Psychoanalyse und Tod
Ein teilweise autobiographischer Essay
Tilmann Moser (2012)
Erfahrungen mit dem Sterben der Eltern: Abschiede
Als mein Vater mit 70 Jahren schon sehr geschwächt war durch eine noch nicht diagnostizierte, aber wohl ernsthafte Krankheit machte ich mit ihm eine einwöchige Ferienreise an einen See, den er liebte. Wir wussten, dass es vielleicht die letzte Begegnung war, bei der er an Stöcken noch kurze Wanderungen mit mir machen konnte. Wenige Monate später konnte ich ihn nur noch sterbend im Krankenhaus besuchen. Meine Mutter fragte mich scheu, ob ich mit ihm über seinen bevorstehenden Tod sprechen könnte. Sie selbst wagte es nicht, und der Arzt, der immer für Offenheit plädiert hatte, „vergaß“ es offensichtlich. Er selbst ahnte es wohl.
Er war ein sehr christlicher Mensch gewesen, ohne dass ich viel über seinen Glauben wusste. Da ich bald wieder an meinen Studienort zurückkehren musste, fragte ich ihn, ob er den Klinikseelsorger zu einem Besuch bitten wolle: „Um Gottes willen Nein, ich kann jetzt keine frommen Sprüche und vorgefertigte Gebete hören!“ Das war deutlich, auch gefasst. Also fragte ich ihn: „Wie ist das, dass Du bald sterben musst?“ Plötzlich war alle meine Scheu verflogen, er machte es mir leicht, dankte, dass ich es ansprach, „mit deiner Mutter kann ich nicht darüber sprechen.“ Das klang traurig, auch dass der Arzt schwieg, vermerkte er eher mürrisch.
Ich nahm seine Hand, er überließ sie mir gerne: „Ich bin schwach und müde, es ist gut, dass es zu Ende geht, ich spüre nicht einmal Angst. Ich gehe einfach weg. Wohin weiß ich nicht.“ Er war manchmal präsent und geistesgegenwärtig, manchmal verschwand er in eine ruhige Abwesenheit, bewirkt durch starke Medikamente. Es war ein ruhiger Abschied, und ich dankte es ihm auch im Stillen, dass er m i c h beruhigt hatte über seinen Tod. Erst im Auto flossen die Tränen, sodass ich einige Mal an den Rand fahren musste, um sie in Ruhe abzuwischen. „So stimmig kann also der Tod sein“, dachte ich, an meine Gedanken zu seiner Lebensbilanz wagte ich mich erst viel später, mit therapeutischer Hilfe. Er hatte kein leichtes Leben mit seiner Behinderung und der ständigen, auch materiellen Sorge um die große Familie und das Gedeihen seiner Kinder.
Meine Mutter starb ein Jahr später, im gleichen Alter, am gleichen Krebs. Bei ihrem Sterben war ich anwesend, konnte sie davor aber im Dorfkrankenhaus am Arm noch bei winzigen Gängen durch eine Flur begleiten. Nie hatte sie sich vorher in dieser Weise auf mich gestützt. Es war ihr Abschiedsgeschenk.
Als die alte und erfahrene Nonne ihren Tod kommen fühlte, zündete sie in dem kleinen Zimmer eine Kerze an, zog noch einmal die Decken zurecht, legte Tücher bereit, ich wusste nicht wofür, spürte aber ihre kundige Routine. Dann begann sie Trost- und Sterbegebete zu sprechen, wischte ihr gelegentlich den Schweiß von der Stirn, begleitete das gelegentliche Hochrecken der Sterbenden mit ruhigen Gesten, erkannte den Moment des letzten Seufzers und fing den hochkommenden Mageninhalt mit geübten Händen in den Tüchern auf, sprach einen Segen, drückte ihr die Augen zu und betete weiter, bis sie uns, meine Tante und mich, zu gehen bat. Es lag ein vollkommen beruhigender Frieden über der Szene. Die Mutter entfernte sich einfach, auch über ihren Glauben und möglichen Glaubenstrost wusste ich wenig, also wusste ich auch nicht, wohin sie sich ihrem Gefühl nach entfernte, und ob sie an ein Wiedersehen glaubte, wie es ihr eine nie thematisierte Religion nahe legte.
Der Selbstmord eines Patienten
Ganz anders ging es mir mit der sehr indirekten Begegnung mit fremdem Tod. Der Direktor einer psychotherapeutischen Universitätsklinik, mit dem ich befreundet war, berichtete mir unregelmäßig, aber doch alle paar Monate oder halbe Jahre, es habe sich wieder ein Patient umgebracht, schrecklicherweise auf Station oder aber in einem nahen Park oder an der nächstgelegenen Bahnlinie. Abgesehen davon, dass er sich traurig, erschüttert und skrupulös frage, warum und mit welchem Patienten es wieder einmal so weit gekommen war, erlebte ich ihn als Tröster und Stütze seines Teams. Dieses hatte mit Verwirrung, Schuldgefühlen, Ratlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Selbst- und Fremdvorwürfen zu tun, auch mit solidarischen Gruppengesprächen, mit Fehlersuche, Rechtfertigungen und einzelnen Zusammenbrüchen von Kollegen in individueller Verzweiflung zu tun.
Die Unruhe hielt einige Tage an, er sprach in einer kleinen Rede von Ohnmacht, Schicksal, Trauer, Verantwortung; aber auch vom Umgang mit den Angehörigen, mit der Polizei, manchmal mit dem Staatsanwalt. Ihm sei immer wieder auch der böse Satz eingefallen: „The show must go on“, den er natürlich nicht aussprach, aber er wusste, dass er das Team wieder zurückführen musste zu geordneter Weiterarbeit.
Das Team hatte kompetente Supervision, dort konnte in einer Sondersitzung der schwierige Umgang mit den Ängsten und Vorwürfen zurück gebliebener Patienten besprochen werden. Die selbst verunsicherten Therapeuten musste sich, manchmal mit gespielter Gelassenheit, aber auch mit gezeigter Trauer und Betroffenheit, mit der Unruhe im Haus, den extremen Reaktionen Einzelner, aber auch mit aufschießendem globalem Misstrauen in die Klinik und in das Personal und schwer durchschaubaren Übertragungs- wie Gegenübertragungsreaktionen auseinander setzen.
