Tilmann Moser

Geld, Gier und Betrug - Gedanken eines Psychoanalytikers zur Finanzkrise

Vortrag beim Dienstagskolloquium am 17.12.2013

Tilmann Moser (2013)

Meine Damen und Herren, wie kam es dazu, dass ich mich als Psychoanalytiker mit soziologischer Vorbildung mit dem Thema „Geld, Gier und Betrug“ beschäftigt habe. Es waren eigene Erfahrungen, kombiniert mit den fast täglichen Meldungen in der Presse und auf allen Bildschirmen. Mein erstes Erlebnis vollzog sich als Kind bei einem Konflikt zwischen den Eltern, der mich gleichzeitig etwas gelehrt hat über Variationen des innerfamiliären Überichs. Beide Eltern waren sind wohlgemerkt Pfarrerskinder und also zu Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit erzogen. Mein Vater brachte es aber eines Tages fertig, Weinflaschen, für die er kein Pfand bezahlt hatte, in einem anderen Geschäft gegen Entgelt zurückzugeben und war ein wenig stolz auf seine Schlauheit. Meine Mutter dagegen empörte sich rechtschaffen über die Tat und nannte es Betrug. Andererseits gebot sie uns Kindern gelegentlich, über einen ihr unangenehmen Vorfall dem Vater nichts zu erzählen. In der Analyse verstand ich, dass es sich dabei ebenfalls um einen loyal eingeforderten Betrug durch Verschweigen handelte. Es gab also zwei unterschiedliche Formen des Selbstverständnisses der familiären Wohlanständigkeit wie des Betrugs.

Vor der Einschulung war ich bei Versuch der gemeinsamen Konstruktion eines Seifenkisten-Gefährts zusammen mit einem Freund im Besitz eines schönen Rädchens von einem ausrangierten Kinderwagen. Der Freund neidete es mir, nannte es aber minderwertig und unbrauchbar, und ich solle es wegschmeißen. Kaum hatte ich dies getan, rannte er ihm hinterher und sagte: „Jetzt gehört es mir, du hast es weggeworfen.“ Ich fühtle mich hintergangen und gedemütigt. Die Freundschaft zerbrach an dem Betrug.

Als Student erwarb ich bei einem mir sympathisch erscheinenden kleinen Gebrauchtwagenhändler für 800 DM einen älteren VW und fuhr mit ihm nach der Barzahlung ohne Vertrag in Berlin auf die Avus. Nach ein paarhundert Metern machte sich ein Rad selbständig und rollte davon, ich landete erschrocken gerade noch auf dem Randstreifen, es gelang mir, den Wagen für die Hälfte an einen Bastler loszuwerden.

Zehn Jahre später wollte ich bei unserer vornehmsten Autofirma einen gut erhaltenen Gebrauchtwagen kaufen und unterschrieb für eine Probefahrt einen Vertrag. „Das Kleingedruckte interessiert uns jetzt nicht“, sagte der elegant gekleidete Verkäufer und schien in Eile. Der Wagen gefiel mir aber nicht, doch als ich ihn einfach zurückgeben wollte, wurden 1500 DM fällig. Ich hatte einen sogenannten „Bereitstellungsvertrag“ unterschrieben, auf dem stand unten ganz winzig: „Bei Nichtzustandekommen eines Kaufs beträgt die Gebühr“ diesen Betrag. Ich war empört, aber juristische Beratung half nichts, ich hatte das Kleingedruckte in den sogenannten „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ nicht gelesen und musste gedemütigt bezahlen.

Bei einem Abendessen mit einer größeren Gruppe von Freunden fragte ich sie nach eigenen Betrugserfahrungen, und siehe da, alle waren schon ein oder mehrere Male übertölpelt worden und erinnerten sich an Ohnmacht und Demütigung.

