Tilmann Moser

Wider den Beschleunigenswahn

Warum man Psychotherapien nicht einfach abkürzen darf

2011

Zu Freuds Zeiten waren beim Meister selbst Psychoanalysen oft nur einige Monate lang. Nach dem ersten Weltkrieg kamen bereits viele Amerikaner zu ihm, in der Hoffnung auf Heilung bei dem immer berühmter werdenden Mann, die meisten aber, es waren Ärzte, mehrheitlich sogar Psychiater, die sich aus- oder fortbilden lassen wollten. Nach wenigen Monaten kehrten sie zurück, entweder waren das Geld aufgebraucht, oder sie konnten nicht länger Urlaub nehmen von ihren Institutionen. Dafür behandelte Freud sie oft bis zu sechs mMl in der Woche, auf seiner Couch, seltener auch auf Spaziergängen. Es ging ihm darum, bei seinen Patienten den Ödipuskomplex, den er im Zentrum aller Störungen sah, aufzufinden, ins Bewusstsein zu heben, Einsicht zu fördern, und den so Ankurierten den heilsamen Nachwirkungen der Kur zu überlassen.

Seit jenen Jahrzehnten sind die Analysen länger geworden, zwischen 300 bis tausend Stunden, man ist gemeinsam in tiefere Seelenstockwerke abgestiegen, in frühere Lebensphasen, die Diagnosen wurden komplizierter. Aber wer genug Zeit und Geld hatte, durfte sich mit der Geduld des Therapeut die Zeit lassen, die er zu brauchen meinte, man vertraute dem spontanen, wenn auch durch viele Widerstände gebremsten Aufstieg des Unbewussten, ohne ihn forcieren zu wollen.

Im Berlin der zwanziger Jahre gab es sehr wohl Überlegung zu kürzeren Formen der Therapie, vor allem für Angehörige der einfacheren Schichten des Volkes. Aber vor allem die vorgeschriebenen Lehranalysen für angehende Analytiker zogen sich immer mehr in die Länge, es galt als unstatthaft, über die Zahl der Jahre überhaupt noch zu diskutieren. Der berühmte amerikanische, ursprünglich deutschstämmige Analytiker Leo Wurmser erklärte bei den Lindauer Psychotherapiewochen vor mehr als einem Jahrzehnt vor einem tausendköpfigen Auditorium von Kollegen, die seine Geduld und seine Beharrlichkeit anstaunten, bei einigen Patienten hätten sich erst nach der 1450sten Stunde die ersten wirklichen Veränderungen ergeben.

Und dann kam in den siebziger Jahre in Deutschland die Möglichkeit, Psychotherapien, auch längere Psychoanalysen von den Krankenkassen finanziert zu bekommen. Die Gutachter, die die Anträge im Auftrag der durchaus bereitwillig gewordenen Kassen prüften, waren selbst erfahrene Psychoanalytiker. Einigen Forscherpionieren war es vorher gelungen, in noch sehr einfachen Massenstudien die Wirksamkeit von längeren tiefenpsychologischen Therapien nachzuweisen und vor allem ihren prophylaktischen Wert zu dokumentieren.

Aber das psychoanalytische Monopol bei den Kassen sollte nicht andauern, und ehrgeizige Psychologen entwickelten die auf Lerntheorien basierend so genannte Verhaltenstherapie, die sich weniger auf biographische Verstrickungen konzentrierte, als vielmehr auf die rasche Beseitigung von Symptomen, ohne ihren komplizierten Ursprung mit zu ergründen. Es gab zum Teil rasche, wenn auch nicht immer stabile Erfolge. Die Analytiker konterten mit dem Vorwurf bloßer Symptomverschiebung und der rascher Wiederkehr der Störungen. Der Wettbewerb war eröffnet, die Verhaltenstherapeuten gefielen sich darin, mit immer kürzerer Behandlungsdauer bei den Kassen für sich zu werben. Diesen gefiel natürlich das Angebot, die Zahl der neuen Adepten vervielfältigte sich rasch, die Ausbildungen waren kürzer, kosteten weniger und verlangten bis in unser Tage keine tief greifende Selbsterfahrung des angehenden Therapeuten.

Es ging um die Beherrschung von durchaus aktiven Techniken, die von den Analytikern wiederum als Manipulation verdächtigt wurden. Die Verhaltenstherapeuten glaubten lange, sich nicht um Übertragungsphänomene kümmern zu müssen, also um auftretende Störungen von Faktoren der Verlangsamung und hemmender Verstrickungen im Verlauf der Therapien. Der Glaube an die Methode war stark, nach den Lehrbüchern konnte sogar die Persönlichkeitsstruktur des Therapeuten vernachlässigt werden, wenn er nur von Stunde zu Stunde seine Methode korrekt anwandte. Das hat sich freilich geändert, es herrscht inzwischen bei allen Schulen die Überzeugung, dass die warmherzige und ermutigende Beziehung des erfahrenen Therapeuten zum Patienten der wirkmächtigste Faktor für die Heilung ist.