Der Selbstmord hatte etwas Brutales, Halböffentliches, eine Botschaft unaushaltbaren Überdrusses am Leben, mit sich ausbreitenden Gefühlen der Vergeblichkeit auch hinsichtlich des therapeutischen Programms. Es wurde naturgemäß nach Voranzeichen gesucht und gefahndet, je nach dem Kliniksetting wurden Patientenvertreter befragt nach letzten Kontakten, nach Beziehungskonflikten der Patienten untereinander. Die für den „Fall“ verantwortlichen Therapeuten grübelten im Geheimen und in der Teamöffentlichkeit über den Stand der Therapie und der Übertragungen. Einzelne mussten seelisch gestützt werden, für manche der oft jungen Therapeuten war es die erste ernsthafte Konfrontation mit den Berufsrisiken und der lastenden Verantwortung. Und es machte sich ein verstärktes Sicherheitsdenken bemerkbar: “Was riskiert man an Interventionen, wie penibel muss die Dokumentation geführt werden, sind Antisuizidverträge zu leicht genommen worden, und wie ist das prekäre Verhältnis zwischen eingestandenen Suizidgedanken als normale Begleiterscheinung bei schweren Depressionen, und der undurchschaubaren Bereitschaft, in einer Verzweiflung auch damit Ernst zumachen.
Der Selbstmord eines eigenen Patienten
Viel schwerer auszuhalten war der Tod eines jungen Patienten, den ich ins Herz geschlossen hatte. Der schockierende Anruf kam von einem Mitglied der studentischen WG des etwa 25-jährigen Patienten, der seit ungefähr drei Monaten in einstündiger Therapie. Die Stimme des Anrufers hatte einen Klang, als ob er wisse, dass ich leichtfertig oder fehlerhaft gearbeitet hätte. Ich bat um einen Termin bei seinen vier Freunden. Trotz gereizter Stimmung gegen mich berichteten sie von dem Toten, den sie erhängt im Keller gefunden hatten. Sie sprachen von dessen Schwierigkeiten mit den Eltern, seiner Freundin, die sich unlängst von ihm getrennt hatte, und von einer offensichtlich schwierigen und langen Therapie mit einer Kollegin, deren Namen sie mir nicht nannten.
Er selbst hatte mir von einer angeblich „beendeten Therapie“ berichtet, was nicht stimmte. Er nannte ebenfalls ihren Namen nicht und fand eine Kontaktaufnahme von mir zu ihr unsinnig. Dem Wechsel zu einem Mann maß er große Bedeutung bei, besorgt registrierte ich, wie illusionär sich seine Hoffnungen an mich anfühlten. In jenen Jahren fing ich an, vorsichtig mit körperlichen Interventionen zu arbeiten, etwa der haltenden Hand, wenn die Angst vor Gefühlen sehr groß war oder diese selbst überwältigend zu werden drohten. Auch er nahm dieses Angebot danken an, wollte bald vom Sitzen zum Liegen übergehen. Ich saß dann neben ihm bei der Couch, und er konnte nach meiner Hand greifen, wann er es brauchte.
Ich erfuhr von ihm, dass sich seine Eltern in einer Art Rosenkrieg getrennt hatten und dass um das Aufenthalts- und Erziehungsrecht in mehreren Prozessen gestritten worden war. In meiner Gegenübertragung sah ich ihn verzweifelt in einem Laufrad eines unlösbaren Hin und Her zwischen den zerstrittenen Eltern, heimatlos und voller Schuldgefühlen, aber auch Hass und ambivalenter Liebe; dazu voller Misstrauen in die Motive der kämpfenden Parteien. Sehr zögernd gab er kurz vor seinem grausamen Ende zu, dass seine andere Therapie noch andauere, er habe es verschwiegen in der Angst, dass ich ihn sonst gar nicht anhören würde. Auch der Therapeutin hatte er nicht mitgeteilt, dass er sich heimlich an mich gewandt hatte.
Aufgrund des vorsichtigen körperlichen Halts, den ich ihm in seiner Verzweiflung geben konnte, entwickelte er, zu seiner riesigen, aber leicht erschütterbaren Hoffnung, eine sowohl idealisierende wie extrem misstrauische Übertragung, die stündlich miteinander wechseln konnten. Ein Beispiel für das extreme, mir noch unverständlicherweise sexualisierte Misstrauen (vielleicht durch eine beginnende homosexuelle Übertragung?) war sein Verdacht, als ich noch hinter ihm auf meinem Sessel saß, dass ich heimlich onanierte. Das machte mir das lauernde Schweigen, das gelegentlich als Stimmung auftauchte, fassbarer. Aber in der idealisierenden Übertragung muss sich etwas angebahnt haben, was ich später einen nicht zu bewältigenden „Hoffnungsschock“ nannte.
Für die jahrelange Verzweiflung schien sich ihm eine plötzliche väterliche Erlösung anzubahnen, bei gleichzeitigem Absturz in eine verdichtete Erinnerungsqual, der er sich nicht gewachsen fühlte. Ich fühlte mich fallengelassen, so wie es zu seinem eigenen Lebensgefühl gehörte: entwertet, angeklagt, gleichzeitig von Hass und Liebe überschwemmt, in unauflösbarem Knäuel. Er konnte keine realistisch Hoffnung in eine länger dauernde und schmerzhafte Therapie mehr setzen. Ich grübelte lange, ob der Hoffnungsschock auch durch den haltenden Kontakt beschleunigt worden war. Es war wohl eine Retterphantasie in ihm entstanden, aber er war bereits zu erschöpft, um an einen neuen längeren hilfreichen Prozess zu glauben, zumal noch der für ihn schuldhafte Verrat an der anderen Therapeutin fortbestand.
