Tilmann Moser

Therapeutische Hausbesuche

Tilmann Moser (2012)

Lange Zeit war ich äußerst zurückhaltend im Umgang mit regelgläubigen Kollegen, was meine gelegentlichen Besuch bei einzelnen Patienten zuhause angeht. Natürlich konnte ich ungeniert zugeben, dass ich eine Patientin, die  mit schweren Schnitt- und Bruchverletzungen für mehrere Wochen in der Klinik lag, dort im gleichen Rhythmus unserer Stunden, nämlich zweimal wöchentlich, am Krankenbett besuchte. Dass sie sich dort nicht von mir verlassen fühlen musste, hat unsere Beziehung heilsam vertieft.

Aber dass ich ein erstes Mal, nach langer orthodoxer Gewissensprüfung und dem Kampf gegen den Verdacht des „Agierens“, eine Patientin in ihrer Wohnung besuchte, weil ihr Wunsch, ich möge endlich ihre Behausung kennenlernen, immer drängender wurde? Ich hatte Angst vor so viel Privatheit, war mir meiner eigenen Reaktionen nicht sicher, war besorgt, ich würde befangen und steif wirken, oder aber „kontraphobisch“ aufgekratzt. Natürlich prüfte ich lange den Verdacht, sie wolle mich zu einer unstatthaften „persönlichen“ Beziehung verführen – gibt man der Hexe erst einmal den kleinen Finger – traute mich aber endlich an Gedanken über „legitime Bedürfnisse“ heran, und siehe da: ihre Erleichterung, als ich kam, belohnte mich für meinen Mut zur Abweichung vom regelgesicherten Üblichen:

Ihre Familie war sozial geächtet, es kam nie Besuch, sie durfte ihre Klassenkameraden nie zu sich einladen. Natürlich kann man darüber auf der Couch die berühmte Trauerarbeit leisten und die kollegiale Gewissheit teilen, dass es nie  „wiedergutmachende emotionale Korrektur“ geben kann und darf. Von der Patientin fiel nach dem Erleben und durch die Nachbearbeitung des Besuchs in den darauf folgenden Stunden die Schamschicht der gesellschaftlichen Aussätzigkeit langsam ab. Und trotz dem Gefühl des verdienten Erfolgs hütete ich lange das uns verbindende Geheimnis, eingedenk des Gebots: keine Heimlichkeiten mit Patienten.

Und dann stieß ich auf drei wunderbare Seiten von Irvin D. Yalom in seinem Buch „Der Panama-Hut“, (München 2002), im Kapitel „Machen Sie Hausbesuche“, aus dem ich zitiere. Natürlich spricht der Analytiker, der zugleich Familientherapeut ist, hier mehr aus der Erfahrung des letzteren, indem Sitzungen vor Ort dringend notwendig sein können, aber er schreibt auch über Besuche bei therapeutischen Einzelpatienten, und erntet auch dort zunächst schwer vorstellbare Fortschritte.

„Ich habe einige Hausbesuche bei meinen Patienten gemacht. Viel zu wenig – denn ohne Ausnahme hat sich jeder als lohnend erwiesen. Jeder Besuch informiert mich über Aspekte meines Patienten, von denen ich sonst nie etwas erfahren hätte - ...“ Yalom hebt seltsamerweise fast nur die zusätzlichen Informationen hervor, die sich freilich als höchst bedeutsam erwiesen. Erst seine Gegenwart in der Wohnung oder vielleicht auch am Arbeitsplatz „triggerten“ bei ihm wie beim Patienten Themen, die sonst wegen scheinbarer Beiläufigkeit und Unerheblichkeit im Dunkel des Unbesprochenen oder Uneingestandenen geblieben wären.

Deshalb möchte ich den Bedeutungsgehalt solcher Besuch erweitern: Was bringt es an neuem Seelenstoff mit sich, wenn ich als Therapeut oder Analytiker nicht nur den oft sehr auswählenden Berichten der Patienten lausche, vielleicht sogar manches nachfrage, sondern wenn ich real auf der Bühne der Häuslichkeit erscheine? Mein Lehranalytiker hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich mein Wohnungsinneres genau beschreiben zulassen. Zuerst fand ich sein Interesse  sogar zudringlich, bis ich verstand, dass er nach versteckten, aber optisch ablesbaren Spuren meiner Neurose forschte, und war ihm dankbar für den gemeinsamen Phantasiegang durch meine Gemächer. Er bildete mit seiner Neugier, die ich ihm sogar einmal ärgerlich untersagen wollte, die Brücke zu meinem späteren Mut zu Hausbesuchen.