Aber die Versprechungen einer viel rascheren Besserung lagen auf dem Tisch, und im Unterschied zu den Analytikern konnte man, übrigens auch im tiefenpsychologischen Fach, mit geringerem Aufwand Psychotherapeut werden und musste sich dafür mit einem weit geringeren Kontingent an Stunden zufrieden geben. Inzwischen beklagen auch viele Verhaltenstherapeuten ihre anfängliche Großsprecherei. Aber die Verkürzung von Psychotherapie ist ein wichtiges Thema vieler Beratungen und vor allem einer wachsenden Effizienz – aber auch Beschleunigungsforschung geworden. Effizienz, messbare Dauer und Kalkulierbarkeit des Vorgehens sind Zentralbegriffe geworden, und dazu passt, dass vor allem die Verhaltenstherapie ihr oft auch jugendlicheren Adepten – sie kann bereits während des Studiums an den Universitäten gelehrt werden – nachdrücklich um umfassend versucht – neben anderen „rationaleren" Verfahren - ihre Methoden zu „manualisieren". Das bedeutet, dass der Kandidat ein Handbuch in die Hand bekommt, in der die therapeutischen Schritte, sogar nach ihrem zeitlichen Ablauf, vorgeschrieben sind.

Das erleichtert die Ausbildung und vor allen den Vergleich der Prozesse, die sich, durchaus störungsspezifisch, aneinander angleichen, kontrollierbar und leichter lehrbar werden sollen. Der Trend hat inzwischen sogar mit der sogenannten Fokaltherapie einzelne psychoanalytischer Institute erfasst , die sich rühmen, mit kontrollierbaren Schnell- und Kurztherapien ohne den langen Umweg über eine Erforschung der Persönlichkeit des Patienten zum Ziel zu kommen. Dabei werden auch die Leistungen der Kandidaten leichter überprüfbar, diesen wird allerdings viel Gehorsam gegenüber den Manualen abverlangt und die Überzeugung, dass Kostenersparnis in Verbindung mit Effizienzmessung die Leitlinien für die Zukunft darstellen.

Bei der von vielen Seiten betonten Zunahme seelischer Erkrankungen wird natürlich der Kostenfaktor ein Problem, wichtig ist aber auch festzuhalten, dass die gesamten Kosten für Psychotherapien nur eineinhalb Prozent des medizinischen Gesamtbudgets bisher ausmachen. Regelrecht schädlich ist es für viele durch Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt traumatisierte Patienten, sich bisher in den engen Stunden- und Kostenrahmen fügen müssen, obwohl ihre Prozesse der Gewinnung von verlorenem Vertrauen und der Neugewinnung eines tragfähigen Untergrundes ihre verletzten Seelen viel länger brauchen.

Auch ihre Therapeuten leiden darunter und leiden unter dem das viel zu raschen Abbruch einer genehmigten Therapie. Ich selbst hatte und habe viele Patienten, die sich nach fünfzig bis einhundert Stunden dankbar verabschieden, weil ihnen das genehmigte Kontingent genügte. Aber bei vielen anderen wäre ein Abbruch nach einer so begrenzten Stundenzahl ein grausamer Einschnitt, besonders bei den sogenannten Borderline-Patienten und den frühen Störungen.

Ich nenne den sich ausbreitenden Schwerpunkt auf Tempo und rasch messbare Effizienz auch deshalb einen „Beschleunigungswahn", weil er so sehr dem ökonomischen und technischen Machbarkeitswahn der Moderne entspricht. Den Industriesoziologen ist längst klar, dass der Beschleunigungszwang der Berufsarbeit an seine Grenzen kommt. Die finanziellen und sozialen Kosten für die Masse von burn-out-Patienten nehmen dramatisch zu, ebenfalls die erst allmählich sichtbar werdenden Zahl für kirchlichen und innerfamiliären Missbrauch, mindestens die, die bekannt werden und langfristige Behandlung brauchen. Der bekannte Psychotherapieforscher Horst Kächele hat sich unlängst mit der grassierenden Mode der „Manualisierung" von Psychotherapie und kommt zu dem Ergebnis, dass Manuale zwar dem Anfänger als Hilfe dienen, dass aber erfahrene Therapeuten am meisten erreichen, wenn sie eine am besten für den Patienten geeignete Therapie ohne vorgeschriebene Leitlinien anwenden.

Der Freiburger Ordinarius für Medizinethik schrieb im Juni 2011 („Psychotherapeutenjournal 2/2011)in einem grundlegende Aufsatz über die „ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie" zur Mode der Manualisierung:

„Das gesamte Gesundheitswesen folgt immer mehr den Kategorien des Marktes. Damit werden den Heilberufen Denksysteme übergestülpt, die ihrem Grundsatz, einen verstehenden Dienst am Menschen zu verrichten diametral entgegenstehen. Mit einer marktwirtschaftlichen Grundorientierung gehen Tendenzen zur Standardisierung und zur Modularisierung einher. Zugleich liegt ihr ein impliziter Glaube an die Machbarkeit, Objektivierbarkeit und Berechenbarkeit der Therapie zugrunde. … In ethischer Hinsicht ist diese Entwicklung problematisch, weil mir der Übernahme dieser Denkkategorien der Kern dessen ausgehöhlt wird, worauf es in der Psychotherapie ankommt: nämlich die Kultur der authentischen und verstehenden Sorge um den Anderen."

Es steckt in dem Beschleunigungsdruck bei Psychotherapien ein inhumaner Zug. Die Seele lässt sich in ihren Prozessen kaum eine gravierende Beschleunigung aufzwingen, ohne dass es zu oft noch unbekannten „Kollateral"-Schäden kommt, die dann ein anderer Arzt, etwa der Internist oder der Psychosomatiker zu sehen bekommt, oder der Kostenfaktor steigt rapide an, wenn erst einmal die Serie der notwendig werdenden Kliniksaufenthalte anläuft.