Tilmann Moser

Erste Erfahrungen mit der ersten Mittelmehrkreuzfahrt

Tilmann Moser (2013)

Für die Woche nach Pfingsten suchten wir etwas verspätet eine achttägige Mittelmeerkreuzfahrt, auf einem nicht zu großen Schiff. Aber diese Art war ausgebucht, also empfahl die Agentur uns ein Schiff mit einem blumigen Phantasienamen: das Schiff sei etwas größer als das gewünschte. Auf genaueres Nachfragen erfuhren wir, dass eine mittlere Kleinstadt an Bord gehen würde: 4500 Passagiere. Die Preise schienen erschwinglich, trotz Außenkabine mit kleinem Balkon. Ich möchte betonen, dass ich weiter Kreuzfahrten buchen möchte, selbst auf Massenfahrzeugen mit zehn Wohndecks, weil ich viel gelernt habe über den gedeihlichen Umgang mit ihnen. Man möge den gelegentlich leicht sarkastischen Ton also nicht zu ernst nehmen.

Die „Einschiffung“ der 4,5 Tausend, fast die Teilnehmerzahl an der Bergpredigt mit Jesus, der die Aufgabe noch ohne viele umfassend verteilte Mikrofone hinter sich gebracht hat, (ohne Massenbuffet und sechs weiteren Restaurants mit Bedienung und echtem Porzellan, und nur mit ad hoc wundersamerweise herbeigeschafften rohen Fischen und ungesäuerten Broten - es sollten sogar noch einige trockene Brote übrig geblieben sein) - erfolgte innerhalb von vier Stunden schubweise, mit langen, mehrfach hintereinander geschalteten Warteschlangen zu Aushändigung der Bordkarten, der Passkontrolle und der peinlich genauen Gepäckdurchleuchtung.

Die nach längeren Irrgängen aufgefundene Kabine war erstaunlich elegant eingerichtet, fast geräumig, und der Balkon entzückte, auch wenn die Sessel so niedrig waren, dass man ein dickes Relingbrett samt Eisengeländer vor den Augen und Nase hatte. Wir behalfen uns, um ein wenig Aussicht zu genießen, mit den dicken Rettungskissen im Schrank, die wir zur Erhöhung der Aussichtsmöglichkeiten auf die Sessel legten. Leichtsinnigerweise ließen wir sie mittags dort liegen, doch der schon am frühen Nachmittag erneut auftauchende Zimmerservice legte die Kissen deutlich mahnend in die obersten Schrankfächer zurück. Dafür entfaltete das Zimmermädchen später unsere Nachtgewänder in textile Legekunstwerke und zauberte aus den täglich frischen Handtüchern einen anmutigen Schwan mit lila Zierschleife.

Die Beschallung auf den zwei Promenadendecks mit den sehr kalten Schwimmbädern für allerlei notwendige Ansagen war oft ohrenbetäubend und lange, weil sie meist in vier europäischen Sprachen verabfolgt werden mussten, später vermutlich nach Protesten in sieben, wegen der vielen anwesenden Japaner, Chinesen und weitere Ostasiaten. An Animation gab es viel zu bestaunen und eventuell (!)mitzumachen, herausragend die Tanzkurse in der Panoramakuppel, sodass man von außen bewundern konnte, wie beherzt gut über fünfzig Herren aller Schlankheits- oder Vollschlankheitsformen zielstrebig nach ihren Partnerinnen griffen. Im Reiseteil einer deutschen Tageszeitung konnte man lesen, dass für einen Schiffsplatz garantiert ohne Animation, Dauerbeschallung und etwas geringerer Belegung schon ab einem tausend Euro mehr bezahlt werden müssten.

