Tilmann Moser

Von Wimmern bis Schreien: Auf der Suche nach dem stimmigen Ton

Von Tilmann Moser (2013)

Welche Signalsysteme stehen dem Säugling, der seit wenigen Jahrzehnten als der „kompetente" gilt, zu Verfügung, um seine Bedürfnisse und Stimmungen auszudrücken und Pflegepersonen zur richtigen Einfühlung und zum passenden Verhalten zu veranlassen? Die ziemlich bald entwaffnend reiche Mimik, sein Bewegungsrepertoire und die Stimme. Der Psychoanalytiker und Affektforscher Rainer Krause hat in der jüngsten Auflage seines großen Lehrbuchs … viel eigenes und fremdes Material einschließlich anschaulicher Bebilderung zusammengetragen. Eine ähnliche Fülle findet man in den Büchern von …

Mütter wachen aus dem Tiefschlaf auf und eilen an die Wiege, wenn ihr Säugling oder Kleinkind sowohl harmlose wie mahnende oder beunruhigen Laute von sich gibt. Die verschiedenen Ausdruckswerte könnten auch die Lehrbücher der Schauspielkunst zieren, wenn es um die Präzision des Ausdrucks von Affekten geht.

Auch Psychotherapeuten und Psychoanalytiker sind es gewohnt, auf die Stimmqualitäten der verbalen Mitteilungen ihrer Patienten zu achten und deren Stimmung über den rein intellektuellen Gehalt hinaus zu entziffern. Dies um so mehr, wenn es, wie bei den klassischen Freudianern, in der Regel nur um den Austausch von Worten gehen soll.

Inzwischen weiß man, dass auch die „Tönung" zu den zu den den wichtigen Kommunikationsinhalten gehört, zur sogenannten Handlungssprache, die die verbale Bedeutungssprache orchestriert: konkordant, wenn Inhalt und Tonlage übereinstimmen, diskordant, wenn Worte und Stimmlage sich auf ganz verschiedenen Ebenen bewegen, sich sogar widersprechen. Auch die ans vorwiegend Verbale glaubenden Kollegen haben ihr akustisches Sensorium verfeinert und können am Stimmklang die Regressionsebenen erkennen und sich darauf einstellen, manchmal sogar stimmlich auf ähnlicher Ebene darauf eingehen, um den Einklang der Einfühlung zu signalisieren.

Die analytische Körperpsychotherapie mit ihrem viel präziseren Umgang mit Regression und ihrer Gewohnheit einer auch psychosomatischen Introspektion in ihre eigenen Begleitempfindungen ermutigen nun auch den regredierten Patienten zur stimmlichen Selbsterforschung, was zunächst auf eine erhebliche Schamschranke trifft. Auf die Frage: „Welcher Ton könnte zu dieser Empfindung oder Erinnerung gehören?", kommt oft die Antwort: „Laute und Geräusche zumachen, ist mir zu peinlich, erst recht auf Kommando." Trotzdem „entfährt" ihnen manchmal unbewusst ein Laute, ein Stöhnen, die Vorstufe eines kurzen Aufschreis, ein angedeutetes Wimmern, oder ein lautes Weinen, und manche versuchen den Laut rasch wieder ungeschehen z machen, eben aus der Scham heraus, der Laute könnte zu viel verraten oder schon der Beginn eines Kontrollverlustes sein.

Aus kurzer Erfahrung mit der Atemtherapie erinnere ich mich an die Aufforderung, einmal kräftig willenlichzu stöhnen, und siehe da, nach der Überwindung der Scham und des Trotzes fand ich einen Zugang zu Erschöpfung, Trauer oder Kränkung, und es ergab neuen Stoff für die seelische Weiterbehandlung der zunächst nur lautlichen Botschaft. Eine Zufallsäußerung: „Ach, stöhnen durfte bei uns nur die Mutter oder der Opa". Oder: „Schreien war natürlich total tabu, bis auf die jeweils privilegierten Säuglinge, deren Gezeter mir früh den Schlaf verderbe konnte." Oder: „Wen ich mal gewimmert habe vor Schmerzen, hieß es oft gleich: ´Stell dich nicht so an! So kalt ist es nun auch wieder nicht.!' Dann habe ich eben nicht mehr gewimmert. Besondr men Vater konnte Wimmern nicht vertragen, auch wenn ich krank war nicht."

Und so entdeckt man Landschaften des Umgangs mit kindlicher (wie auch erwachsener) Lautgebung in der Familie. Die oft auch averbalen, aber um so eindringoicheren Botschaft sind verinnerlicht und sogar zu Geboten geworden, am bekanntesten der unbarmherzige Imperativ „Ein deutscher Junge weint nicht!"