Ungern gestehe ich die Flexibilität des eigenen Überichs: Ich hatte beim Ausbau eines alten Bauernhauses auf Wunsch einiger Handwerker, die das ganz selbstverständlich fanden, schwarzarbeiten lassen. Dann gab ich bei einer Reihe von Gäste-Übernachtungen, wie es auch andere Vermieter für Brauch hielten, keine Quittungen aus. Durch einen Zufall fiel der Steuerbetrug auf und hatte eine kostspielige Nachzahlung zur Folge. Eigentlich hätte ich gewitzt sei können, aber als ich, inzwischen etwas wohlhabender geworden, mit dem Berater unserer vornehmsten Bank, mein überschaubares Depot besprach, riet er mir wie selbstverständlich, doch wenigstens die Hälfte bei einer Basler Bank zu deponieren. Ich staunte, wie normal er das fand und folgte seinem Rat. Als die Steuerbetrügerdisketten zahlreicher wurden, fragte ich in Basel nach, ob eine Selbstanzeige ratsam sei, hörte ich vom elegant uniformierten Berater: „Nein, Herr Moser, Sie sind ein zu kleiner Fisch!“ Aber auch gegen diese Bank wollte Peer Steinbrück die Kavallerie losmarschieren lassen, das verdrängte Gewissen regte sich, ich griff zur Selbstanzeige. Die Sache wurde sehr teuer, weil sich die Bank die Zusammenstellung aller Buchungen über zehn Jahre teuer bezahlen ließ, hinzu kamen die Steuernach- und die beträchtlichen Strafzahlungen.

Der tägliche Großskandal von Betrug und Korruption erstaunt fast nicht mehr: zu sehr ist der Zeitungsleser, Fernsehzuschauer, Rundfunkhörer und Online-Konsument daran gewöhnt, dass wieder einmal Milliarden verzockt wurden, Kartelle aufgeflogen sind, dass Zinsmanipulationen im Weltmaßstab entdeckt wurden, dass Lebensmittelskandale ein Millionenpublikum beunruhigen, dass Insider-Gangs angeklagt oder verhaftet wurden.

Um Sie auf die Dimensionen aufmerksam zu machen: In der Süddeutschen Zeitung hieß es auf der ersten Wirtschaftsseite: „Sechs Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise steht die größte amerikanische Bank JP Morgen Chase möglicherweise von einer Einigung mit den Strafverfolgungsbehörden. Wie mehrere US-Medien übereinstimmend berichten, könnte sich die … Bank in den kommenden Tagen als Teil eines Vergleichs bereitfinden, dreizehn Milliarden Dollar zu zahlen. Mit der Summe … würde sich die Bank von mehreren Straf- und Zivilverfahren freikaufen. In allen Fällen geht es um Hypothekenpapiere, die in der Krise faul wurden und bei den Investoren riesige Verluste verursachten. (27. 9. 013) Die Deutsche Bank legt vier Milliarden zurück wegen mehrerer drohender Betrugsverfahren im gleichen Sektor. Vergleichbare, wenn auch etwas geringere Strafzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe leisteten in Deutschland das Schienenkartell und das Kartell der Kaffeeröster. Die wenigen Banken, die das Fixing des Goldpreises besorgen, drunter die Deutsche Bank, haben seit kurzen ein Verfahren am Hals, wegen unlauterer und gewinnbringender Schummeleien. Vor wenigen Tagen lief auf Phönix ein erschütternder Film: Innerhalb weniger Wochen wurden aus 3000 ehemaligen Beratern Investmentverkäufer mit hohem, wöchentlich kontrolliertem Verkaufsdruck.

Die pure Häufung der Betrugsfälle verursacht ein permanentes Unbehagen. Die Reaktion vieler Menschen ist Schulterzucken, Wut, Ohnmacht, Zynismus, Resignation oder Apathie. In mir entstand zunächst eine allgemeine Frage: Gibt es in unterschiedlichen Epochen vergleichbare Maßstäbe für das ethische Niveau einer Gesellschaft? Lassen sich Veränderungen messen, gibt es Indikatoren für die Zu- oder Abnahme gesellschaftlicher Moral? Sind ethische Niveaus messbar für verschiedene Gesellschaftsbereiche, Klassen oder Berufs- und Tätigkeitszweige? Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat in einer öffentliche Diskussion mit Bahnchef Grube, die in der bundesweiten Bahnzeitschrift Mobil millionenfach abgedruckt war, keine historischen Unterschiede gefunden: „Denn es hat ja auch im alten Griechenland, im alten Rom, in Mittelitalien usw. nicht immer nur den ehrbaren Kaufmann gegeben, sondern auch ganz üble Geschäftemacher. Es hat auch immer Mörder, es hat immer Diebe, es hat auch immer Betrüger gegeben.“ (Nr. 9, 2010, S. 10)

Im Zeitalter der unbegrenzten Computer-Möglichkeiten dürfte sich aber doch einiges geändert haben. Darüber herrschen breit gestreute Ansichten, oft je nach Temperament, Schichtzugehörigkeit und Tagesform des Betrachters. Gegen den Münzbetrug von in Finanznot geratenen Fürsten, die sich das Münzprivileg erobert hatten, sollte der Biss auf ein Goldstück helfen, in der Hoffnung, hinter dem Goldüberzug den Bleikern zu entdecken. Münzverschlechterung war eine gängige Praxis, um den Notstand zu beheben. Inzwischen hat Betrug auch in den Bereich der Medizin Einzug gehalten, ja sogar in das Abrechnungsverhalten von Psychotherapeuten.