So beruhigt ich nach langem Gespräch die WG verließ, die sich mit mir ausgesöhnt hatte, so versöhnt verließ ich die Beerdigungsfeier, mit tief gefühltem Dank an den Pastor, der mit einfühlsamen Worten, persönlich klingenden Worten sprach: Ein Schicksal habe sich vorzeitig und nicht voraussehbar vollendet, wir müsste das ohne Schuldzuweisungen ertragen. Der Vater, der mich anfangs in Telefonaten der rücksichtslosen Geldgier bezichtigt hatte (er war Banker), zeigte sich bei der Beerdigung plötzlich versöhnt und dankbar, weil er inzwischen die niedrige Privatrechnung für den Studenten gesehen hatte, die der Sohn ihm hinterließ: Kassenleistung war ja die Therapie bei der Kollegin gewesen. Wir schieden mit einem herzlichen Händedruck, im gemeinsamen Wissen, dass wir an dem jungen Schicksals nichts hatten ändern können.
Der Einbruch einer Todesangst in einer gerade begonnenen Therapie
Es erschien eine strahlend hübsche, fast sofort jungmädchenhaft flirtende Dame von 34 Jahren, die ich aber für eine Studentin von höchstens 22 Jahren hielt. Dieser Alterssprung in der Wahrnehmung sollte später eine wichtige Rolle spielen, denn die Fixierungsstelle lag in ihrem zwölften Jahr um die Trennungs- und Scheidungstermine der Eltern herum. Nach ausführlichen Informationen über ihren geliebten Beruf kam sie, immer noch liebenswürdig, auf den Anlass ihres Kommens zu sprechen, und da konnten endlich die Tränen fließen: Mitten in den Beginn einer verheißungsvollen neuen Liebesbeziehung hinein platzte die Diagnose: Brustkrebs.
Ein reicher Lebensplan schien plötzlich zu zerbrechen, sie war nächtens oft in Panik, alle Familienmitglieder einschließlich der Arbeitskollegen waren verstört und entsetzt. Ihrem Temperament und ihrer Erziehung nach fühlte sie sich aber für alle verantwortlich und verbarg ihren extremen Kummer selbst unter der Maske von Fürsorge und Tapferkeit. Nur in den anlaufenden Stunden konnte sie die nackte Angst zulassen, die mich trotzdem nicht ansteckte, nur mitfühlend machte. Sie war in jungen Jahren bereits stellvertretende Chefin eines Feinmechanikbetriebs und fühle sich als vom väterlichen Patriarchen ausersehene Nachfolgerin in der Leitung des Betriebs bereits zuständig für die Zukunft der Firma und der Mitarbeiter. Zur Panik gehörte die Angst um den neuen Partner und die Sehnsucht nach späterer Familie.
Die Operation verlief offenbar günstig, Sie erhielt viel elterlichen und ärztlichen Zuspruch und klammerte sich an den Satz des Chirurgen, dass sie eine 90-prozentige Heilungschance habe. Aber diese unsichere Hoffnung verließ sie immer wieder, sodass ich durch sie einer Mischung aus tapferer Zuversicht und schlimmen Ängsten ausgesetzt bin. Ich hoffte inständig, dass die Therapie sich nicht zu einer langwierigen Sterbebegleitung entwickeln würde. Das langsame Sterben dieser blühenden jungen Frau hätte sicher auf lange Zeit mein Leben als Therapeut verdüstert. Ein drohender früher Tod hatte uns gestreift, doch auch tiefer verbunden. Der Ausgang ist vollkommen ungewiss. Nach bangen Monaten konnten die Ärzte keine weiteren schlimmen Anzeichen entdecken.
Unsterblichkeitsphantasien und Lebensbilanz
Über konkrete oder unbewusste Unsterblichkeitshoffnungen von Analytikern ist mir nichts bekannt, wohl aber die Sorgen einiger analytischer Kollegen: „Was bleibt von mir?“ Da die Lehranalyse in relativ frühen Berufsjahren stattfindet, ist der erst im Alter drohende Tod wohl noch wenig Thema, es sei denn aus neurotischen Gründen oder bei schwerer Erkrankung oder durch den Tod naher Angehöriger und durch einen Zirkelschluss auf den eigenen möglichen Tod. Wohl aber kenne ich stille oder drängende Bilanzprobleme einiger Kollegen: “Hinterlasse ich mich überdauernde Spuren, Gedanken, Aufsätze, Bücher, Texte, behandlungstechnische Variationen mit meinem Namen; wichtige Kongresse, die ich organisiert habe, Erinnerungen an Ämter in Institutionen und ähnliches. Tauche ich mit meinem Namen in Literaturverzeichnissen auf, die ihn über eine gewisse Zeitspanne bewahren.
Und dann natürlich die erworbenen und gepflegten Freundschaften und Feindschaften, Siege und Niederlagen. Und dann noch, zentral wichtig für Analytiker, die, weniger schriftstellerisch tätig, in geduldiger Hingabe ihren Beruf ausübten und seelisches Gedeihen bei vielen Patienten erreicht haben, die ihnen auch ans Herz gewachsen waren. Sie leben in deren dankbaren und oft auch kritischen Erinnerungen fort, und sie können sich sagen: Meine Arbeit war fruchtbar und erfüllend, und ich überdauere, wenn auch nicht unsterblich, in deren Gedeihen oder in deren Schülerschaft, bei der ich sie sogar prägen konnte, und die mein Engagement oder gar meine Richtung weitertragen.
Meine eigene Unsterblichkeit(s-Phantasie)
Hier sind leider Bekenntnisse gefragt zu teilweise intimem Material. Mein Lehranalytiker sprach angesichts meines extremen Schwankens zwischen Unwert und rettender, gänzlich ungeerdeter Grandiosität gelegentlich von meinem „Lindwurm der Größenphantasien“, die sich an meine bewundernde Bindung an den Reformator Luther knüpften, der unser früher Hausheiliger war. Also wollte ich nach zutiefst gläubigen christlichen und später psychoanalytisch-orthodoxen Jahren die Psychoanalyse reformieren und in deren Geschichtsschreibung überleben. Das ist nicht ganz leicht zu gestehen, zumal sich ein Bekennerbuches erhalten hat, in dem ich das omnipotente Geständnis bereits abgelegt habe. Die neue Phantasie eigener Wirkung: Die Rechtfertigung und erfolgreiche Förderung der analytischen Körperpsychotherapie.