Überhaupt das Publikum: quer durch alle Schichten und Altersklassen und Gehaltsstufen. Aber zu den zwei Galaabenden im Schichtbetrieb gab es viele Herren im schwarzen Anzug (Smoking?) und tief ausgeschnittene und hochbeklunkerte Damen in beeindruckenden Gewändern aus vermutlich dicken Koffern. Auch der Kapitän soll sich unters Volk gemischt haben, wir versäumten allerdings den Fototermin mit ihm. Noch einmal zur Schichtung: auf dem Sonnendeck viele silbergraue Herren mit Chefbäuchen neben dünnen Gattinnen oder Sekretärinnen, sehr viel weibliches Übergewicht und dünnste Pubertierende, ein Querschnitt also, aber, um mit dem zweifellos an einem solche Deck hochnäsigen Thomas Mann zu sprechen, auch „ridüles Gelichter“.

Wichtig war es aus vielen Gründen, Ruhe- oder Friedenszonen auf dem Schiff auszumachen, relativ stille Ecken, in denen Sonnenbaden und Lektüre möglich waren. Ebenso wichtig war das Herausfinden von Buffetzeiten außerhalb der Kampfphasen um die opulenten Berge wirklicher Köstlichkeiten vielfältigster Art. Inmitten des Kampfes herrschte eine hektische Gier nach Platten, Besteckrollen, Tischplätzen und Speisen. Als Soziologe und Psychoanalytiker bin ich es gewohnt, mit dem Phänomen von Massenansteckung theoretisch wie praktisch umzugehen, habe das Problem auch untersucht in meinem kleinen Buch „Geld, Gier und Betrug“ einschließlich der psychologischen Seite der Gier.

Als vorsichtig grün angehauchtem Zeitgenossen war mir auch die prekäre Nahrungssituation in vielen Weltgegenden bekannt, einschließlich der des europäischen Prekariats. Aber was sich hier an Bord an Gier abspielte, war mir bisher nur von den Festbanketts der hohen Psychotherapeutenverbände bekannt: die Menschen schaufelten sich oft doppelt so viele Speisen auf, als ihnen im Lauf eines ganzen Tages bekömmlich sein konnte, und dabei gab es drei riesige Mahlzeiten am Tag! Entsprechend hatten die schmucken und glänzend uniformierten Bedienungen damit zu tun, Berge von liegengelassener köstlicher Nahrung davonzutragen. Viele begnügten sich bei den aufgehäuften Speisen sogar nur mit wählerischer Verkostung, vor allem Kinder wurde von ihren Eltern kaum genötigt, vorausschauende Berechnungen der Fressmenge anzustellen. Uns überkam ein wenig Scham über den Umgang mit Nahrung, bis uns klar wurde, dass die Feriennvöllerei zum Programm gehört, und Moralisieren ist an einem solchen Ort ohnehin ungesund.

Wichtig schien genauso die unablässige Musikberieselung, der nur an wenigen Orten oder in der wirklichen Stille der Kabinen zu entgehen war. Aber zu unserem Erstaunen drängten sich die Massen gerade dort, wo die Beschallung am lautesten und Unterhaltung nur als sich steigerndes Geschrei zu bewerkstelligen war. Lerneffekte zwei bis vier: rechtzeitig Orte der relativen Ruhe zu erkunden, sich die Wege durch die endlosen verschlungenen Gänge gut einzuprägen, sich Verirrungen nicht allzu übel zu nehmen und anderen ratlos Verirrten mit Humor zu begegnen. Nach wenigen Tagen kann man aber die in elegantes Silber gestanzten Orientierungszahlen an den Treppen und Wänden entziffern und ihnen folgen.

