit sein Name in den Versandunterlagen der einschlägigen kanadischen aufgeflogenen Firma genannt wurde, und er kam jetzt mit medial vervielfachter Wucht. Angesicht des Doppellebens in Angst und Scham ist schwer absehbar, ob und wann die zu erwartende Krise auch ohne die Hatz gekommen wäre: Ermüdung, zunehmender Leidensdruck, Selbstzweifel, Leistungsdruck durch höhere Ämter, die anstanden, soziale Isolierung bei massivem Kontaktzwang durch den Beruf, private Isolierung ohne ausreichende Erholung.

These: Viele gravierende Lebenskrisen mit hohem Eigenanteil biographischer und einigermaßen neurotischer Verursachung sind letztendlich Chancen, für die man nach deren Überwindung (für die oft Hilfe notwendig ist), dem Schicksal dankbar sein kann, vorausgesetzt, ein neuer Lebensentwurf kann gefunden werden. Für die Soforthilfe für anzunehmende sich steigernde Verzweiflung, Einsamkeit und Scham wäre eine psychotherapeutische Klinik vielen anzuraten, gegen Verstärkung der Depression, möglichen Alkoholabusus und suizidale Trostphantasien oder deren reale Verlockungen. Und danach eine lange psychotherapeutische Begleitung. Ein weniger schambesetztes Coaching, das inzwischen auch in als gesellschaftsfähig gilt, wäre bei so fast lebenszerstörender Schwere vermutlich nicht genug. Und ob er und viele sich helfen lassen würden, ist noch völlig offen. Ich möchte Edathy als durchaus exemplarischen Fall nicht in eine psychiatrische Kategorie einreihen, sondern ihm und mit ihm Vielen eine wohlwollende psychologische Diagnose für einen erheblich belasteten Menschen zukommen lassen, wie sie in Deutschland und anderen europäischen Gesellschaften zu Tausenden existieren, zum Teil in hohen Ämtern und auf hohen wirtschaftlichen Posten, mit hohem Anteil stützender Kompensationen und der Möglichkeit, Andere leiden zu lassen, bevor sie selbst leiden.

Statistisch ist der Prozentsatz der anderweitig Süchtigen in den oberen Etagen der Gesellschaft natürlich nicht erfasst, aber wenn man die Umsätze von Drogen, Alkohol, Thailandreisen, Psychopharmaka, Bordellbesuche, Escortkosten, Seitensprünge, Nebenehen, Kindsmissbrauch, Pornokonsum, Steuerbetrug und Anderes überschlägt, dann versteht man, wieso sich unterschwellig viele Zeitgenossen bewusst oder unbewusst angesprochen fühlen von der „Schuld“ des jetzt Ertappten und froh sind, dass einem Stellvertreter jetzt gründlich das Handwerk gelegt wird. Empörung tut gut gegen den Griff an die eigene Nase. Verniedlicht heißt es in einem Faschingslied: „Wir sind doch alle kleine Sünderlein!“