Das angestrebte Ziel hilft mir auch im achten Lebensjahrzehnt den Gedanken an den eigenen Tod noch aufzuschieben, durch eine sich festigende Anerkennung meiner Ideen und meiner Praxis der psychoanalytischen Körperarbeit, in Zusammenarbeit mit einigen ähnlich engagierten Kollegen. Solche Ziele halten mich zu meiner Erleichterung derzeit noch ab von Melancholie und Sterbensangst. Die Lebensbilanz erscheint mir noch ein wenig zu fraglich, und der Ehrgeiz hofft, den ja auch auf mich wartenden Tod noch wenig bedrängend zu machen. Eine gewisse Unreife dieser Haltung gebe ich gerne zu. Noch bin ich umgeben von Menschen, die mich brauchen.
Vielleicht hilft es auch, durch ein ausgedehntes Sportprogramm gegen die lebenslange Anfälligkeit für Depressionen eine mahnende Gebrechlichkeit und Altersbeschwerden noch hintan zu halten. Da die Freude am Beruf durch die wachsende Erfahrung und Gelassenheit noch anwächst, möchte ich noch einige Jahre nicht allzu sterblich sein, bevor die von so vielen Menschen magisch geteilte Hoffnung auf Unsterblichkeit mich trösten muss. Ich liebe, neben dem privaten auch das therapeutische Leben und wundere mich über Kollegen, die viel früher aufatmend aufhören mit dem Beruf. Vielleicht hilft ja Begeisterung beim Aufschieben der Todesgedanken.
Todesangst um Andere
Angst vor dem Tod hat man meist vor dem eigenen. Da aber haltende und bergende menschliche Beziehungen, Liebe und Freundschaft, als das Zaubermittel gegen die Angst vor dem Sterben sein sollen, möchte ich auf eine wichtige Varianten hinweisen: die Angst um den Tod von Anderen. Geläufig sind nach den Millionen von Söhnen und Lebenspartnern verschlingenden Kriegen die Todesängste um deren Sterben, düster untermalt oft von Bildern der Entstellung und Verstümmelung, Bilder, die die Siegespropaganda um jeden Preis aus der öffentlichen Sichtbarkeit herauszuhalten suchte.
Eine ganz andere Art von Fremdtod-Angst erlebe ich seit einigen Jahren bei der Behandlung von Müttern, die mit einer einzigen Tochter (seltener eines Sohnes) in symbiotischer, ja fast siamesischer Nähe verbunden sind. Sie haben ihr mit traumatischen Ängsten umgebenes eigenes inneres Kind delegiert an ihre heranwachsende Tochter, deren Ablösungsbewegungen ihr seelisches Gleichgewicht auf höchst bedrohliche Weise gefährden. Selbst kurze Trennungen oder Zeiten der telefonischen oder brieflichen Unerreichbarkeit wecken Panik über einen bevorstehenden oder bereits eingetretenen Untergang des Kindes. Die fast siamesische Verbundenheit der seelischen Kreisläufe führt zu einem Gefühl, dass ein wichtiger Teil des eigenen Körpers durch die Trennung absterben könnte. Und dies kann verbunden sein mit quälenden Schuldgefühlen: Ich habe versagt in der Erziehung, ich habe meinem Kind nur mein schlechtes seelisches Erbe angedeihen lassen. Ich nenne es deshalb die siamesische Todesangst, die eine notwendige Trennung als eine lebensgefährliche Operation erscheinen lassen.
Es ist nicht leicht, diesen konvulsivischen Prozess gelassen zu begleiten: er ist bei den Patientinnen begleitet von schweren Schlagstörungen, Erschöpfungszuständen, Panikattacken, Selbstwertverlust und sogar sich selbst verurteilenden suizidalen Wünschen. Da die Töchter diese Umklammerung spüren und fürchten, auch wenn sie für einige Jahre von ihr sogar narzisstisch profitiert haben, werden die Absetzbewegungen nur umso grausamer. Sie gleichen den Ausbruchsversuchen aus einer milde parasitären, im destruktiven Sinn sogar von Stacheldraht umschlungenen Verbindung, bei der jede ruckhafte Bewegung nur auf beiden Seiten neue Wunden aufreißt. Der drohende Seelentod kann für einige Jahre zum ständigen Begleiter werden, wenn das eigene Leben nicht gelebt, sondern nur das des symbiotischen Selbstobjekts.
Sterbensangst bei drohendem Tod von Ideologien, Systemen und Nationen
Als letzte Fremdtodesangst will ich eine Form nennen, die auf einer symbiotischen seelischen Verschmelzung mit einer Ideologie, einer vergötterten Institution (Nation, Vaterland, Kirche) verbunden ist: das Ausmaß der mitunter fanatischen Identifikation lässt eine Bedrohung oder einen Untergang wie eine Urkatastrophe erscheinen, die das eigene Selbst mit in den Abgrund reißen könnte. Jüngstes dramatisches Beispiel: Die Folgen des drohenden oder vollendeten Untergangs des Dritten Reiches waren bei unzähligen Anhängern Vernichtungsgefühle bis hin zu einer daraus erwachsenden massenhaften Selbstmordwelle bei ehedem zutiefst gläubigen Anhängern. Im Vorstadium der Bedrohung zeigt sich bereits das Anwachsen einer ungeheuren Vernichtungsbereitschaft gegen Gegner der eigenen überhöhten Ideologie oder des politischen Systems, in einer Art apokalyptischer Todesangst um eine ursprünglich als rettend internalisierte und millionenfach verkörperte Idee. Ihr Tod wird symbolisch mit dem eigenen gleichgesetzt. Der Freitod bedeutet dann oft gleichzeitig eine Befreiung von unerträglicher Scham und von der Angst vor schmählicher Strafe, demütigender Verhaftung, Einkerkerung, Hinrichtung und der späten Rache des für ebenso unmenschlich gehaltenen Feindes.
Sterbensangst von Patienten als Trennungsangst
Trennungsängste von Patienten zu bearbeiten ist für Psychotherapeuten tägliches Brot. Bei vielen älteren Patienten geht es in späteren Jahren auch um den vielleicht noch fern geglaubten, aber anstehenden, vielleicht durch wohlversorgte Pflegebedürftigkeit verdeckten Zeitpunkt ihres Todes. Natürlich ängstigt kommendes Sterben durch das Gefühl des Verlusts von Vertrautheit, Sicherheit und Geborgenheit. Aber es mischen sich auch ganz andere Ängste darunter, nämlich bohrend Fragen zur Bilanz aller nahen Beziehungen wie: „Was hat die Beziehung mir und ihnen bedeutet?“ „Waren wir uns wirklich nah?“ „Haben wir uns überhaupt gekannt?“ „Was bleibt oder blieb ungesagt?“ „War die Fremdheit Schicksal?“ „Was bleibt von dunklen Familiengeheimnissen?“ Es entsteht ein schwieriges Bilanzproblem nach beiden Seiten.