Trotzdem ist zu sagen, dass die Organisation der Ein- und regelmäßigen Ausschiffung für die Besuchsprogramme an den Anlegestellen hervorragen gemanagt war. Vieles musste voraus gebucht werden, aber wenn es in einer Stadt an Land ging und der Hafen vom Altstadtzentrum mehr als einige Gehminuten entfernt war, standen jeweil bis zu zwanzig Busse in einer Reihe parat, man wurde mit Schautafeln des Unternehmens in die vorbestimmten Busse eingewiesen; andere Schautafeln wiesen mahnend darauf hin, wann der letzte Bus zum Schiff zurückfuhr. Die gut eingespielten Teams mit den erkennbar unterschiedlichen Funktionsuniformen und unterschiedlichen Dienstgraden waren hervorragend geschult, wir diagnostizierten das Restaurantpersonal als eher philippinisch, voll nie versiegender Freundlichkeit und mit fast authentischem, also nicht einfach anknippsbarem Lächeln und großer Zuvorkommenheit, auch wenn es sich mühsam durch die gierigen Massen hindurchquälen musste, vor allem mit den riesigen Stapeln abzuräumenden, noch halbvollen Geschirrs.

Auch das Kabinenenpersonal, mit zierlichen Kleidchen und nimmermüdem Lächeln, war zuvorkommend und streng überwacht von männlicher Aufsicht, sollte auch ins vorausberechnete und mit der Buchung kassierte Trinkgeld einbezogen sein, aber das erschien uns grausam, und so zauberten wir beim Auszug ein noch gewinnenderes Lächeln auf ihren Gesichtern hervor.

Als wir vor der lange scheu verheimlichten Buchung unseren bildungsbürgerlich-linksliberalen-wohlverdienenden Freunden von unseren Hochseeplänen erzählen, fuhren manch Zeigefinder missbilligend-erstaunt an die Stirn, höflichere Menschen kräuselten dieselbe oder hoben die Augenbrauen, aber Jugendtraum ist nun einmal Jugendtraum, auch wenn er mehrere Jahrzehnte alt war.

In Dubrovnik trafen zu ähnlicher Tageszeit drei Großraumschiffe ein, sodass die mehrere Dutzend Shuttlebusse vorübergehend die Straßen zur Altstadt verstopften und die Tore zu den Stadtmauern vorüber fast dicht waren. Aber meine Partnerin lehrte mich den „Tunnelblick“, das heißt die ausschließliche Konzentration des Blicks auf die vor uns liegenden Meter und zu die zu umgehenden oder beiseite zu schiebenden Personen.

Fazit: die Reise war sehr schön, teilweise erholsam, in vielem gewöhnungsbedürftig, informativ in vielen Aspekten, vor allem, was die Gattung Mitmensch begrifft, die urlaubssüchtig in Massen zur See nach Süden aufgebrochen ist. Da die Hecks der Kreuzfahrtschiffe wie steil abgeschnitten aussehen, weil auch die hintere Front für teurere Kabinen gebraucht wird, sahen die Riesenkähne wie umgestürzte Wolkenkratzer aus, da der Bug dem Gipfel des Empire-State-Building glich. Er machte uns stolz, wenn wir ihn bei der Heimkehr von einem Busausflug schon von Ferne in glänzendem Weiß entdeckten.

Nicht alle Deckpartien, auch die mit gläsernem Windschutz, den aufzusuchen immer wieder nötig war, blieben für wirkliche Ruhezeiten zu empfehlen, weil das Riesenschiff ja Tag und Nacht elektrifiziert bleiben muss und deshalb einige der dröhnenden Motoren im tiefen Keller weiterlaufen müssen. Wenn man sich daran gewöhnt hat, kann man die Anwesenheit eines riesigen Brummbären phantasieren und sich beruhigt zur Sonne drehen. Tröstlich war zudem, dass es auf Deck Ende Mai nicht wie im heimatlichen Schwarzwald schneite, sondern meist frühlingshaft warm war. Und so erfolgte, damit das Schiff schnell wieder für die nächste Kleinstadtbevölkerung flott gemacht und gewienert werden kann, die Ausschiffung im Morgengrauen am Ausgangsdock. Die Kleinkinder hingen ihren Eltern schlaftrunken am Hals, aber jene schauten zufrieden drein, wie wir am Ende auch.