Die intensivsten Erfahrungen machte ich mit Besuchen in den Ateliers von zwei Künstlern. Bei der einen, eine inzwischen bereits erfolgreiche Malerin , von der ich in der Stadt bereits eine Ausstellung gesehen hatte, wurde der Wunsch, ich möge sie doch einmal im Atelier besuchen, immer deutlicher, obwohl ich ihn zuerst aus mancherlei Andeutungen erraten und formuliert hatte. Es brauchte aber noch mindestens ein Jahr, bis wir ihn realisierten. Ihr war einfach die Aufregung zu groß, mich in ihren Räumen mit viel Chaos, fertigen und unfertigen Gemälden vorauszuphantasieren. Auch ich war zögerlich, scheu, und Künstlern gegenüber bin ich ohnehin vor lauter Bewunderung befangen und weiß nie so recht, wie ich ihr Werk würdigen soll: ob ich die rechten Worte finde, genug Kunstverstand erkennen lasse und als Therapeut den Hochseilakt zwischen Lob, Inkompetenz und vorsichtiger Kritik gut absolviere.

Denn ich ahnte, wie sehr sie meine Äußerungen auf die Goldwaage legen würde, schon bevor ich das Ausmaß ihres Traumas durch scharfe väterlicher Kritik an ihren musikalischen Leistungen kannte. Wir übten also lange insgeheim unsere inneren Vorbereitungen, bis sei eines Tage meinte, nun könnte ich mein längst getroffenes Versprechen einlösen. Sie hatte Tee bereitet, sprach über mit leicht zitternder Stimme über ihre Maltechnik und die Bedeutung einiger Motive für eine kommende Ausstellung. Ich spazierte ein wenig steif in dem riesigen Raum herum, verweilte mit angeblichem Kennerblick vor einzelnen Bildern und genoss meine schwindende Befangenheit  und spürte eine ähnliche Entwicklung bei ihr. Wieder war die Nacharbeit eine Sache von Wochen, und wir verstanden, warum sie aus Angst vor Kritik und Scham, öffentlich aufzutreten, viele Ausstellungschancen nicht wahrnehmen konnte und ab und zu eine unerklärliche Malhemmung ihre Kreativität lahmlegte. Sie hatte mir zwar bereits einzelne Bilder in die Praxis mitgebracht, über deren Traummotive wir wichtige Zusammenhänge herausgefunden hatten, aber der Besuch im Atelier hatte für uns bei eine ganze andere Dimension von Bedeutung.

Es ging um eine Revision des väterlichen Blicks auf ihre Begabung, der einmal vernichtend gewesen war, und aus Protest gegen ihre Verheiratung hatte er sie auch nie an ihren Lern- und Wirkungsstätten besucht. Es begann sich ein Bann für sie zu lösen, und aus meiner Art, ihre Bilder zu kommentieren oder einfach schön zu finden, entnahm sie ein fundamentales Akzeptiert-Werden ihres Könnens. Während wir gefürchtet hatten, der Stand heftiger Übertragung und unsicherer  Gegenübertragung könnte uns einen Streich spielen, erwies sich gerade das anerkennende „Agieren“ inmitten der Übertragung als förderlich und wirksam. Auch ihre geheime Angst, eine bereits eingestandene Übertragungsgefahr der Erotisierung der Beziehung könnte unkontrollierbar werden, fiel in sich zusammen.

Eine andere Hausbegegnung fand fand im Atelier einer viel älteren Malerin statt, deren Voraufaufregung aber ähnlich hoch war wie die eben beschriebene. Ihre Hausfrauentugenden zwangen sie zu einer vorgängigen intensiven Putz- und Aufräumungsaktion. Aber darunter lag eine Grundangst, ihre Bilder, von denen sie nur wenige in kleinen lokalen Ausstellungen der Öffentlichkeit gezeigt hatte, könnten auch mir den Eindruck des absolut Unzeitgemäßen machen, weil sie viele düstere Szenen gemalt hatte, die ihr in hoffnungslosem Widerspruch zum heiteren oder poppigem Zeitgeist zu stehen schienen. Auch sie hatte Tee gemacht, und so konnten wir uns zuerst eine Weile an unseren Tassen festhalten und Annäherungskonversation machen. Aber dann spürte sie mein wachsendes Erstaunen und meine Bewunderung für die starke seelische Aussagekraft der Bilder. Sie sprach über biographische Hintergründe, und so erfuhr ich viel wichtiges Neue über bisher nur angedeutete Lebenskrisen, Ängste und traumatische Erinnerungen. Als ich gar zwei Bilder kaufen wollte und über ihren gering veranschlagten Preis wunderte, war ebenfalls ein Bann gebrochen: mein Kauf war ihr ein schlüssiger Beweis für meine Wertschätzung, und sie spürt selbst, dass es kein tröstender Höflichkeitskauf war.