Die Angst vor dem Ungesagten ist oft so mächtig, dass ich mit machen Patienten übe, was noch aus- oder angesprochen werden müsste, um das lastende Schweigen zu mildern oder zu brechen. Ausgangspunkt ist meine eigene Erfahrung mit dem Ausmaß des Ungesagten zwischen mir und meinen Eltern, das eine schwer auszuhaltende Trauer hinterließ. Der bitterste Satz, den ich nach dem Tod beider Eltern ertragen musste, hieß: „Wir haben uns weitgehend verfehlt.“ Das „Große Schweigen“ nach dem Dritten Reich in den Familien war ein riesiges Generationen übergreifendes Thema. Eine gegenseitige Verfehlung, die den Abschied und das Sterben schwer machen kann, enthält einige Unterthemen: Unausgesprochener Dank und unausgedrückte Wut, die als Groll schon Jahrzehnte vor dem Tod und Jahrzehnte danach eine wirkliche seelischen Ablösung verhindert.
Die oft gehörte Frage nach von Streit und Unfrieden durchzogenen Beziehungen lautet: „Muss ich mich eigentlich mit den Eltern versöhnen?“ Manche therapeutischen Denkschulen legen es fast drängend nahe, als ob die Frage allein dem Willen unterläge. Viel wichtiger erscheint mir die Frage, wie viel Klarheit erreicht worden ist. Deshalb betrachte ich aus der eigenen Erfahrung heraus meine eigene Aufgabe als Therapeut als der eines dolmetschenden Regisseurs mithilfe von Rollenspiel, bei der mir die Gestalttherapie viel vermittelt hat. Die Fragen an die Patienten lauten etwa: „Was möchten Sie der im Raum symbolisch präsent gemachten Person noch sagen, im Guten und im Bösen?“ Oft treten starke Gefühle von nicht zum Ziel gekommener Liebe, von Dankbarkeit, Fremdheit, Wut, auch Hass zutage. Der Prozess kann sogar längere Zeit in Anspruch nehmen, aber die Beziehung erscheint auf einmal „gereinigt“ vom Ungesagten, wenn die Angst überwunden ist, die der uralte Spruch „De mortuis nil nisi bene!“ in veränderter Form auch vielen Kindern in Bezug auf die Eltern bereitet. „Nie hätte ich mir das alles zu ihnen zu sagen getraut.“ Dabei schwelte das Ungesagte durch die gemeinsamen Lebensjahre und noch die Jahre danach und ließ die Verstorbenen nicht wirklich sterben. Ich habe selbst noch oft von alt gewordenen eingeschüchterten Kindern gehört: „Wer die (kritische) Hand gegen die Eltern erhebt, dem wächst die Hand aus dem Grab.“ Wenigstens die Schuld blieb unsterblich.
Wiedersehen im Jenseits gegen Sterbensangst
Eine der wirkmächtigsten Mythen gegen die Sterbensangst war und ist der christliche Glaube an ein Wiedersehen „der Lieben“ im Jenseits. Die Verstorbenen warten dort bereit auf den noch auf Erden Lebenden. Hier überlebt ein Glaube, nach dessen vernunftgeleiteter Möglichkeit bei Sterbenden zu fragen manchmal fast unbarmherzig erscheint, und der gegen eigenes Nachdenken zäh resistent ist, weil er als letzter Trost gegen die Trennungsangst gebraucht wird. Keine Gedanke daran, wie man sich das Zusammensein der Milliarden Verstorbener vorstellen soll, auch kein Gedanke daran, wie man sich das dortige Zusammenleben vorstellen soll: Was nimmt jeder als Eigenschaften mit ins Jenseits, die trotz vieler geglückter Beziehungen vielen das irdische Leben bereits zur Hölle gemacht haben? In welcher Altersgestalt wird man sich begegnen nach der phantasierten leiblichen Auferstehung beim jüngsten Gericht Die Hoffnung auf den Erhalt der alten Bindungen mindert die Todesangst und gibt seelische Sicherheit auch dann, wenn sie auf Erden nur höchst bruchstückhaft zu finden war. Das Wort Erlösung und Heimkehr umgibt noch immer ein rettender Zauber, den der ungläubige Therapeut vielleicht nicht um jeden Preis hinterfragen soll, nicht nur bei alternden kirchlich Gläubigen und deren Hoffnung auf ein seliges Wiedersehen.
Von Hunderten von Oberschülern, die im Religionsunterricht Aufsätze über meine „Gottesvergiftung“ schreiben mussten, kamen bedrängte und bedrängende Anfragen einzelner Schüler und ganzer aufgewühlter Klassen, wie ich es aushielte, ohne göttlichen Trost zu leben und zu sterben, und ob ich meinen atheistischen Hochmut wohl auch durchhalten werde, wenn es ans Sterben geht. So wurde ich immer wieder brieflich an meinen Tod gemahnt und wurde mutiger, in Therapien nach Vorstellungen über Tod und Sterben zu fragen, auch wenn es mich nicht selbst aktuell bedrängte. Irving D. Jalom hat darüber ein eigenes Buch geschrieben, um die Kollegen zu ermahnen, die Frage nach den Todes- und Sterbensvorstellung ihrer Patientin nicht zu vergessen: „In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet.“ (München, 2010)
Über das Sterben sprechen mit Patienten
Er hält es sogar für seine Pflicht, auch hinter ganz anderen Ängsten seiner Patienten in den verschiedensten Lebensphasen nach Spuren der Todesangst zu fahnden. Er selbst macht kein Hehl darauf, dass eigene Todesängste ihm das therapeutische Thema aufgedrängt haben. Ernennt es „existentiell“ und tadelt die „Todesvergessenheit“ analytischer Ausbildungen und wundert sich über das Verstummen des kollegialen Gesprächs, wenn er auf die Frage nach seinem neuesten Werk die Todesangst nennt. Das Buch ist, anders als bei seinen früheren Werken, im amerikanischen Fallgeschichten-Plauderton verfasst, aber er schließt es mit beherzigenswerten Gedanken: Er verlange immer ein genaue Schilderung der Ängste, „aber schauen Sie direkt hin, erzählen Sie mir, was ängstigt Sie ganz speziell am meisten am Sterben?“, und stößt auf eine Fülle von Bildern, abgesehen vom bildlosen und namenlosen Grauen, das es auch gibt. Er entdeckt eine larvierte Todesangst aber auch hinter vielen neurotischen Alltagsängsten, die die tiefere Furcht nur verhüllen sollen.
