Tilmann Moser

Eine Mutter in Leere und Angst

Tilmann Moser (2014)

Viele Bezeichnungen wurde im Lauf der Jahrzehnte gefunden für Patienten (und deren irritierende Angehörige), mit denen Psychoanalytiker, Therapeut und Psychiater nur schwer zurechtkamen, und die weitgehend ohne Emotionen schienen: man nannte sie gefühlsarm, stumpf, langweilig, affektverarmt, unkommunikativ, gar verstockt, emotionslos, dumpf, autistisch, unergiebig, übertragungsunfähig, usw. Die Häufung zeigt, wie sehr Psychotherapeuten mit ihrem Umgang Mühe hatten, wenn sie sie nicht nach ein paar probatorischen Sitzungen als ungeeignet wegschicken oder sie schon am Telefon als lähmend abwiesen.

Falls sie sie doch annahmen und sich abmühten, im Untergrund ungreifbare Affekte aber vermuteten und sich der Hoffnung hingaben, sie aus ihrer ängstlichen Dumpfheit „erlösen“ zu können, dann liefen die diagnostischen Vermutungen oder Überzeugungen in die Richtung: gravierende frühe Defekte, Konflikte und Traumata hätten sie zur Aufgabe von Gefühlen gezwungen, oder die Affekte seien „unaushaltbar“ (Hermann Beland) gewesen und aus Überlebensgründen verdrängt oder gar grausam beseitigt worden: Stumpfheit als Überlebenstechnik. Viele tiefenpsychologischen Therapeuten und Analytikern gelang es, soweit die Diagnose zutraf, die Abwehrbarrieren langsam aufzulösen und Hilfestellung zu geben bei der Integration der frühen und überwältigenden Erlebnisse.

Jeder Therapeut kennt die Genugtuung, wenn scheinbar verschwundene Affekte wieder sichtbar, fühlbar und aushaltbar wurden. Die Rückkehr verloren gegangener Empfindungen war quasi der Dank für die gemeinsam durchlittenen Durststrecken lange vergeblicher Deutungen und empathisch vorgetragener biographischer Vermutungen. Der ewig wieder vorgebrachte Mangel an Erinnerungen hatte die Frustration der Analytiker verstärkt, und Zeichen bleibender und oft unverständlicher Ängstlichkeit und Lebensangst hatten die mühsam immer wieder die Hoffnung genährt, deren traumatische Quellen noch aufzufinden.

Es gibt aber Patienten, die mit unaushaltbaren Konflikte und Emotionen umgehen und sie unfühlbar machen mussten. Sie hatten keine Möglichkeit, Gefühle überhaupt kennen zu lernen und den Umgang mit ihnen zu üben. Ihre eigene Leere war die Folge der Leere ihrer frühen Umgebung, die emotionale Kommunikation nur in Ansätzen bot. Ein Beispiel:

Eine etwa 45-jährige Gruppenberaterin meldete sich, die daran litt, dass sie trotz erfolgreichem Beruf, guter sozialer Orientierung und bewährter und tragender Partnerbindung sich nicht von einer überanhänglichen und klammernden Mutter lösen konnte. Wir versuchten kleine Schritte von Grenzsetzung und Distanzierung zu erarbeiten, und es gelang, wenigsten die Schuldgefühle über diese langsame seelische Entfernung zu mildern. Wir stießen auf eine frühe, tief parentifizierte Identifizierung mit der oft leeren und ängstlichen Mutter, die unbewusst und zäh signalisierte, dass sie eine Trennung vom Selbstobjekt nicht ertragen würde.

Die Patientin konnte sich weder Ihrer Überfürsorglichkeit erwehren, die die Kindlichkeit der Mutter und ihre beim Kontakt mit der Tochter unmittelbar einsetzende Regression nur verstärkte, noch ihre heftigen Wutanfälle handhaben, die gelegentlich auch als Attacken von Resignation und Lähmung auftraten. Sie schwankte zwischen Mitleid und zornigem Unverständnis, vor allen dann, wenn Fragen nach Kindheits- und Jugenderinnerungen der Mutter wieder einmal völlig ergebnislos geblieben waren. Das einzige, auf das sich die Mutter selten genug besinnen konnte, waren optische Eindrücke aus ihrer Wohnung, an Gegenstände und Möbel, und Straßen und Hausfassaden ihres frühen Wohnortes.