Der Autor Alexander Dill nennt unsere Ökonomie in seinem Buch lapidar “Täuschwirtschaft“, im Untertitel: „wie die Wirtschaft sich selbst und uns alle belügt“ (München 2010), und der Mogel-Forscher Thilo Bode titelt: „Die Essensfälscher. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf den Teller lügen“. (Frankfurt 2010) Ein anderes großartiges Buch heißt “Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt“, (Hrsg. Honegger/Neckel/Magnin, Frankfurt 2010), um nur einige wenige Reaktionen in Buchform zu nennen. Sie alle umkreisen ein verstörendes, empörendes, manchmal unheimliches Phänomen, über das sich viele Forscher auch interdisziplinär den Kopf zerbrechen: Haben wir es mit einer globalen Entwicklung zu tun, die mit den unzähligen technischen Neuerungen des Computerzeitalters ungeahnte neue Möglichkeiten eröffnet: in Bruchteilen von Sekunden, bei totaler Unsichtbarkeit der Opfer, mit verschleierter Verantwortlichkeit und einem kollektiv veränderten Moralkodex? Ist es die schiere Größe der Betrügereien, die ein neues öffentliches Interesse erzwingt? Hat die Verfolgungsintensität zugenommen, auch weil den Verfolgern im dauernden Wettlauf neue technische Möglichkeiten zur Verfügung stehen? Hat dies zu einem Kontrollverlust geführt, zu einer Schwächung gesamtgesellschaftlicher Moral, die durch eine oft nachhinkende Gesetzgebung und internationale Kooperation der Betrüger begünstigt wird?

Zwar ist es schon längst ein Geheimplatz geworden, dass die Hälfte des Börsen- und Marktgeschehens Psychologie ist. Es ist dann von Trends die Rede, von Ansteckung, panischem Massenverhalten, von Schnäppchen-Mentalität, Torschlusspanik, von Mutmaßungen und Erwartungshorizonten. Aber genaueres ist noch wenig bekannt über das Zusammenwirken von Faktoren aus Politik, Ökonomie und Tiefenpsychologie. Der sogenannte „homo oeconomicus“ als Phantasie des immer rational handelnden Marktteilnehmers ist längst verabschiedet. Wahnhafte, skurrile, unberechenbare, höchst emotionale und scheinvernünftige Motive wurden entdeckt. Über berechenbare Rationalität verfügen nur noch die hochkomplexen Computersysteme, die schon nach Teilstellen hinter dem Komma, etwa bei Zinsschwankungen weltweit zu agieren beginnen und Trends wie Krisen begünstigen. Durch Betrug verschaffen sich besonders Raffinierte Insiderwissen, um mit dem Vorteil von Sekunden riesige Gewinne zu machen. Aber die Ökonomieprofessoren kommen zu den gegensätzlichsten Gruppenreaktionen, über die auch der belesene Laie staunt in seiner Angst vor der konfus machenden Bodenlosigkeit des Geschehens.

Wer sind nun die Betrüger, Zocker, Schrottpapierhersteller, die übermütigen Investment-Banker, die Getriebenen und die Antreibenden, die anscheinend gewissenlosen Profiteure der unkontrolliert wuchernden sogenannten Blasen in Immoblilien- und IT-Spekulationen, ja halbkriminellen Nahrungsmittel-Heuschrecken-Fonds.