Er plädiert für eine große Offenheit des Therapeuten, selbst mit heilsamen Selbstoffenbarungen über eigene Probleme mit der Sterblichkeit: „Wenige Vorschläge, die ich Therapeuten mache, sind so beunruhigend wie mein Drängen, mehr von sich preiszugeben. Es geht ihnen durch Mark und Bein. Es beschwört das Schreckgespenst des Patienten herauf, der in ihr persönliches Leben eindringt.“ Aber darüber stehen, fast apodiktisch formuliert, die mahnenden Sätze vor allem an junge Kollegen: „Sie sollen sich nur offenbaren, wenn die Enthüllung für den Patienten wertvoll ist.“ Und: „Offenbaren Sie sich nur, wenn es die Therapie voranbringt, und nicht aufgrund von Druck seitens des Patienten oder aufgrund der eigenen Bedürfnisse oder Regeln.“ Er musste sich intensiv auseinandersetzen mit der gläubigen Frömmigkeit vieler amerikanischer Patienten, die erst einmal fassungslos sind, wenn ihr Analytiker das Leben ohne Gott auszuhalten scheint.
Seine Diagnose zur Präsenz des Todesthemas in der Psychoanalyse: „Ich begann dieses Buch mit der Beobachtung, dass Todesfurcht selten in den Diskurs der Psychotherapie eingeht. Therapeuten vermeiden das Thema aus einer Reihe von Gründen: Sie leugnen die Präsenz oder die Relevanz von Todesfurcht; sie behaupten, dass Todesfurcht in Wirklichkeit Furcht vor etwas anderem sei; sie mögen fürchten, ihre eigenen Ängste zu entfachen; oder sie fühlen sich vielleicht zu ratlos oder verzweifelt angesichts unser aller Sterblichkeit.“ Dagegen hält er fest: „Dem Tod ins Gesicht schauen, unter Anleitung, bändigt nicht nur die Angst, sondern macht das Leben ergreifender, kostbarer, vitaler. Eine solche Herangehensweise an den Tod führt zu einer Anleitung für das Leben.“
Deshalb konnte ich ihm voll zustimmen bei der Entwicklung einer eigenen Patientin, die sich selbst lange seelisch langweilig und leer fand, und mit der ich kaum eine Änderung erreichte. Sie geriet, als verwöhntes Kind und spätere geschiedene Ehefrau ohne Beruf, zum ersten Mal auf der Suche nach einem sozialen Engagement fast zufällig in eine Ausbildung zur Sterbebegleitung, und ich muss es mit einem Eichendorff-Wort sagen: Ihre „Seele breitete die Flügel aus“ und wurde menschlich und groß und stand vielen Menschen beim Sterben bei, „als flögen sie nach Haus.“ Das wiederholte Erleben des endgültigen Abschieds rückte viele verdrängte und ungenutzte Gefühle neu zurecht und schenkte ihr eine unverhoffte neue Teilnahme und Anteilnahme am Leben. Ganz im Gegensatz zu ihren neu entdeckten Affekten steht ein ganz anderes Erleben eines Kandidaten in fortgeschrittener Lehranalyse mit dem herannahenden Tod des Analytikers
Verweigerte Anteilnahme bei Krankheit und Tod des Analytikers
Mir wurde durch einen befreundeten Kollegen eine von ihm mit sehr viel Leid, auch Verbitterung erlebte Geschichte erzählt: Sein älterer, angesehener Therapeut offenbarte ihm ohne weitere Vorbereitung, dass er schwer an Krebs erkrankt sei und deshalb wegen der Verlegung in die Klinik die Behandlung sofort beenden müsse. Die Auskunft war ein Schock und hielt ihm die zahlreichen Situationen vor Augen, in denen er um das Wohlbefinden und das Aussehen des Analytikers besorgt gewesen und diese Besorgtheit in großer Scheu auch einige Male geäußert hatte. Der hatte ihn auf die Übertragungsspur verwiesen, auf der natürlich viel zu finden war über Krankheiten der Eltern und Sorgen über deren oder deren Verlust. Überleben. Tatsächlich hatte er damit aber seinen Patienten abgewiesen mit dessen Wahrnehmungen und beunruhigten Gefühlen. Er hatte eine falsche Normalität des Behandlungsprozesses durchgesetzt, und am Ende wie in einem verzweifelten Ausbruch und Geständnis dessen abruptes Ende herbeigeführt. Dem Freund wurde innere Anteilnahme an der Krankheit verweigert: berechtigte Sorge, Ängste, Trauer, Mitgefühl, ein vertieftes Durcharbeiten des Abschieds von den Eltern, sowie die aktuelle Konfrontation mit der Erkrankung des Analytikers und dem leidvollen realen Abschiednehmen von ihm.
Es gelang ihm, diesem zugute zu halten, dass vermutlich extreme Scham, mit eine Krebserkrankung immer noch umgeben sein kann, ihn an der notwendigen Offenheit gehindert hat; aber auch eine eigene Angst, den drohenden Tod anzusprechen; eine „Politik der Schonung“ dem Patienten gegenüber, die dem Analytiker selbst eine unendliche Disziplin des Schweigens abforderte. Denn der junge Kollege musste aus seiner eigenen Geschichte heraus in einer Mischung aus Übertragung und realer Wahrnehmung das Thema unbarmherzig immer wieder ansprechen und virulent halten. Rückblickend verfiel er in Schuldgefühle, als er sich klar machte, was er dem Analytiker, und dieser wieder für ihn und für sich selbst, zugemutet hatte. Zum Schuldgefühl und der Beschämung gesellte sich Bitterkeit über das Ausmaß von Unaufrichtigkeit, unter dem sich vielleicht für lange Monate die Behandlung hingeschleppt hatte. Und diese wiederum konfrontierte ihn mit neuer Heftigkeit mit der Einsicht, in welchem Maß von Unaufrichtigkeit seine eigene Familie im Umgang mit Krankheit und Tod gelebt hatte.
