Tilmann Moser

Die Kunst des Wartens

Tilmann Moser (2013)

Über das Schweigen des Analytikers im Verlauf einer Psychotherapie ist immer wieder diskutiert worden: Wie lang soll er, wie lang darf er, wann ist es förderlich, wann für den Patienten quälend oder sogar grausam? Das Menschenfreundichste wäre es natürlich nachzufragen, wenn der Analytiker, falls er unsicher ist oder beim Patienten Zeichen von Ungeduld, Sehnsucht Überdruss, Angst war nimmt, oder im Gegenteil den Wunsch nach Schweigen oder Stille, weil er sich bedrängt oder überschwemmt oder zu sehr gefordert fühlt, durch Fragen, Deutungen oder gar zu viel an ihn herangetragene Empathie.

Der Patient kann dankbar einen unerwartet angebotenen Raum der Ruhe und des Fühlens genießen, oder aber sich verlassen, ja im Stich gelassen fühlen, wenn von hinter der Couch nichts kommt. Er weiß in der Übertragung ja oft nicht: Ist es Geduld, Gewährenlassen, Müdigkeit, gar Überdruss, oder Gleichgültigkeit, Anforderung, Prüfung oder Strafe.

Eine Supervision mit einem erfahrenen, oft aktiv hilfreichen, Anregungen gebenden Therapeuten brachte mich auf den Segen des Schweigens und des Warten: Übertreibend nenne ich ihn in diesem Fall mit einer Patientin, bei der sich nach zwei Jahren Therapie noch wenig regte, die wenig über ihre Gefühle wenig sagen konnte, immer wieder lähmend verstummte, und, wie er meinte, ihn „auflaufen“ ließ, bis er sich über sie und seine wachsende Ungeduld ärgerte: einen vorantreibenden Aktivisten. „Ich habe alles probiert: Fragen, Deuten, Vorschläge machen, ihre wenigen Sprachlaute in ihrem Klang nachahmend spiegeln; Sätze einladend vorsprechen in der Annahme, ihre Gefühle so aufzufinden; ich habe, auch körpertherapeutisch geschult, ihre Gesten und kleinen Bewegungen angesprochen; auf ihren Atem hingewiesen, sie zu Bewegungen angeregt, nach Körperempfindungen gefragt. Zuletzt kam nur immer wieder: Ich kann nicht. Ich bin ratlos.“ Er brachte alles vor, was er probiert und ausprobiert hatte, bis ich endlich in mir steigendes Unbehagen und Ungeduld spürte über den immer größeren Leistungs- und dann auch Versagensdruck, in die er geriet. Zuletzt hielt er das Verhalten der Patientin für Widerstand, Trotz oder Machtkampf als letzte Zuflucht. Dabei geht es um ein tiefes Unvermögen, sich über Gefühl zu verständigen, sowohl nach außen wie nach innen. Auch die Suche nach bösen Introjekten der Weigerung oder der Angst führt zu nichts, sie fördert höchstens die überwältigend Scham, die die Patientin lähmen kann. Sie ertrinkt in den oft lebenslänglichen Urteilen der Unfängigkeit.

Schließlich rettet er sichs ins sogenannte Gegenschweigen und brütet über seine Ohnmacht.

Unnachahmlich hat dies Michael Balint in seiner Arbeit über die „Grundstörung“ ausgedrückt, in der er auf die „tiefgreifende Veränderung der Atmosphäre“ hinweist, wenn der Patient sich dieser Eben nähert: „Im Vordergrund steht die Tatsache, daß die vom Analytiker gegebenen Deutungen vom Patienten nicht mehr als Deutungen aufgefaßt werden. Stattdessen empfindet er sie als Angriffe, Forderungen, gemeine Unterstellungen, unverdiente Grobheit oder Beleidigung, Ungerechtigkeit oder zumindest Rücksichtslosigkeit … „ (S. 28). Und die Folgen beim Patienten: „so kommt es in der Übertragung zu keinem Anzeichen von Ärger, Wut, Veracht5ung oder Kritik, wie es auf der ödipalen Ebene der Fall wäre. Man kann einzig beobachten, daß es zu einem Gefühl der Leere, Verlorenheit, des Abgestorbenseins, der Sinnlosigkeit usw. kommt, verbunden mit scheinbar leblose Hinnahme dessen, was dargeboten wird.“ (S. 29)

