Raum für die Neuerfahrung Gottes
Aus der Arbeit eines Psychoanalytikers
2009
„Ich danke Ihnen, dass Sie einen solch offenen, großzügigen und provokanten Raum zur Auseinandersetzung mit Gottesnähe und Gottesferne bieten. Und das ohne eigenen Zugang zu einem persönlichen Gott! Mit provokant meine ich, dass Sie auch die wütenden, nicht salonfähigen Gedanken und Gefühle zu Gott einladen und aus Ihrer eigenen Haltung keinen Hehl machen!"
Diese Sätze schrieb mir eine Patientin, die in einem widersprüchlichen Chaos von vielfältigen kindlichen und jugendlichen Gottesbildern voller Liebe, Zweifel, Sehnsucht und Hass lebte und sich oft nur durch Verdrängen und Verleugnen helfen konnte. Sie trifft aber genau mein Bemühen, ohne eigene Tendenz oder gar missionarische Absicht die Not mit Gott anzuhören und die neurotischen Anteile zu mildern, vielleicht sogar zu heilen. Dabei spannt sich die Bandbreite von einem beobachtenden, lauernden, verfolgenden, übelnehmenden, hämischen oder rachsüchtigen Gott über einen Gott, der nur Gehorsam oder den nie endenden Dienst an ihm sowie Dank für seine Segnungen verlangt, bis hin zu einem Gott, der abwesend oder vergessen ist, der nicht antwortet und nie verinnerlicht wurde, der aber doch sehnsüchtig gesucht wird, in der Hoffnung auf ein Gefühl der Geborgenheit in einem verunsicherten, ängstlichen und orientierungslosen Leben. Unproblematisch sind bei meiner Arbeit natürlich eher Gottesbilder, die etwas von dem kindlichen Vertrauen und Geborgenheitsgefühlen bewahrt haben; wenn die Patienten nicht auffallen durch ein Übermaß an Selbstverlust, neurotischer Abhängigkeit oder süchtiger Gottesnähe. Aber auch hier geht es um Milderung einer destruktiven Bindung, um seelisches Wachstum, um den Mut zum eigenen Leben, zur „Freiheit eines Christenmenschen".
In manchen Fällen kann der gefährliche Gott, wenn er nur seelische Krücke war, auch verschwinden, in anderen Menschen sich humanisieren oder aus vergessenen Spuren sich neu offenbaren. Wichtig ist, dass Religiosität und Spiritualität nicht von vornherein als „Schiefheilung" des Seelenlebens, als „Opium fürs Volk" oder als zweifelhafte Lösung für kindliches Elend und lebensbedrohliche Angst denunziert werden. Ein eigenständiges menschliches Bedürfnis nach transzendentaler Bindung oder Orientierung wird in nichtdogmatischer Psychoanalyse heute auch vielfach anerkannt und nicht als zu beseitigende Schwäche der Person betrachtet. Gelehrt wird der therapeutische Umgang mit Gott als Umgang mit oft tiefen religiösen Nöten freilich noch kaum, und es bedarf einer längeren analytischen Erfahrung, um gelassen mit dem Thema umzugehen.
Der verfolgende Gott
Ein pensionierter Naturwissenschaftler, der bereits mehrere Psychotherapien absolviert hatte, ohne dass sein bedrängendes Gottesproblem wohl auch wegen seiner eigenen Scheu je thematisiert worden wäre, meldet sich nach der Lektüre meines Buches Gottesvergiftung. Sein Gott sei sein ständig misstrauischer und wachsamer Begleiter, beobachtend und lauernd, triumphierend, ungnädig und zudem von grausamer mephistophelischer Gerissenheit. Er habe unzählige Male versucht, sich vor ihm zu verbergen, aber sein bedrückender Pakt, den der Patient früh mit ihm geschlossen habe, laute: „Gott verhindert meinen Selbstmord, aber dafür verlangt er lebenslänglichen Gehorsam, verbunden mit Lebensverneinung und demütigender Unterwerfung." Und dieser Deal sei noch immer sein Schicksal bis in sein hohes Alter.
In der Regel versuche ich, Patienten mit ähnlichen Problemen mit und zuGott auf einem leeren Thron sprechen zu lassen. Bei den ersten Versuchen zeigte sich bei dem Naturwissenschaftler eine tiefe Angst vor der Konfrontation und eine ebenso tiefe Resignation: Er werde sich nie von diesem Gott befreien können, oder vielmehr: Dieser Gott werde ihm das nie erlauben, sondern seine Stärke hervorkehren und all seine Versuche, sich von ihm zu lösen, mit hämischer Verachtung vereiteln.