Ich zitiere aus dem hervorragenden Buch „Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt“ (Ffm, 2010) zum Milieu der tausenden von Investmentbankern, die auch wieder zu Tausenden von einem Tag auf den andern auf die Straße gesetzt werden können:

„So werden vermeintliche Urinstinke des Mannes als Jäger dem … die Bereitschaft zum Risiko und die Gier nach immer größerer Beute ageboren sei. Diese von Raubtierlust getriebenen Urkerl aus den imaginären Savannen schaut allerdings ein kalt kalkulierender, rational agierender Rechenkünstler über die Schulter – eher ein Bürokrat und Technokrat, der die Welt durch Modelle und Mathematik beherrschen möchte.“ (S. 160) Und: „Tatsächlich stellt sich die Frage, ab wann die Konstruktion undurchschaubarer Anlagepakete kriminell ist. Besonders bei komplizierten Finanzprodukten scheint der Übergang von normalem zu wirtschaftskriminellem Handeln häufig fließend zu sein, da zumindest die Unwissenheit der Kunden … mitunter einkalkuliert wird.“ (S. 245)

Ähnliches dürfte auch für die Planungsabteilungen von Konzernen gelten, die auf die Suche etwas nach der Bildung von Kartellen gehen.

Was uns Normalsparer und Kleininvestierer trösten könnte, ist das Ausmaß von Stress, Besorgnis, Arbeitslast, Angst und gelegentlich Panik wie Unsicherheit des Arbeitsplatzes, mit dem auch bestbezahlte Manager leben müssen. Der prominente amerikanische Psychoanalytiker David Tuckett hat zehn Jahre lang weltweit Tiefeninterwies mit höchsten Vertretern von Banken und Fonds geführt. Sein Fazit in seinem lesenswerten Buch „Die verborgenen psychologischen Dimensionen der Finanzmärkte“ ( Gießen 2013) lautet: Die tägliche Angst um richtige Entscheidungen und drohende Entlassung wegen mangelndem Erfolg spielt eine enorme Rolle: „nicht nur Triumph, ein Hochgefühl und Allmacht oder Hass, Schuld, Kummer und Neid“ sind zu verarbeiten, sondern auch die ständige „Furcht vor underperformance und einer Kündigung trotz (s)einer langen erfolgreichen Vorgeschichte.“ (S.130) Qualvoll lange Tage von Orientierung und Orientierungslosigkeit am Computer wechseln sich ab mit dem nervenzehrenden Zeitdruck zu Entscheidungen über Millionen und Milliarden und die Angst vor dem Ertappt werden bei gerade noch legalen oder halblegalen oder auch illegalen Aktionen. Der Sturz von scheinbar unangreifbaren Finanzgrößen geistert dann durch die Weltpresse wie durch die Stimmung an den großen Börsen.

Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hat schon in seinem Buch „Die vaterlose Gesellschaft“ (1963) früh darauf hingewiesen, dass die Weitergabe von Moral ursprünglich an die Generationenkette überlieferter Wertvorstellungen gebunden war. Vaterlosigkeit in unserer Thematik bedeutet, dass beim Tempo des sozialen Wandels die Väter gar nicht mehr bedeutsam sind für die Weitergabe von Finanz-Moral und den notwendigen Kenntnissen an die Söhne: die heutigen großen Marktteilnehmer und Marktbestimmer werden von ganz anderen Instanzen, Institutionen und Gremien nach ganz neuen Normen und Handlungsmustern erzogen. Sie sind längst nur noch auf schlaue bis brutale Gewinnmaximierung, Rücksichtslosigkeit und eingeschränkter Verantwortung geeicht. Sie können sich gar nicht mehr auf Vätertradition berufen, weil sie damit hoffnungslos antiquiert wären im täglichen Geschäft. Ihr Gewissen enthält ganz andere Werte, wenn es nicht in vielen Fällen bereits die Form von Gewissenlosigkeit angenommen hat, trotz der von den Konzernen öffentlich proklamierten good gouvernance. In der Sprache der Deutschen Bank heißt das vollmundig verkündete aktuelle Geschäftsprogramm unsere „Neue Kultur der Bank“.

In vielen Branchen sind Jugendlichkeit und raffinierte Kreatitvität gerade Ausgangspunkt für rasanten Aufstieg. Bewährte Werthaltungen werden kaum noch übernommen, eher zynisch belächelt. Unkonventionalität und moralische Flexibilität sind gefragt. Diese Einstellungen erlauben Augenblicksentscheidungen, die innerhalb von Minuten, ja von Sekunden gefällt werden müssen oder Bruchteilen von Sekunden gefällt werden müssen. Das Durchschnittsalter der Investment-Spezialisten ist um Jahrzehnte gesunken. Es herrscht eine Art von jugendlichem Geniekult bei spekulativen Milliardenverschiebungen vor, und selbst wenn altgediente Vorstände noch das Sagen haben, müssen sie immer häufiger eingestehen, dass sie die Tätigkeiten ihrer Teams nicht mehr überblicken und sie ohne feste Kontrolle agieren lassen müssen. Mitscherlich schreibt weiter: „Es ist vielmehr an ein Erlöschen des Vaterbilds zu denken, das im Wesen unserer Zivilisation selbst begründet ist und das die unterweisende Funktion des Vaters betrifft: Das Arbeitsbild des Vaters verschwindet, wird unbekannt. Gleichzeitig mit diesem von geschichtlichen Prozessen erzwungenen Verlust der Anschauung schlägt die Wertung um.“ (Gesammelte Werke, Bd. 3, 1963, S. 177)