Auch hier stießen wir auf eine tiefe mütterliche, diesmal nicht väterliche Einschüchterungund Entwertung im Hintergrund des Selbstwertgefühls, und außerdem kam es zu einer Milderung ihres sozialen Schamgefühls, das wir in viel tieferer Weise in der Nacharbeit erkunden konnten. Sie sprach mit größerem Mut von schambesetzten Eigenschaften und Erlebnissen,und das Generalthema Scham lag nun wie eine offene Landschaft vor uns.

Ein weiterer Hausbesuch ist mir in bester Erinnerung: Die im ganzen erfolgreiche Analyse war seit eineinhalb Jahren beendet, aber der mir schon vor Jahren abgeschmeichelte, abgetrotzte, versprochene Hausgesuch hatte immer noch nicht stattgefunden. Ich wusste, dass schmerzlicher Vaterverlust den Hintergrund bildete, die Patientin konnte sich nicht vorstellen, dass ich für immer verloren sein würde nach unserer letzten Therapiestunde. Wir hatten de Abschied ohnehin gedehnt, die Frequenz verdünnt, und schließlich nur noch in einem Monatsrhythmus getroffen. Ihr Leben war vergiftet gewesen durch Scham, Minderwertigkeitsgefühlen, Liebesunglück, Berufskatastrophen, mütterliche Ablehnung usw.

Sie hatte mich, zuerst gegen vorsichtigen, später auch wütenden Protest, mit verliebten Geschenken verwöhnt, darauf bestanden, mich mehrfach zu fotografieren, um mich sicher bei sich aufzubewahren. Sie war, was Kleider und Accessoires angeht, lange Zeit kaufsüchtig gewesen, fiel in der Praxis auf durch ausgewählte Aufmachung, und doch diente alles der Verhüllung einer tiefen Scham und einer Sucht, endlich zu gefallen und akzeptiert zu werden. Der lange aufgeschobene Besuch musste endlich sein, ich fing an, mich grausam zu fühlen, diesen tiefen Herzenswunsch nicht zu beachten. An ihrer klugen und inzwischen erfolgreich geselligen Erwachsenheit war nicht mehr zu zweifeln, mit Geduld hatte sie ihre dritte Ehe in eine tragfähige Form gebracht, aber es fehlte für das innere Kind der Segen eines Besuchs, und als ich ihre Wohnung betrat, verstand ich, warum sie sie mir zeigen wollte.

Sie war nach Lage, Ausstattung und künstlerischem Geschmack ein kleines Wohnparadies, fast vollendet, aber dennoch anheimelnd unaufdringlich, und ich wurde ein wenig neidisch, weil ich an meine eigene Wohnung ziemlich wenig Geschmack aufzuwenden vermochte. Sie auch immer ein wenig gelitten unter dem mobiliären Kunterbunt meiner Praxisausstattung.
Sie hatte den Tisch kostbar gedeckt, Kuchen gebacken, und meine eigene Befangenheit legte sich schnell, als ich merkte, wie ihre Stimme lange nicht aus hektischer Aufgeregtheit heraus fand. Aber dann gelang uns eine reife Unterhaltung, sie sprudelte dankbar die letzten Lebensereignisse herunter, traute sich einige private Fragen zu stellen, die ich gerne beantwortete, und wir schieden mit dem Gefühl einer endlichen Entspannung eines zu lange aufgeschobenen wichtigen Versprechens, die eine nicht auf der Couch zu lösende Sehnsucht stillte: den väterlichen Betreuer noch einmal in einem anderen Rahmen zu sehen, wodurch er auf eine ganz andere Art wirklich wurde. Natürlich war viel nachhallende Übertragung im Spiel, aber gemischt mit neuen Elementen abschließender Anerkennung der gemeinsam geleisteten Arbeit. Ein solcher Abschied ist mir von meinem eigenen Lehranalytiker nie gelungen, er hat ein späteres, rückschauendes Gespräch immer vermieden, sodass es nie zu einer kollegialen Solidarität gekommen ist.