Es dauerte nicht lange, bis wir herausgefunden hatten, dass sein Gott ein direkter Nachfahre, ja Vertreter und Büttel seiner Mutter war. Ihm standen somit zwei Throne gegenüber, Gott und seine Mutter – ein wahrhaft einschüchterndes Paar, das sich in seiner Macht noch gegenseitig verstärkte und Widerstand aussichtslos erscheinen ließ. Doch langsam meldete sich bei dem Patienten auch Zorn, Enttäuschung und Verachtung beiden gegenüber, auch wenn immer wieder drohte, dass Gott sich für diesen bevorstehenden Aufstand rächen würde. So plagten ihn Alpträume der Verfolgung und nächtliche Schweißausbrüche, in denen er ums Überleben und einen eigenen Raum zu kämpfen schien.
Vor allem nutzte Gott den Hinterhalt der Versuchung – er setzte alles daran, ihn zum Genuss von Alkohol zu verführen, eine Auseinandersetzung, mit der mein Patient täglich zu ringen hatte. Ein Versagen in diesem Kampf hätte Gott immer wieder triumphieren und sein Opfer in die Fesseln schwer erträglicher Schuldgefühle und erneuter demütigender Unterwerfung stürzen lassen. Erst dadurch, dass ich behutsam einen „idealen Gott" einführte, der nicht verurteilt, sondern ihn annimmt wie er ist, konnte ich meinem Patienten eine Vorahnung religiöser Geborgenheit vermitteln: Er lag in Gottes Schoß auf einem Berg von Kissen und ließ allmählich eine mögliche Veränderung seiner Pein zu.
Was war mit seinem Gottesbild passiert? Sowohl die Mutter wie Gott waren Figuren, die ihn immer wieder zutiefst entwertet und gedemütigt hatten. Seine früheren Therapeuten hatte er idealisiert, solange er glaubte, sie könnten ihn von seiner befürchteten Nichtigkeit und depressiven Verstimmungen wie durch deutenden Zaubererlösen. Auch ich lief Gefahr, in seiner Idealisierung meiner Person als mächtiger Zauberer zu erscheinen. Kleine Fehler und störende Eigenschaften meinerseits verhinderten jedoch die Überhöhung als Gegengott und führten schmerzhaft zu einer realistischeren Wahrnehmung meiner Person. Erst ab diesem Zeitpunkt war es ihm möglich, zu einer verbindlichen Form der Therapie zu kommen und den enttäuschten Abbruch zu vermeiden. Es kam also darauf an, dass er meine Ohnmacht akzeptierte, den verfolgenden Gott schwächte und das schwache Gegenbild stärkte.
Kränkung, verbunden mit dem Gefühl, im Leben versagt zu haben, wurde zu einem zentralen Thema seiner Existenz. Deshalb war es hilfreich, nach seinen positiven Eigenschaften und Leistungen zu fragen, um auch eine Versöhnung mit sich selbst anzustreben. Das vergebliche Ringen mit dem übermächtigen Demütiger war durch sein geringes Selbstwertgefühl immer erneut angeheizt worden.
Dass ich sein Gottesproblem nicht zuletzt auch aus eigener Erfahrung ernst nahm, stimmte meinen Patienten dankbar, und er verzieh mir, dass ich ihm nur einen sehr langsamen Prozess der relativen Genesung versprechen konnte. Der vernichtende Gott war zu einem tief in seiner Identität eingelagerten Teil seiner selbst geworden, der nur durch eine szenische Externalisierung überhaupt sichtbar und somit als Problem angehbar wurde. Schrittweise wurde ich zu einem schützenden Begleiter, der bei dem zutiefst Entmutigten die Hoffnung auf Besserung aufrechterhielt. So konnte schließlich der verfolgende Gott ganz langsam gleichsam in Säure aufgelöst werden, wenngleich er sich mit Macht wehrte, indem er drohend vermittelte: ICH bin doch ein Teil von Dir, und ohne mich droht das Verderben. Zu einer inneren Sicherheit war es für den pensionierten Naturwissenschaftler noch ein weiter Weg.
