Tilmann Moser

Geschwisterkonflikte

Jesus als Retter, alter ego, Liebhaber oder Rivale

2009

Trotz einer wachsenden Zahl von Studien und Fallberichten zu religiös bedingten oder mit bedingten neurotischen Störungen finden sich kaum Berichte, in denen auf die Rolle von Jesus Christus als Ideal, Bruder, Rivale oder Geliebter hingewiesen wird. Doch es genügt oft die Frage, wenn überhaupt religiöse Themen zum Inhalt einer Psychotherapie oder Psychoanalyse werden: „Welche Rolle Hat Jesus in Ihrem Seelenhaushalt gespielt?", um eine Reflexion in Gang zu setzen, die bald eine Fülle von Hinweisen erbringt.

Bei den meisten so genannten „ekklesiogenen Neurosen" liegt das Schwergewicht auf den Themen Gehorsam, Schuldgefühlen, Glaubenskonflikten, Zweifel, Angst, Gnade usw. Nur beim Erlösungsgedanken rückt Christus mehr in den Vordergrund, manchmal auch dann, wenn seine Rolle als Weltenrichter zur Rechten Gottes sich mit der Angst vor bedrohlicher Verdammungsmacht verbindet. Es muss aber beachtet werden, dass Wissenschaft und Seelsorge von der monokausalen Erklärung dieser Störungen durch Indoktrination und falsch verstandenem Gottesbild abgerückt sind. Es hat sich vielmehr die Kritik an Freuds patriarchalischem Gottesbild durchgesetzt, und die ekklesiogenen Element gelten, vereinfacht ausgedrückt, als nachträgliche Bebilderung früher Konflikte, Defizite und Traumata.

Bei der Annäherung an Jesus als Bruder erhält sein Status als Sohn Gottes eine besondere Bedeutung und erlaubt eine leichtere Annäherung, ebenso seine Doppelexistenz als „wahrer Mensch und wahrer Gott". Für in ihrem Jesusbild leicht erotisierte weibliche Gläubige gerät Jesus eher in die Rolle des ersehnten Liebhabers, ähnlich wie bei den Nonnenorden, die ihn keusch als „Seelenbräutigam" feiern. Doch dies wäre eine eigene Abhandlung wert.

„Nachfolge Christi" ist nicht nur ein Ideal für alle Aspiranten auf Mönchstum und Priesterschaft, sondern erreicht als Appell auch männliche Jugendliche und Männer, die von religiösem Eifer erfasst sind oder die danach streben müssen, ganz irdische Konflikte durch ein frommes Engagement einer Lösung oder einer Schiefheilung näher zu bringen. Dann kann Christus ein ideales Alter Ego werden, dem Bewunderung, Identifizierung und Sehnsucht gelten. Jesu Auflagen für die Nachfolge, Jünger zu werden, waren hoch: er verlangte ein Verlassen der Eltern und ein Weggeben allen irdischen Besitzes. Nur von Priester- und Mönchsanwärtern wird Analoges noch heute verlangt, auch wenn die Eltern auch psychisch nicht mehr verlassen werden. müssen. Im Gegenteil: oft handelt es sich bei einer solchen Wahl um bewusste oder unbewusste Aufträge, oder der Stolz der Familie begleitet den angehenden Gottesmann auf seinem Weg in die tätige oder kontemplative Gottgefälligkeit. Umgekehrt kann es aber auch eine massive Provokation für Familie und bisheriges soziales Umfeld sein, wenn der Weg der Christusnachfolge gewählt wird.

Unzählige, auch nicht besonders von einem Gelübde getragene Identifizierungen sind möglich, die sich in tätiger Frömmigkeit oder einer vorwiegend seelischer Identifikation niederschlagen können. Auch dann wird Christus geistlicher Führer, Wegbegleiter, idealer Bruder, Vorbild oder Alter Ego sein. Christusfrömmigkeit kann durchaus eine Variante eines religiös getönten Lebens sein. Und wenn ein Patient nicht fürchten muss, dass sein Therapeut ihn nicht versteht oder gar kirchen- oder religionsskeptisch eingestellt ist, sondern ein Wohlwollen für die Frömmigkeit des Patienten zeigt, dann ist das Eingeständnis einer solchen Bedeutung von Jesus als einer leitenden Lichtgestalt nicht von gleicher Scham umgeben wie das Bekenntnis einer Bindung durch Neid und Rivalität. Das Problem der Größenphantasien ist dann nicht ähnlich brennend sein wird.

Projektion und Übertragung folgen dabei ähnlichen Mechanismen wie alle Lösungen, die auf der Verschiebung von Affektqualitäten auf bedeutsame Objekte beruhen. Dass Christus in diesem Ausmaß eine welthistorische und theologische Bedeutung hat, kann Neider mit drängenden Omnipotenzproblemen anziehen. Dabei kann sowohl die Wundertätigkeit eine Rolle spielen wie die Himmelfahrt, die Gehorsamsleistung wie das Sitzen auf dem Schoß oder zur Rechten des Vaters als dessen einzigem Liebling, auch wenn dieser ich (, als die vielleicht größte Provokation des Neuen Testaments), Verfolgung Folterung, Spott und Kreuzestod zugemutet hat. Wo Frömmigkeit in Verbindung steht mit Depression, Selbstwertzweifeln, Leidenssehnsucht und Opferbereitschaft, wird die Anziehung noch größer sein.