Und weiter heißt es: „Die fortschreitende Arbeitsfragmentierung im Zusammenhang mit maschineller Massenproduktion und einer komplizierten Massenverwaltung, die Zerreißung von Wohn- und Arbeitsplatz … hat unaufhörlich zur Entleerung der auctoritas (Autorität) und zur Verringerung der innerfamiliären wie überfamiliären potestas Macht) des Vaters beigetragen.“ Und er fährt fort: „Anlehnungshungriges Neidverhalten ist das Strukturmerkmal unserer Konkurrenzgesellschaft. Es hat durch das Entstehen der verwalteten Massen das paternistische Rivalitätsideal abgelöst. Die kausale Folge ist, dass sich die alten Rollen der Verantwortlichkeit immer weiter auflösen und durch fiktive Verantwortungsträger besetzt werden. Auch im Maß einer Korruptionsbereitschaft, die dem Vaterstaat der bürgerlichen Epoche unbekannt war, im Verschwimmen eindeutiger Vorstellungen über Bestechlichkeit zeichnet sich eine Schwächung des Verantwortungsbewusstseins ab.“ (S. 322/33) Dieser Text ist wohlgemerkt fünfzig Jahre alt.

Der berühmte Moralforscher Lawrence Kohlberg hat über Jahrzehnte die Entwicklung des Gewissens bei Hunderten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen untersucht. Er traf eine stufenweise Einteilung von der „Orientierung an Bestrafung und Gehorsam“ bis zur „Orientierung n allgemeinen ethischen Prinzipien“, also grob gesprochen von heteronomer zu autonomer Moral. Ich folge der hervorragenden Zusammenfassung seiner Theorie und der empirischen Ergebnisse von Susanne Fritsch (2005): „Die präkonventionelle Ebene ist die moralische Denkebene der meisten Kinder bis zum neunten Lebensjahr, einiger Jugendlicher und vieler … Straftäter. Ein Individuum dieser Ebene hat … ein Selbst, dem die sozialen Normen und Erwartungen äußerlich bleiben. … Die Dimension dieser Stufe kann wie folgt definiert werden: ´Was gilt, ist richtig.` … Es ist ein egozentrischer Respekt vor überlegener Macht und Prestigestellung vorhanden. … Die eigene und die Perspektive der Autorität werden oft miteinander verwechselt.“ (S. 96/97) Nun ist aber das Merkwürdige, dass Kohlberg, entgegen allen tiefensychologischen Erkenntnissen, davon überzeugt ist, dass die moralische Reifung nur linear … wenngleich in Richtung erfolgt.

Es gibt für ihn keine Regression auf frühere Zustände. Was der Psychoanalyse selbstverständlich ist – seelische Regression bei Stress, Konflikt und innerem wie äußerem Druck die absolut zu erwartende Reaktion – fasst Fritsch so zusammen: „Eine Abnahme der moralischen Urteilskompetenz wird von seiner Theorie gänzlich ausgeschlossen.“ Dem haben Kritiker … später vehement und plausibel widersprochen, denn denn in der Phase der wechselseitigen , rivalisierenden Ansteckung und den Hochphasen der sich steigernden Gier nach raschen und bedenkenlosen Gewinnen handelt es sich klar um eine kollektive Regression des moralischen Denkens.“ Für die Gruppe der fast noch jugendlichen Investmentbanker passt kollektive Regression genau, besonders, wenn nach Dienstschluss, häufig gegen Mitternacht, um Autos, Frauen, Villen und Trinkfestigkeit rivalisiert wird. Die Gewissensbildung der Betrüger wird verhandelbar, schwankend, je nach dem sozialen Ort, manchmal sogar „nach Marktlage“, es über wiegt der sogenannte „außengeleitete Mensch“, der seine Direktiven von den Trends der jeweiligen Geschäftsleitung erhält.