Nach einem lähmenden und verzweifelten Rückfall der Patientin nach einem mehrtägigen Aufenthalt der Mutter in ihrer Wohnung machen wir uns an die Rekonstruktion der frühen Umwelt der Mutter. Diese ist die vierte Tochter einer Handwerkerfamilie, und zur Enttäuschung der Eltern leider nur wieder ein Mädchen. Diese sind unermüdlich tätig, haben wenig Zeit für die Kinder, das vierte läuft eben, fast in einer Schattenexistenz, eben so mit. Es wird wenig gespielt, erst recht nicht über Gefühle geredet, ja diese werden kaum wahrgenommen, nicht benannt und erst recht nicht gelernt. Die Depression der stets überarbeiteten Mutter hat ihre Auswirkung auf die Jüngste, die es verlernt, zu fragen und sich zu wehren.

Sie bringt es kaum über eine fast apersonale, konkretistische Wahrnehmung der gegenständlichen Umgebung hinaus, selektive Eindrücke, die anders al emotionale, wahrgenommen dürfen, und die um so deutlicher haften bleiben. Im Untergrund bildet sich eine nicht benennbare Lebensängstlichkeit, die sich beim Herannahen des ersten Weltkriegs und den ersten bekanntwerdenden Schrecknissen noch vertieft. Gefühle bleiben, falls es sie ansatzweise gibt, diffus und werden vermutlich eher als störende innere Ereignisse empfunden, die keiner sozialen Reifung unterliegen. Neugier war quasi innerfamiliär verpönt.

Solche emotionalen Mangelzustände, vorwiegend in der Unterschicht früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte, sind auch heute noch in der Vorgeschichte älterer Patienten zu finden, und sie konnten sich im Lauf des gesamten Lebens wiederfinden.

In unserem Fall fiel auch der vielbeschäftigte und wortkarge Vater als Anregungsinstanz und vor allem als Retter aus der früh mütterlichen Umklammerung aus. Es ist sogar kaum vorstellbar, dass solche Väter, schon gar nicht an proletarischen Fabrikarbeitsplätzen, aber auch als brummige Werkstattinhaber, ihr oder ihre kleinen Töchter als häufige Besucherinnen am Arbeitsplatz zuließen. Eher vermittelten sie, vor allem bei beruflichen Sorgen, ihrer kleinen Töchtern, statt einem neugierigen und zunehmend mithelfenden Sohn eher das Gefühl, dass sie störten.

Die hilfreichere Methode als das Interpretieren und Deuten ist eine Mischung als Einfühlung und durchaus pädagogisch-therapeutisch gemischter Zuwendung mit dem Ziel des Gefühlserkennens, dem Wagnis der Neugier und des Fragens, dem bisher ungeübten Körpererleben und der Förderung einer zunächst rudimentären Introspektionsfähigkeit mit der Verbindung von Wort und keimendem Affekt. Der Therapeut wird zum geduldigen Lehrer bei einer verpassten „Seelenreifung“, sein Lohn sind, statt eines frustrierenden Scheiterns mit diagnostischem Fehlgehen der Deutungen, kleine Erfolgen des Fühlens und Sprechens und einer aktiver werdenden Auseinandersetzung mit der Person des Therapeuten, die allmählich zu dem führen kann, was man Übertragung nennen kann.

Auch die Gegenübertragung sieht ganz anders aus: sie nährt sich nicht mehr aus einem Versagens- und Vergeblichkeitsgefühl, sondern aus den kleinen Lernerfolgen von einem Kind, das seine notgedrungene Fixierung aus regressive Unreife allmählich überwindet. Er wird sozusagen zum Lehrer eines retardierten Kindes, dem er nicht vorwurfsvoll begegnet, sondern mit der Erlaubnis zu einer Regression, auf deren Ebene der Neubeginn des Lernens einsetzen kann. Es kann sich durchaus als ein mütterliches Geschäft anfühlen, oder ein solches für den inzwischen stärker beachtete père maternel, das eine ganz andere Art von therapeutischer Befriedigung mit sich bringt.