Die verleugnete Sehnsucht nach Gott
Eine über fünfzigjährige, früh pensionierte Sportlehrerin war in einer Familie aufgewachsen, in der der Spott über Pfarrer, Kirche und Gott alltäglich war. Dieser destruktiven Überschwemmung mit Verachtung und Entwertung alles Religiösen wusste sie nicht das Geringste entgegenzusetzen, sodass sie in arroganter Abwehr aller spirituellen Bedürfnisse die Familienatmosphäre der hämischen Geringschätzung von Religion übernahm.
Das führte zu einer kräftezehrenden Spaltung ihrer Seele, die zwischen Verleugnung und Sehnsucht hin- und hergerissen wurde, wobei die Sehnsucht zur verachteten Eigenschaft wurde. Die Patientin schämte sich regelrecht, wenn sie bei geistlicher Musik – sie sang in einem Kirchenchor – in Gefahr geriet, ihre Sehnsucht nach übereinstimmender Zugehörigkeit zu den anderen Chormitgliedern zu spüren. Sie abstrahierte beim Singen die Texte völlig von den Melodien, um so die verheißungsvollen Inhalte auszublenden. Der Gehorsam der Familie gegenüber war in diesem noch unbewussten Ringen die stärkere Kraft.
Das Thema Gott tauchte in diesem Fall erst im vierten Jahr der Behandlung auf. Sie hatte es für sich unbewusst als bedeutungslos erklärt, es war kein gültiger, erwähnenswerter Stoff. Sie hatte jahrzehntelang ohne Gott gelebt. Da meine Patientin viel las, hatte sie sich wohl auch Freuds Abneigung und deutende Entwertung alles Religiösen zu eigen gemacht, und ich hegte auch den Verdacht, dass mein Buch Gottesvergiftung sie annehmen ließ, dass ich für eine Förderung ihrer stillen Sehnsucht nicht offen wäre. Sie hatte sich eine Annäherung an ihre religiösen Bedürfnisse schlicht selbst versagt und fürchtete, sich ihrer Familie zu entfremden, wie wenn sie abnormalen Wünschen zum Opfer gefallen wäre. Erst als ich sie ermutigte, wenn ich ausführte, dass viele, vielleicht sogar die meisten Menschen eine wenn auch oft entfremdete Geschichte mit Gott und Religion hätten, war es ihr möglich zu hoffen, dass auch sie ein autonomes Recht auf eine eigene Religiosität besitze.
So wurde ich eines Tages zum helfenden Zeugen eines ersten vorsichtigen Gebetes, das uns beide sehr bewegte. Wenn man mich früher gefragt hätte, würde ich es lange Jahre in meinem Beruf für unwahrscheinlich, wenn nicht gar für absurd gehalten haben, eines Tages therapeutische Ermutigung, ja Unterricht im Gebet zu leisten. Doch beim Zuhören spürte ich, dass sich bei meiner Patientin eine innere Wende andeutete, die ich begrüßen musste, weil ich den Schmerz ihrer Orientierungslosigkeit und die verachtete Frömmigkeit ihrer Seele gut genug kannte.
Kurioserweise war mir aufgrund der eigenen Enttäuschung, die mein Verhältnis zu Gott prägte, die Vermittlertätigkeit zu einem göttlichen Grund zu einer beruflichen Eigenschaft geworden, die mir jedoch selbst wie ein Geschenk vorkam, ohne dass es mich in Versuchung führte, meine eigene Ungläubigkeit infrage zu stellen. Die lange im schmerzlichen Wartezustand verharrende Frömmigkeit der Patientin begann nun zu einer seelischen Ressource für sie zu werden.
Ich persönlich brauchte plötzlich diese meine ungewohnte Rolle als vorübergehender Glaubenshelfer nicht mehr vor mir zu rechtfertigen, die mir doch, meiner orthodoxen psychoanalytischen Herkunft geschuldet, verdächtig sein musste. Denn es ging hier um die Vervollständigung ihrer Seele, um das Hereinholen eines wichtigen seelischen Anteils, der lange Zeit brachgelegen hatte, um eine Vervollständigung, die ihr die beglückende Vorstellung einer möglichen Ganzheit zu verheißen schien.
Trotzdem war es ihr aber immer noch wichtig, diese Entwicklung vor ihrer Familie geheim zu halten, aus Angst, aufgrund ihrer bislang ungebrochenen Loyalität noch einmal der Versuchung des militanten Zweifels zu verfallen. Die Idee, einen ganz eigenen Zugang zu Gott zu finden, sollte sie noch lange beschäftigen.