Zur charakterlichen Selektion der potentiellen Betrüger trägt sicher auch der aus innerfamiliären Bedingungen erwachsende Hang zur vermeintlichen Genialität der Betrüger bei, der sie Dreistigkeit mit Wagemut und selektive Gewissenlosigkeit mit beruflicher Hochkompetenz verwechseln lässt. Bei Kriminellen ist von der so genannten „Unverletzlichkeitsphantasie“ die Rede („mich erwischt keiner!“), bei den Schreibtischtätern des Betrugs findet sich die Phantasie der garantierten Unentdeckbarkeit ihrer Vertuschungsstrategien über ein riesiges Geflecht von globalen. Allein schon deshalb steigt glücklicherweise die Konjunktur der Whistleblower, die zum Teil unter hohem Risiko Einblick geben in die Machenschaften der Akteure.

Im Krieg war es die wachsende Unsichtbarkeit des Feindes, die die Steigerung der Schrecknisse den Tätern ermöglichte. Analoges gilt von den teils gesichtslosen, teils anonymen, teils sogar verachteten Massenpartnern des Betrugs, denen sich der Betrüger nicht mehr von gleich zu gleich gegenüber sieht. Einfühlung würde gerade das Geschäft verderben, speziell für ältere Menschen, für die manche Banken unter dem Kürzel fA (für Alte, heißt Uninformierte) ein spezielles Sortiment von zweifelhaften Anlagen eingerichtet hatten. Der Schwund der Einfühlung in hinters Licht zu führende Familien, die ein wertbeständiges Haus auf komplett leichtfertig vergebenen Kredit erwerben wollen, war gerade die Voraussetzung für das Drängen auf einen raschen Abschluss.

Das Funktionieren der Gesellschaft beruht auf einem Mindestmaß von Vertrauen in ihren verschiedensten Bereichen. Es ist die Basis von Freundschaft und Liebe, wo das Prinzip Verlässlichkeit herrschen sollte. Der „Betrug als System“ in der „Täuschgesellschaft“ hat es mit sich gebracht, dass auf vielen Gebieten Vertrauensverhältnisse bedroht oder zerstört wurden: zum Beispiel, wenn zugesagte Versprechungen auf höheren Lohn oder bessere Arbeitsbedingungen nicht eingehalten werden, oder wenn durch Drohungen oder Lügen ungerechte Verhältnisse dauerhaft stabilisiert werden durch als Demütigung erlebte abhängige Ohnmacht. Mit zerstörtem Vertrauen zu leben, ist anstrengend, macht mutlos, birgt psychosomatische Gefährdungen. Direktoren von psychotherapeutischen Einrichtungen berichten von der Zunahme von Bankangestellten als Patienten, die mit den diktierten Verkaufszahlen von Produkten, die sie nicht kennen oder die sie längst für unseriös halten, nicht mehr klar kommen. Denn ihr Gewissen funktionierte noch nicht „wettbewerbskompatibel“, sondern leider noch gespalten.

Gier als generelle Erklärung der Finanzkrise ist inzwischen als „zu undifferenzierte Kategorie“ längst wieder fallengelassen worden. Trotzdem ist an der zeitweise gesteigerten Wirkung von Gier etwas dran. Sie ist nämlich stimmungsabhängig, reagiert auf raffinierte gesteigerte Versuchungssituationen, die sie epidemisch werden lassen können. Es ist nicht übertrieben, sie sozialpsychologisch als Ansteckungskrankheit zu bezeichnen. In dem zitierten Buch „Strukturierte Verantwortungslosigkeit“ (Honegger u. a. Frankfurt 2010) sind eindrucksvolle Belege aus Interviews mit betroffenen Bankern aufgelistet: Die Gier erfasst plötzlich umrissene Gruppen von tausenden von Investitionsbankern wie in einem scheinrationalen Taumel. Es kommt zu Phänomenen eines erregten Wettlaufs um Profit. Eine immer wieder beschriebene gleichzeitig ausbrechende Rivalität in den Gruppen im Konsumrausch hat sie ausgelöst.