Wenn der Analytiker in diesen Zustand geraten ist, gibt es nicht mehr viele Auswege. Einer ist zu oft angeboten worden: Der Analytiker möge seine Hilflosigkeit und Ohnmacht bekennen. Das kann in vielen Fällen helfen, wenn der Patient das Angebot als Solidarität in der therapeutischen Sackgasse erlebt. Der gekonnte Umgang mit der“projektiven Identifizierung“ wäre der nächste Schritt. Sie bedeutet, als Deutung, dass der Patient den Analytiker fühlen lassen will oder muss, wie er sich selbst fühlt. Er transplantiert also seine Grundstörung in den Therapeuten. Wenn dieser das Phänomen wiederum nur „deutet“, ist er bereits wieder Täter, weil sich der Patient einer Untat bezichtigt fühlt. Es hilft nur, dass er einfühlsam mitteilt, er spüre nun den schrecklichen innere Zustand des Patienten. Der kann dann aufatmen, wenn die Mitteilung ihm emotional glaubhaft klingt und er spürt, dass sei Partner die Dimension der namenlosen Verzeiflung verstanden hat.

Ausgehend vom „Gegenschweigen“ als aggressivem Selbstrettungversuch des Analytikers kommt Johannes Cremerius in seiner grundlegenden Arbeit über das „Schweigen als Problem der psychoanalytischen Technik“ zu folgenden Einsichten: Schweigen muss „zu einem Akt mitfühlender Teilnahme“ werden, heißt es in seiner noblen Würdigung von Sandor Ferenczi. (S.32) Und er erläutert die Gründe, warum das Schweigen überhaupt zu einem umfängliche Problem der Psychoanalyse wurde, während der frühe Freud „Schweigen nur als einen Störfaktor betrachtete“ um mit dem Druck der Hand auf die Stirn den Patienten zum zu Sprechen zubringen suchte: „Daß es eines so langen und beschwerlichen Weges bis dahin bedurfte (das Schweigen ernst zu nehmen als wichtige Kommunikatonsform, tm), hat zwei historische Gründe. Der eine ist der, daß die Psychoanalyse als Forschungsmethode in ihren Anfängen den sprechenden Patienten brauchte, um ihre Hypothesen prüfen und mit Beweismaterial belegen zu können … ;“ (S. 38) Und er kommt zu dem späten versöhnlichen Schluss: „Das Schweigen bezieht sein Glücl und seine Befiredigungaus dem harmonischen Verbundensein, Einssein mit dem anderen, sich fühlend verstehen. (Nur, tm) „Im Falle derBeziehungsstörung wird es zum Ich-Schutz und dient der Abwehr (Trotz, Verschweigen, Aggression).“ (40)

Cremerius deutet auch den eigenen langen Weg zu diesem neuen Verständnis an, indem er schreibt: „Der Patient erlebt sich als leer, wie tot. Ich lernte diese beiden Formen, das glückliche Schweigen im Vereintsein und das Verlorensein, Getrenntsein durch die Beobachtung vom Körpervorgängen am Patienten unterscheiden. Während der glücklich Schweigende entspannt, gelöst, frei atmend daliegt, liegt der Schweiger im Objektverlust bewegungslos, leblos, wie verloren da.“ (40) In diesem Fall „sind Deutungen in der Regel wirkungslos.“ Unnachahmlich diskutiert Cremerius die Formen des Schweigens in der neurotischen und konflikthaften Verstrickung als Kampfsport des Recht-Habens, bei am Ende beide ermattet auf der Strecke bleiben.