Yalom beschließt seinen beinahe eine Werbeschrift zu nennenden Aufsatz mit einer vorsichtigen Warnung: „Hausbesuche sind wichtige Ereignisse, und ich will nicht behaupten, dass junge Therapeuten diesen Schritt leichtfertig tun sollten. Zunächst müssen Grenzen gezogen und respektiert werden, doch wenn die Situation es erfordert, sollten wir bereit sein, flexibel,kreativ und individuell zu reagieren.“ Was er nicht erwähnt, ist, wenn der Besuch sich schließlich innerhalb eine langen Therapie ereignet, dass es der vorausphantasierenden Vorbereitung bedarf. In ihr werden nicht nur sich abzeichnende neue Themen und Gefühle sichtbar, sondern drohende Befangenheit, Angst und Scheu werden angesprochen und ansatzweise vorweggenommen. Man begegnet sich dann auf einem in der Phantasie bereits einmal abgeschrittenen Gelände.

Spannend waren auch wenige Besuche in der Praxis von jungen Kollegen in Therapie oder Supervision: die Besichtigung der Orte ihres eigenen Wirkens erwies sich als wichtig für das Verständnis ihres eigenen Lebens- und Tätigkeitsgefühls innerhalb ihrer eigenen Umgebung, ihre Raumwahrnehmung, ihres Sitzplatzes, aber auch des Bildes, das sie in mir von ihrer Tätigkeit und Kompetenz vermuteten oder fürchteten. Auch bei starker Übertragung kann sich ein wichtiges Gefühl beruflicher und kollegialer Solidarität herausbilden, die beides enthält: Würdigung in der Übertragung und  erwachsene Anerkennung  der verwandten Aktivität und des gemeinsamen Selbstverständnisses im Beruf.

Meine Scheu wie mein Geheimhaltungsbedürfnis hat sich stark ermäßigt, auch wenn ich weit davon entfernt bin, von einer Routinehandlung zu sprechen. Jeder Besuch hat seine eigene Gestalt, seine eigenes Gewicht und seine eigene Bedeutung, und seine Einfügung in den Gang der Therapie oder Analyse muss immer individuell erarbeitet werden. Einige meiner Erfahrungen hat Yalom bereits formuliert, ohne deutend in die Tiefe zugehen: „Das Gespräch, das einem Hausbesuch vorausgeht,kann besonders produktiv sein. Manche Patienten bekommen Angst, sich derartig zu exponieren; vielleicht schwanken sie, ob sie noch einen Hausputz machen oder zulassen sollen, dass (gemeint sicher „wenn“, tm) ihr Heim au narurel besichtigt wird.“ … „Wieder andere zeigten wenig Interesse an sich selbst, als ob sie keine Schönheit, keinen Komfort i ihrem Leben verdienten.“ Also ist auch er auf Tiefenschichten im Selbstverständnis der Patienten gestoßen, er hat sie in seinem kurzen Aufruf „Machen Sie Hausbesuche“ nur nicht gründlicher untersucht.

Wichtig ist, dass beide Partner sich trauen, „unterbelichtete“ Selbstaspekte zu zeigen oder zu sehen zu bekommen. In harmloserer Form spielt das auch eine Rolle,wenn es darum geht, ob der Therapeut Aufführungen oder Darbietungen  unter Beteiligung seines Patienten besucht. Bedeutsam für die Behandlungen waren meine  Besuche bei Promotions- oder Habilitationsvorträgen: in der Vorbereitung des Ereignisses konnte noch die ängstliche Befangenheit vor mir dominieren, je nach vorgängiger Übertragungslage. Während der Veranstaltung jedoch überwog das Gefühl der Anerkennung, sogar des Schutzes vor allzu heftiger Aufgeregtheit vor großem Publikum. Wenn es um gewichtige Leistungen von Patienten geht, muss man sogar mit einem eigenen Kleinheits- oder Unterlegenheitsgefühlen umgehen, oder gar Rivalitätsproblemen, wenn unsere Person nicht mehr im Schutz der idealisierenden Übertragungsumhüllung genießt.