Auch ein Heer von Kleinanlegern wird von Gier erfasst in einer Art Weihnachtsstimmung der Börse, die keiner verpassen will, weil es plötzlich auf Tempo und rasche Entschlusskraft ankam. Ein Zitat aus der Werbung: „Dieses Angebot besteht nur noch bis zum Freitag.“ Die Mechanismen dieser Ansteckungswelle sind noch ungenügend erforscht, aber die Phänomene gleichen stark denen, die die Weltwirtschaftskrise 1929 ausgelöst haben: Kaufrausch und Verblendung bei der Einschätzung realistischer Chancen. Sigmund Freud schreibt in den „Neuen Vorlesungen“ anfangs der dreißiger Jahre über den Wunderglauben, hier etwa bei Neuemissionen: „Ich meine damit die allgemeine Neigung der Menschen zur Leichtgläubigkeit und Wundergläubigkeit. Von allem Anfang an, wenn das Leben uns in seine strenge Zucht nimmt, regt sich in uns ein Widerstand gegen die Unerbittlichkeit und Monotonie der Denkgesetze und gegen die Anforderungen der Realitätsprüfung. Die Vernunft wird zur Feindin, die uns so viel Lustmöglichkeit vorenthält.“ (Bd.15, S. 34/35) Für unser Thema würde eher passen: Gewinnmöglichkeit.

Die Ansteckungswellen des Kaufrausches, auf den die Werbekampagnen abzielen, durchzieht nicht nur die Publizistik, sondern sie erfasst Nachbarschaften und Freundeskreise, einem Fieber vergleichbar. Als unberechenbare Steigerung in umrissenen historischen Momenten ist plötzlich ausbrechende Gier durchaus ein kausal wirksames Moment für Krisen. Dass sie, je stärker sie ansteigt, gewissenlos machen kann, ist solides Allgemeinwissen.

Ausblick

Zwar kommen aus der Politik, nach langen Anläufen, neue Instrumente zur Anwendung, die ein Überborden der Spekulation und der betrügerischen Versuchungen erschweren sollen, aber das Bonussystem steht längst in neuer oder alter Blüte, auch in vielen Fällen, bei denen die Vorstände ihre Banken und viele Anleger, massiv geschädigt oder in den Ruin getrieben haben. Es wird beklagt, dass es kaum eine Zeit des Innehaltens gegeben habe, aus verantwortungsvoller Einsicht in die Zwangsläufigkeit der Schäden im unveränderten System.

Psychologisch gesehen scheint folgende Hypothese plausibel: Die Finanzkrise war für ihre Verursacher eine kollektive narzisstische Kränkung. Widerwillig, wenn überhaupt wird zugegeben: „Gut, wir haben das System an die Wand gefahren.“ Das Versagenserleben einer ganzen Gruppe verlangt aber nach einer raschen Korrektur eines vorübergehenden Verlusts des Selbstwert- und des Überlegenheitsgefühls. Die Scharte muss ausgewetzt werden, es geht um eine rasche Reparatur der gemeinsamen Größenphantasien. Nach der Schreckstarre kam statt Reifung der Versuch, die Katastrophe ungeschehen zu machen und die Mechanismen von Anreiz, Belohnung und Rivalität wieder in Gang zu setzen, als ob nichts geschehen wäre. Der holprige Versuch, das Bankensystem weltweit unter Kontrolle zu kriegen, scheitert derzeit noch oft genug noch am nationalen Egoismus.

Es sind strengere Regeln erlassen worden für die Wahrhaftigkeit der Etikettierungen von Nahrungsmitteln. Aber viele Veränderungen beruhen immer noch auf Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung der Konzerne. Niemand soll an den Pranger gestellt werden, mit mangelnder oder oft perfekter Wirkungslosigkeit. Aber dafür kann man sich per email bei einigen Meckerportalen beschweren. Die betroffenen Übeltäter werden von den Verbraucherzentrale angeschrieben, sie versprechen Nachdenken oder Besserung. Erst bei frecher Wiederholung können Sanktionen angedroht werden.

Trauriges Fazit: In einer Gesellschaft mit enormem Wettbewerbsdruck und dem Aus-dem-Feld-Werfen von Firmen, die nicht schnell genug modernisiert oder sich verschlankt haben, wird Betrug immer verlockender. Wenn Innovationskraft sich oft nur im sich laufend verändernden Raffinement der Werbung zeigt, entsteht für viele Manager ein kollektives Klima von Täuschungs- und Gehorsamsdruck. Er begünstigt Übertölpelung und Betrug und fordert von seinen Angestellten auch dann noch ein Höchstmaß von Loyalität, wenn die Grenzen des Anstands verloren gehen. Die Grauzonen zwischen den Polen Wahrhaftigkeit, Irreführung und justiziablem Betrug sind riesig breit, sie sind wechselnden Einflüssen ausgesetzt. In vielen Institutionen herrscht das Gesetz von trial und error vor, um die Grenzen des gerade noch nicht Justiziablen auszutesten. Viele Konzerne kalkulieren die Strafzahlungen und die Kosten von Zivilprozessen in ihre Bilanzen ein und erhöhen damit ihre betrügerische Risikobereitschaft.