Um solche Katastrophen zu vermeiden, haben die therapeutischen Verbände Altershöchstgrenzen angemahnt oder vorgeschrieben, nach denen Lehranalytiker keine Lehranalyse mehr beginnen sollten. Das Thema ist mir nie in öffentlicher Diskussion begegnet. Wir wären angewiesen auf Umfragen bei betroffenen Kollegen, denen ähnliches begegnet ist. Wir betreten damit vielleicht ein noch vermintes Gelände, in dem es um Erkenntnisse geht, wie Psychoanalytiker mit dem Problem der Sterblichkeit ganz allgemein, aber eben auch in besonderen Fällen lebensgeschichtlicher Dringlichkeit umgehen sollten. Dass Offenheit und Wahrhaftigkeit zusammengehören, ist klar, aber der Weg kann in vielen Fällen hart und dornig sein, und er sollte, wenn nicht formell gelehrt, so doch in Ausbildung und in kollegialem Kreis immer wieder thematisiert werden. Günther Bittner hat sich in seinem kleinen Buch „...von seiner Unsterblichkeit überzeugt“ (Würzburg 2012) mit Freuds (theoretischer) Haltung zum Tod auseinandergesetzt, aber erwähnt mit keinem Wort das Problem, wie Freud mit seiner jahrelangen Krebserkrankung in seinen Analyse umgegangen ist.
Über die Ungeeignetheit der klassischen Psychoanalyse für das Todesthema
Natürlich kann man im therapeutischen Austausch von Einfühlung und Worten in Behandlungen viel über Todesängste sprechen, und Yalom hat sicher eine richtige Richtung gewiesen, als er sich die Ängste so detailgetreu wie möglich beschreiben ließ, um auf biographische Hintergründe und verschleiernde Einkleidungen zu stoßen. Aber schon bei Gottesübertragungen hat sich der Raum für Übertragung und Gegenübertragung für den gewöhnlichen Analytiker, der nicht sehr religionszugewandt dachte bei der täglichen Arbeit, als sehr begrenzt erweisen. Schon Heinz Kohut hat auf die Schwierigkeiten, mit Gottesübertragungen umzugehen, humorvoll hingewiesen. Da kann zu viel Narzissmus und Omnipotenz im Therapeuten angesprochen, zu viel Scheu vor der so ungewohnten Intimität einer vielen Analytikern unbekannten Beziehung zu Gott. Und zu viel Scheu und Scham beim Patienten wie beim Therapeuten hindert sie, das Abenteuer dieser Übertagung überhaupt einzugehen und auf dem Thema zu bestehen.
Aber wie nun bei Sterbens- und Todesangst? Der Tod ist nicht nur für viele Menschen eine anonyme Macht, sondern er wurde in der Geschichte auch personifiziert dargestellt und angesprochen als umrissene Person, man denke nur an die vielen Darstellungen durch alle Kunstepochen als den Mann mit der Sense, der sich heimtückisch nähert, oder verharmlosend als „Freund Hein“. Wie soll man diese unheimliche Mächtigen in die Übertragung bringen, die doch ein oder der Königsweg der Bearbeitung ist? Soll man im Analytiker den Sensenmann erkennen? Oder den Träger apokalyptischer Bedrohung? Den Erlöser von einem unerträglichen Leben? Man kann sich Freuds Scheu vorstellen, seinen jahrzehntelangen Krebs konkret oder symbolisch zu benennen. Oder die Qual, immer wieder angesprochen zu werden auf sein sicher oft blasses und schmerzverzerrtes Gesicht, wenn wieder eine seiner zahlreichen Operationen bevorstand.
Wer als Patient nicht vollkommen umnebelt war durch eine undurchdringliche Idealisierung, musste wenigsten bei der kurzen Begrüßung etwas bemerken über seinen Zustand, in dem er sich, erst recht in späten Jahren nie von Angesicht zu Angesicht in den Behandlungen angestarrt wissen wollte. Er war kein Vorbild in der therapeutischen Behandlung des Todesthemas. „An Sigmund Freuds Biographie lässt sich beobachten, wie mit dem massenhaften Töten und Sterben im 1. Weltkrieg, mit der Sorge um seinen an der Front stehenden Sohn Martin, mit dem Tod seiner Schwester Sophie wie mit seiner eigenen Krebserkrankung der Tod zum zentralen Thema wird. ('Todestrieb').
Der Tod der anderen und die sich aufdrängenden Zeichen seines eigenen Todes bestimmten sichtbar nicht nur sein Lebensgefühl, sondern auch seine thematischen Schwerpunkte. … Darauf, welchen Einfluss seine persönliche Todesthematik auf seine Analysen hatte, sind wir auf Vermutungen angewiesen.“ (Briefliche Mitteilung von Helmwart Hierdeis) Soweit mir bekannt ist, ist in kaum einer der vielen Analyseberichte seiner Patienten und Lehrkandidaten etwas überliefert über seinen therapeutischen Umgang mit dem Todes-, Krankheits- und Sterblichkeitsthema innerhalb des analytischen Prozesses. Und darum, da ja viele der späten kollegialen Patienten wohl Bescheid wussten um seine Erkrankung, war Scheu und Schonung angesagt. Könnte dies ein Grund sein für die Scheu vor dem Todesthema in der psychoanalytischen Ausbildung und der psychoanalytischen Praxis?
Aber müssen wir den ewigen Spielregeln seiner späteren Kodifizierung der Neutralität und der eigenen realen und symbolischen Unsichtbarkeit hinter der Couch folgen? Ist es therapeutisch sinnvoll und zulässig, den Tod herauszunehmen aus dem Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung, die für den Großteil der Neurosen, aber schon so viel weniger für schwere Traumatisierungen, so wichtig sind?