Immerhin wird der eine der beiden Mitgekreuzigten oder lutherisch „Schächer" wegen seines Glaubens sich mit Jesus im Paradies wiederfinden. Glaube wird also im Jenseits belohnt, ebenso wie im Katholizismus die Summe der guten Werke, zu denen ein frommer Mensch ohnehin verpflichtet ist.

Christusnachfolge als Lösung von Geschwisterproblemen kann ein Weg sein, Rivalität und Hass zu mildern und einen Pfad außerhalb von nur sozialer Konkurrenz zu suchen. Aber nicht umsonst zählen Arroganz, Stolz und Überheblichkeit als Superbia zu den Todsünden, und sie bedrohen auch diejenigen, die sich eigentlich Demut und Gehorsam auf ihre Fahnen im Rivalitätskampf geschrieben haben. Selbst unter Theologen sind Geschichten und Witze im Umlauf, die die Rivalität auf den Grad der Frömmigkeit, Bibelkunde und Gottgefälligkeit verschoben haben.

Die Faszination der Tätigkeit Jesu bezieht sich, je nach Temperament, seelischer Not und Größenphantasien, auf verschiedene Wunder. Den einen begeistert Jesu Fähigkeit, Tote wieder zum Leben zu erwecken, selbst wenn sie schon in Verwesung übergegangen sind. Die Jünger versuchten Jesus ja bei Lazarus vom als unmöglich Erachteten abzuhalten, um einen Misserfolg zu vermeiden: „Herr er stinkt schon." Er aber war sich seiner Macht bewusst und schritt mutig zur Tat, und die Begeisterungs- und Glaubensernte war beträchtlich. Durch geduldiges Nachfragen lässt sich sicher auch heraus bekommen, wen der Betreffende gerne wiederbeleben möchte. Manchmal bildet ein nicht verarbeiteter schwerwiegender Verlust den Hintergrund der Sehnsucht nach dieser außergewöhnlichen Fähigkeit.

Auf einem riesigen Hochzeitsfest würde ein alkoholfreudiger Bruder Eltern und Geschwister gerne mit der Fähigkeit beeindrucken, Wasser in edlen Wein zu verwandeln. Mutter Maria wusste, was sie an ihrem Sohn hatte, der ja auch noch mehrere weit weniger bedeutende Brüder hatte, die sicher nicht nur mit Wohlgefallen erlebten, wie der zwölfjährige Bruder im Tempel erfolgreich mit den höchsten Schriftgelehrten der Zeit diskutierte und sie zu belehren vermochte. Auch auf Maria fiel ein erheblicher Glanz in der Festgesellschaft ab. Ein weiterer Grund, sich mit dem siegreichen Bruder zu identifizieren.
Einer meiner Patienten war im Rivalitätskampf fasziniert von Jesu Kompetenz, einen Blinden mit Staub und Spucke wieder sehend zu machen. Bei fast allen Wundern Jesu ist meist staunendes Publikum zugegen, obwohl der Held manchmal dem Geretteten wie den Umstehenden einschärft, nicht zu viel Aufhebens im Sinne billiger Propaganda zu machen.

Bei älteren Patienten, die noch Hunger in Krieg und Nachkriegszeit erlebt haben und als oft vaterlose Älteste und privilegierter Partnerersatz der Mutter inmitten einer hungernde Geschwisterschar für die Ernährung der Familie mit verantwortlich waren, mochte das Vorbild des Predigers vor 5000 Zuhörern beeindrucken. Sie hatten vergessen hatten, Proviant zum Heiligen Berg mit zu nehmen Jesus gelang es, für die staunende Gemeinde ausreichend Brot und Fisch herbei zu beten. Die Vielfalt der rettenden Größenphantasien ist beträchtlich, wenn religiöse Lösungen von Rivalitätskonflikten dem Unbewussten als gangbarer Weg zulässig erscheinen.

Therapeutisch verlangt der Zugang zu diesen oft tief verankerten Phantasien und Omnipotenzwünschen ein großes Zutrauen und gefestigtes Arbeitsbündnis, weil sowohl religiöse Probleme wie Größenphantasien hinter einer stabilen Schammauer verborgen sein können. Es ist in jedem Falle hilfreich, die Phantasien empathisch als wichtige Überlebenshilfe in der kindlichen oder jugendlichen Not anzusprechen, als eine plausible Notlösung inmitten des Familienelends und den Zwängen der bedrohlichen Konkurrenz. Diese kann umso stärker sein, wenn Eltern zu ihren manipulativen Zwecken den Rollenstreit unter den Kindern noch zusätzlich anfachen.