Obwohl Cremerius aller körpertherapeutisch aktiven Initiative abhold war, bildet seine „Beobachtung von Körpervorgängen“ doch eine Brücke zur stärkeren Wahrnehmung des Körpers mit dem von der Analytischen Körpertherapie gewählten Weg des berührenden Umgangs mit dem Körper.

Bei schwer traumatisierten Patienten, die den Notausgang des Nicht-mehr-Fühlens wählend mussten, geht es darum, einen Raum zu schaffen, in dem sich Prototypen des Fühlens erst einmal wieder geigen dürfen. Sie darf sie als verschüttet oder eingefroren verstehen, in dem Wissen, dass ihr vom Kind verzweifelt wiederholtes Auftauchen immer wieder zu erneuter Traumatisierung durch unempathische oder grausame Reaktionen der Pflegepersonen führten.

Dies führt direkt zur therapeutische Dimension des Wartens als heilungsfördernder Grundhaltung. Da es sich auch um intrauterine, perinatale oder früheste Beziehungsstörungen zwischen Mutter und Säugling handeln kann, entspricht die psychotherapeutische Kunst des Wartens auf der entwicklungspsychologischen Ebene durchaus in gewissem Umgang den natürlichen Reifungsprozessen und deren geduldiger Handhabung. Balint nennte die notwendige Extenzform des Analytikers in solchen Phasen, im Gegensatz zu der eines konturierten oder teilkonturierten , Deutungen spendendes Objekts eine schützende und nährende Substanz. In einer radikaleren Ausdruckweise hat er die Funktion der Plazenta oder nach der Geburt einer symbiotischen Umhüllung. Er schreibt: man könne „ den Ursprung der Grundstörung bis in die frühen Entwicklungsphasen des Individuums zurückverfolgen und stößt dort auf eine Diskrepanz zwischen seinen bio-physischen Bedürfnissen und er materiellen und psychischen Versorgung, Wartung und Zuneigung, die ihm in diesem entscheidenden Zeitraum zuteil wurde. Dies führt z einem Mangelzustand, dessen Folgen und Nachwirkungen nur noch zum Teil reversibel zu sein scheinen.“(33) Balint wäre nicht der gleiche, wenn er in das Wort „scheinen“ nicht seine ganze Zukunftshoffnung auf die Entwicklung der Psychotherapie hineingelegt hätte.

Was auf das Individuum zukommt, wenn die schützenden Substanzen ihre ausreichende Wirkung getan haben, schildert er wie folgt, auch für den Bereich der modernen, damals noch nicht so bezeichneten intersubjektiven Therapie: „Objekte einschließlich des Ichs scheiden sich aus der Verschmelzung der Substanzen aus , die Harmonie mit dem Grenzenlosen zerbricht. Im Gegensatz zu den freundlicheren Substanzen besitzen die Objekte feste Umrisse und scharfe Grenzen, die alsbald wahrgenommen und respektiert werden müssen.“ (83)

Mein Supervisand hatte solche Mühe, aus dem verzweifelten Aktionismus des Deutens auszusteigen, dass ich ihn bat,sich auf die Couch zu legen, meine Hand zu nehmen und zu versuchen, ganz ruhig zu werden. Er verabschiedete sich aus dem anstrengenden Blickkontakt, wurde ruhig und geriet in die „glückliche Form des Schweigens“ zusammen mit mir. Aber da auch er eine traumatische Kindheitsvergangenheit hat, gelang ihm eine weitere Regression auf die Stufe der frühen Verzweiflung, und es stiegen Tränen in ihm auf. Auch ich hatte die Augen geschlossen und wurde für kurze Zeit “Substanz“, von der er sich trennen musste, als er am Ende der Stunde wieder aufstand.

  • Balint, Michael, Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung. Stuttgart 1070
  • Cremerius, Johannes, Schweigen als Problem der psychoanalytischen Technik, in: ders. Vom Handwerk des Psychoanalytikers: DasWerkzeug der psychoanalytischen Technik. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1984