Wie bei den meisten Menschen, die gebannt das Auf und Ab der Finanzkrise beobachten, dürfte auch bei den meisten Beobachtern des universell gewordenen täglichen Betrugs die Haltung zwischen Optimismus und Pessimismus in der Beurteilung positiver Veränderungsmöglichkeiten schwanken. Letztlich bleibt es eine Frage des individuellen Temperaments, in welcher Haltung man die unheile Betrugswelt betrachtet. Die kollektiven seelischen Rückwirkungen des „Systems Betrug“sind schwer statistisch zu messen. Aber sie dürften sich finden in vielen Erkrankungen, die von Missstimmung bis zu psychosomatischen Leiden und Depressionen reichen.

Das Gefühl der Ohnmacht und der Demütigung wirkt in die gleiche Richtung. Vielleicht erbringt die Diskussion noch weitere Aspekte, auch vielleicht aus Beobachtungen oder sogar schmerzlichen Selbsterfahrung.

Schlussbemerkungen

Eigentlich ist der Vortrag zu Ende, aber ich möchte noch über einige Reaktionen berichten von drei Arten von Publikum, vor denen ich eine Vorform gehalten habe+. Es waren alles kirchliche Versammlungen. Bei einer protestantischen, sehr sozial engagierten Gemeinde teilte sich die Zuhörerschaft scharf in zwei Gruppen: die Optimisten und die Pessimisten. Die Pessimisten hofften sozusagen auf tröstende Erkenntnisse, um ohne Niedergeschlagenheit weiterleben zu können. Die Optimisten waren beschäftigt in sozialen Projekten wie Nachbarschaftshilfe und Alten- oder Türkenkinderbetreuung. Sie entgingen der gesellschaftlichen Ohnmacht durch aktives Engagement. Einige waren spontan wütend und forderten augenblickliche Solidarisierung, um die unfähige Regierung so bald als möglich abzulösen.

In einer evangelischen Akademie herrschte eher eine depressive Stimmung der Ohnmacht, nur einige wenige warben für verschiedene Parteien, denen man endlich Dampf machen müsse. Der Pastor fühlte sich am Schluss bemüßigt, aus dem Evangelium Hoffnung zu schöpfen: Auch Jesus habe seine Mission für die Armen unbeirrt von Anfeindungen fortgesetzt.

Das dritte Publikum: Die vereinigten evangelischen und katholischen Verbände der Straffälligenhilfe. Da der Vortrag nach einem schon langen Tag am späten Nachmittag stattfand und fünf Grußworte aller beteiligten Gruppierungen eine ermüdende Dreiviertelstunde in Anspruch nahmen, war die Aufnahmebereitschaft schon ziemlich erschöpft, was den lebendigen Kontakt erschwerte. Es war aber spürbar, dass, wie ich aus eigener Arbeit im Strafvollzug weiß, die Grundstimmung eher resigniert und trostbedürftig war. Es erfüllte ein resignative Schwere den Saal mit dem Tenor: „Jetzt nicht auch noch zum Schluss eine pessimistische Gesellschaftsanalyse!“ Einzig ein hoher Verbandsvertreter, der Klagen und Bedürfnisse regelmäßig in Berlin in hohen Gremien diskutiert und zu streiten versteht, riss die Stimmung herum, weil er von bedeutenden Kampferfolgen auf finanziellen der Ebene der Verbände berichten konnte. Es war aber klar, dass diese Einschätzung sich weit über den Köpfen der resozialisierenden Einzelkämpfer vor Ort vollzog. Ich kehrte selbst verstimmt und resigniert ins Hotel zurück, mit leichten Schuldgefühlen, dass ich die Stimmung nicht hatte aufhellen können. Nun bin ich gespannt, in welcher Stimmung Sie sich befinden.

Vielleicht erbringt die Diskussion noch weitere Aspekte, vielleicht Beobachtung oder sogar schmerzlichen Selbsterfahrung. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.