Ein Beispiel aus einer Familie mit fünf Brüdern, in der die Eltern immer wieder vergeblich auf eine Tochter hofften. Die Rivalität war erbarmungslos, der Vater fand die Kämpfe wichtig in seinem Weltbild des Ringens um Dominanz und griff nicht etwa mäßigend, sondern anfeuernd ein. Gegenseitiges Übertrumpfen und Entwerten hatten ein Klima geschaffen, das meinem Patienten offenbar nur den Ausweg ließ, sich bis an eine psychotische Identifizierung heran ein Nähe zum rettenden Vorbild zu verschaffen am Wundertäter des Heilands. Verschämt nur kamen die Erinnerungen hoch an die Lichtgestalt des Gottessohns, der von seinem Vater so viele beeindruckenden Fähigkeiten erhalten hatte.

Die wechselnden Katastrophenszenen in seiner späteren Ehe waren, schwer erkennbar und dadurch mit bedingt, dass er seiner Ehefrau eine massive Bruderübertragung überstülpte, sodass es ihm fast gewissenlos nahe liegend erschien, sie auch körperlich zu erschrecken. Er demütigte sie durch Geringschätzung und eine oft lächerlich erscheinende Rivalität. Als er in ihr zu unterliegen drohte und er keine Wunder vollbringen konnte, begann ein jahrelanges Berufsversagen als Architekt und schließlich eine schwere depressive Krise. Der Zugriff auf Jesus als rettendes Vorbild war erfolgt, obwohl die Eltern kaum kirchlich orientiert waren und die Information über den wundermächtigen Jesus also eher zufällig stattfand im widerwillig absolvierten schulischen Religionsunterricht. Die seelischen Wunden können sogar dazu führen, dass auch in späteren Jugendjahren noch tief unbewusste Idolbildungen geformt werden.

Meine Frage nach der Bedeutung von Jesus in seinem Leben erschien dem Patienten zunächst so komisch und peinlich, dass ich mich in der Gegenübertragung zudringlich und taktlos fühlte, bis er sich an bedrückende Phasen seines Lebens gegen massive Widerstände zu erinnern begann. Seit seinem Kirchenaustritt während der Studienzeit hatte er sich für einen areligiösen und aufgeklärten Zeitgenossen gehalten, der sich für seinen früheren christlichen Ausweg aus der Rivalitätsnot sicher selbst verspottet hätte.

Zum Schluss doch noch ein Ausblick auf eine weibliche Lösung des Konflikts: ein Mädchen ist eingekeilt zwischen einem eifersüchtig-brutalen älteren und einem jüngeren Bruder, der zum Lieblingssohn und Augapfel der Mutter wird. Ihre Eifersuchtsqualen bleiben lange Zeit unbewusst, weil sie doch unbedingt lieb sein muss zum Augenstern der Mutter, um ihre Liebe nicht ganz zu verlieren. In der ersten Schulklasse wird sie von einem Verwandten über einige Monate sexuell missbraucht, kann sich wegen der Einschärfung des absoluten Schweigens aber niemandem anvertrauen. Sie flüchtet zum lieben und strengen Gott, später zu seinem Sohn, der weniger streng ist und wegen seiner Schönheit, und weil er sagt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen" viel anziehender ist.

Sie verliebt sich in ihn in engster Freundschaft, will später auch seine erotische Liebe gewinnen, weiß um ihre schuldhafte Sexualität und schöpft Hoffnung, als sie von Jesu Erbarmen für die sündhafte Maria Magdalena erfährt. Ihr verstörendes Leiden an ihrer frühen Schändung wird zu einem Vorzug, weil Jesus sich der Sünderin annimmt. Da seit dem Missbrauch ihr Lebenswandel, anders als bei Maria Magdalena, nahezu sündenfrei und von Gebeten und Wohltaten erfüllt ist, werden in ihrer Phantasie ihre Chancen bei Christus immer konkreter und nehmen eine fast wahnhafte Gewissheit an. Da sie an ängstliche Verschwiegenheit gewöhnt ist, kann sie sich auch in ihrer Liebesnot niemandem anvertrauen. Die Neurose nimmt ihren Lauf, und vielleicht um sich an Mutter, Vater, Brüdern und dem antwortlosen Jesus zu rächen, lebt sie, kaum der quälenden Pubertät entronnen, eine wüste Phase von Promiskuität. Da sie keinen verzeihenden Erlöser findet, versinkt sie für lange Jahre in Scham und Schuldgefühl.

Je intensiver in Kindheit und Jugend religiöse Unterweisung geboten oder ein Familienleben in kirchliches Engagement und Rituale eingebettet war, desto nahe liegender kann eine positive wie abgrenzende Identifizierung mit Jesus sein. Kommen religiöse Orientierung und massive Geschwisterprobleme zusammen, so ist es therapeutisch notwendig, nach diesem Thema nachdrücklich nachzufragen. Bei manchen oben beschriebenen Konstellationen scheint die psychische Errichtung eines inneren Christusobjekts fast unausweichlich. Ein geduldiges Deuten der kausal wirksamen Geschwisterprobleme kann den Erfolg einer Psychotherapie oder Psychoanalyse nachdrücklich fördern. Nach der Mühsal des Durcharbeitens erleben die Patienten eine massive Erleichterung, weil ein immer wieder vergeblich ins Bewusstsein drängendes Konstrukt aufgelöst werden konnte.