Es gibt ob unabweisliche Anzeichen, am deutlichsten vielleicht bei lange zurückgehaltener Wut, dass ein Schrei in der Kehle steckt. Eine mögliche Vorgangsweise ist die folgende: der eigene Eindruck ist um so unabweislicher, wenn wir in der körpertherapeutischen Einfühlung selbst die Verkrampfung im Hals spüren; andererseits kann es aber auch ein anderen Gründen, etwa des Übertragungsstandes oder einer quälenden Erinnerung die Vermutung eines gestauten Schreis geben: Darauf die vorsichtige Frage: „Können Sie sich vorstellen, diesen Schrei einmal zuzulassen?" Dann erscheint das Panorama der Ängste und Verbote, halbwegs auf der Realitätsebene die Frage nach den Praxis- oder Hausnachbarn; dann die Scham die Angst vor dem Kontrollverlust, der Schrillheit, dem hilflosen Krächzen, das nur zum Vorschein käme, usw., wahrlich ein Panorama von Angst, Trotz und Widerstand. In meinem Fallbericht „Der grausame Gott und seine Dienerin" habe ich ausführlich den langen Weg zum ersten Wutschrei der Patientin geschildert, es ging nicht ohne ein mehrmaliges Mitschreien von meiner Seite ab , sogar von einem Vorausschreiben, bis sie es riskieren konnte.

Oft ist eine für jeden Patienten andere Variation der Ermutigung und der Überzeugungsbildung nötig, um die inneren Barrieren zu überwinden. Aber wenn es dann gelingt, folgt Erstaunen und Erleichterung, nach der unvermeidlichen nachträgllchen Befangenheit auch ein Triumphgefühl und die Frage: „Darf ich noch mal schreien?" und die halb lustige, halb drohende Feststellung: „Das war aber noch längst nicht alles!" Mit einiger Erfahrung kann man sogar abschätzen, wie vorsichtig die Lautstärke noch gehandhabt wird. Für mich erwies es sich als hilfreich zu sagen: „Das waren immerhin schon fünfzig Prozent dessen, was ich in Ihrer Kehle vermute." Man lernt dann auch zu unterscheiden oder fragend zu erkunden, ob es sich um die elementare Wut des Säuglings gegen die Mutter handle, oder ob sich ein Bild des Vaters einstelle, oder eines Lehrer oder einer Chefs, oder, was noch noch mehr Überwindung kostet, auch einer schon erwachsen erlebten depressiven Mutter, die die Familie durch ihre Klagen in Schach gehalten hat.

So viel zum Schrei. Auf dem Gegenpol hören wir verstohlene Ansätze eines Wimmerns, das der lang bewährten Lautzensur entschlüpfte. Auch hier braucht es oft Ermutigung, solche schambesetzten Töne einmal zuzulassen. Unddann staun man, auch hier über die vielen Variationen de Wimmern, an Lautstärke, wenn man von Stärke überhaupt reden will, weil manches Wimmern ja in fast stummem Leid in die Kissen ging, oder an Formen des Atemverhaltens, der angestrengten Unterdrückungsversuche, und dann des vorsichtigen, schon mutigeren Ausprobierens dessen, was angemessen wäre für die fast noch unerkennbaren Gefühle, die eben oft erst durch den stimmlichen Ausdruck wirklich kenntlich werden. Nur durch die eigene Rührung erkennt man als Therapeut oft, wie viel nie wirklich ausgedrücktes Leid sich da vorsichtigst Bahn brechen will in den Ausdruck: nie mitgeteiltes Elend, das dann de ganzen Körper erfassen kann und manchmal in erschütterndes Weinen mündet.

Wimmern und Schreien sind Urlaute der Selbstäußerung, und wen wir uns ihnein einer Therapie nähern, müssen wir wissen, dass sie ihr jahre-, vielleicht lebenslange Schicksal hinter sich haben. Der Janov-Boom mit dem Urschrei als letztem therapeutischem Erlösungsschrei ist längst vergangen, aber einige Körpertherapieformen konnten das Brauchbare herausfiltern aus seinem damaligen missionarischen Halbwahn und verzichten auf das drängende Puschen, dem ich in meinen therapeutischen Selbstversuchen noch ausgesetzt war. Aber auch der weitgehend klassisch arbeitende Analytiker dar zum Schreien oder Wimmern ermutigen, hilfreich wäre es natürlich, wenn er beides in einem Stück Selbsterfahrung hätte erleben oder erproben dürfen.

Die Ermutigung zum Wimmern wird weniger sanft sein können als die zu Schreien, die vitaler klingen darf. Hier ist eher subtile Ermutigung wichtig, ein vroschtiges Mitlaut-Geben, das signalisiert: Ich kann den Schmerz spüren, aus dem diese Töne kommen, manchmal braucht es nur ein vorsichtiges Brummen oder Summen als ausreichendes Echo, das Raum bietet für das, was man durchaus als ein Experimentieren auf der Suche nach dem stimmigen Laut bezeichnen kann. Das Wort Experimentieren schafft eine Erlaubnis und eine Solidarität des gemeinsamen Forschen nach dem „echten" oder authentischen Ton. Gleichzeitig kann es der Beginn des Ausstiegs sein aus der Maske des falschen Selbst, die auch durch den Verschluss vor dem Schrei im Hals oder dem Wimmern gehütet und gefestigt gewesen sein kann.