Es gibt hilfreiche Anleihen bei anderen Therapieformen, etwa der Gestalttherapie, die aus der Sackgasse herausführen könnten. Wie Gott ist auch der Tod, seine Bilder, seine bedrohlichen Gespenster wie seine Introjekte ansprechbar im Gegenüber, in der direkten Konfrontation, im Rollenspiel, bei dem der Therapeut Hilfestellung gibt, notfalls mit körperlicher Unterstützung, wenn die Ängste überwältigend zu werden drohen. Der Gehorsam gegenüber den altvertrauten Spielregeln der klassischen Analyse ist zum Gefängnis geworden beim Thema Sterblichkeit.
Die Urkatastrophe Geburt und Todesangst
Auch für Freud formte die Geburt die Urmatrix aller Ängste. Aber das mögliche Trauma kennt tausend Formen: vom qualvollen Tod von Säugling und manchmal auch der Mutter, über verschiedene Formen der Quetschung, Beinahe-Erstickung, Lähmung, Verstümmelung, usw., bis hin zur lebensspendenden Kooperation zwischen Mutter und Kind, bis sie sich bei aufatmend sozusagen in den Armen liegen, mit stimulierenden Erfolgserlebnissen auf beiden Seiten. Wie kann Psychoanalyse umgehen mit diesen Primärerfahrungen mit Sterblichkeit und Todesnähe, bis der erste Schrei vom Überleben kündigt, das in früheren Zeiten mit beherztem auf den Popo gefördert wurde? Wie soll die bedrohliche Konvulsion der großen Passage, die sich zwischen Sturzgeburt und tagelangem Steckenblieben, Kaiserschnitt und Saugglocke, Steißlage und mütterlicher Erstarrung oder Erschlaffung in Übertragung und Gegenübertragung eingebracht werden? Was fängt die Psychoanalyse mit den archaischen körperlichen und protopsychischen Gefühlsqualitäten an, die in lebensermutigender oder lebensbedrohlicher Qualität alle Menschen in sich tragen?
Vielleicht hängt die Hilflosigkeit der klassischen Psychoanalyse dem Todesthema gegenüber mit der gehorsamen Beschränkung auf den immer erneut idealisierten Austausch von Worten zusammen. Die fast berührungslose Parallelarbeit zwischen einer Reihe von Körpertherapieformen sowie den inszenierenden Therapien und der klassischen Psychoanalyse verfestigt die wechselseitige partielle Blindheit und die mangelnde Kooperation, bei beiderseitiger Erhaltung einseitiger Omnipotenzphantasien. Nicht zuletzt das Thema von schwer Krankheit und Tod könnte eine wünschenswerte Kooperation der verschiedenen Therapieformen fördern. Es scheint eine fast biologisch verankerte Bereitschaft oder Neigung zu geben, Schwerkranken oder Sterbenden die Hand zu reichen oder zu halten, weil deren Körpergefühle wieder eng an die früheste Todesangst heranführen. Eine ganz neue Perspektive eröffnen der mutige Versuch von Hans-Volker Werthmann, den von Freud später als „verwahrlost“ bezeichneten und von den Nachfolgern gehorsam gemiedenen Zeitgenossen Wilhelm Stekel teilweise zu rehabilitieren. Freud hatte ihn zunächst ob seines intuitiven Einfallsreichsreichtums geschätzt, später als „unwissenschaftlich“ abgetan, worauf er von Ernest Jones verleumdet wurde, wie später Ferenczi auch.
Denn Freud bestand darauf, „Deutungen nur aus den Assoziationen des Patienten zugewinnen“ (Werthmann, S. 44), nicht aber aus bereits vorhandenen Symbolen, wie Stekel es vorschlug, für der, von Freud durchaus anerkannt, ein besonderes Gespür hatte, insbesondere für Todessymbole. Nach Werthmann hatte Stekel folgendes Argument vorgetragen: “Die Freudsche Technik der Assoziation zu Traumdetails versagt, wenn es sich um Traumsymbole handelt, die nicht individuell zu verstehen sind, sondern einer quasi allgemeinen Traumsprache entstammen.“ (S. 42) Nun hat Stekel in mehreren Kapiteln eine bedeutende Zahl von Todessymbolen aneinandergereiht, die deshalb so hilfreich erscheinen, weil in Tod ein besonderer Widerstand gegen das Auftauchen von Assoziationen zu Thema Tod und Sterben besteht, ein Grund mehr, die klassische Psychoanalyse für nicht besonders geeignet für den Umgang mit den Themen zuhalten.
Nicht umsonst hat Yalom deshalb die insistierende Nachfrage nach Todesangst zu seinem ausdrücklichen Programm gemacht, weil Patienten das Thema sozusagen instinktiv vermeiden. Infolge seines streng wissenschaftlichen Anspruchs hat Freud die Stekelsche „Intuition“ für Symbole abgelehnt, „ihre Leistungsfähigkeit ist jeder Kritik entzogen, und ihre Ergebnisse haben daher auf Glaubwürdigkeit einen Anspruch“ (Freud 1900a, S. 355, zitiert nach Werthmann, S. 43.
Und so blieb es Jung und seinen Schülern vorbehalten, mit dem Reichtum von in der Kultur vorhandenen Symbolen ganz anders umzugehen und damit psychisch den Tod durch äußere und innerlich vorgefunden Symbole zugänglich zu machen. Werthmann zitiert die hoch ambivalente Äußerung Freuds gegenüber dem später aus dem frühen Kreis ausgeschlossenen Abtrünnigen: „Dieser Autor, der der Psychoanalyse vielleicht ebenso viel geschadet als genützt hat, brachte eine große Anzahl von unvermuteten Symbolübersetzungen vor, die anfänglich nicht geglaubt wurden, später aber größtenteils Bestätigung fanden und angenommen werden mussten.“ (Freud 1900a, S. 355, zitiert nach Werthmann, S. 43).
- Freud, S. (1900a): Die Traumdeutung.
- Wertmann, H.-V.: Wilhelm Stekel – ein vergessener Pionier der Psychoanalyse und der Sexualforschung. In: Janta, B., Unruh, B., Walz-Pawlita, S. (Hg.): Der Traum. Psychosozial-Verlag, Gießen 2013