Tilmann Moser

Psychoanalyse und Alltagswissen

Zehn Essays über bedenkenswerte Themen

Einleitung

Zwar ist die Psychoanalyse mit vielen ihrer Begriffe und Denkweisen in die Alltagskultur eingedrungen, und doch gibt es oft eine Kluft zwischen einer "sauberen" Anwendung ihres Gehalts in der analytischen Situation mit der Couch, und ihrem halbwilden Gebrauch zur Deutung von Phänomenen des täglichen Lebens, die uns neugierig machen oder irritieren. Die folgenden Essays versuchen einen Mittelweg zwischen der sauberen und der halbwilden Verwendung der Freudschen Entdeckungen: zur seelischen Nachwirkung der NS-Zeit, zu heutigen Phänomenen der Religion wie zu einigen privaten Erlebnissen. Die meisten der behandelten Gegenstände entstammen nicht der disziplinierten Beobachtung von Patienten im klassischen Setting, sondern aus Begegnungen mit Menschen, bei denen das analytische Instrumentarium zwar mit dabei war, aber eben nicht in der spezifischen und disziplinierten Fokussierung auf innerseelische Prozesse, sondern mehr in Form einer Art von Wachheit, aber ohne korrektes Deuten, dazu gab es meistens gar keinen Auftrag.

Ein Sonderfall sind die Aufsätze über Martin Walsers "Springenden" Brunnen und über Augustinus´ "Bekenntnisse", bei denen die analytische oder familientherapeutische Methode an Texte angelegt wird. Über dieses Problem der Psychoanalyse von Texten wird von einschlägig geschulten Germanisten gründlich nachgedacht. Es gibt Gegner und leidenschaftliche Befürworter der Methode, und manch einer hat schon laut gejubelt, wenn er in einem Roman einen positiven oder negativen Ödipuskomplex entdeckt hat und ihn sogar zurückverfolgen konnte bis in die Kindheitsbiographie des Autors.

Es macht Spass, sich gelegentlich schreibend psychoanalytisch halbwild zu gebärden, wenn man sich vom sicheren Seil der klassischen Theorie gehalten weiß und zum Auftanken dorthin zurückkehren kann. Man darf dann kühner spekulieren und sich vom sicheren Wissenschafts-Jargon ein wenig weiter entfernen und sein Vertrauen in die Alltagssprache prüfen, die ja auch etwas mit breiterer Allgemeinsverständlichkeit zu tun hat. Dieses Büchlein mag also nicht immer dem psychoanalytischen Reinheitsgebot entsprechen, dafür aber vielleicht auch Leser finden, die das Gesagte mit eigenen Gefühlen und Gedanken oder auch nur Ahnungen verbinden mögen.

Der "Springende Brunnen" und die Erinnerung an die NS-Zeit

Wieviel mußte Martin Walser wissen vom damaligen Schrecken?

Es ist ein merkwürdiges Paradox: im Spätsommer 1998 erhielt Martin Walser für den Roman seiner Kindheit von den meisten Kritikern einhelliges, teilweise begeistertes Lob. Und doch findet sich in einigen wichtigen Rezensionen mehr oder weniger explizit die Frage: Ist dem Nationalsozialismus, in dem sich diese Kindheit und Jugend vollzieht, in genügender, geeigneter, wahrhaftiger Form Rechnung getragen? Neben der ästhetischen Rezeption steht also, als mehr oder weniger deutlicher Hintergrund, die geschichtstheoretisch unterfütterte moralische Kritik. Hajo Steinert im "Focus" meint zwar noch, der politische Tadel wäre Walser eher in den sechziger oder siebziger Jahren sicher gewesen: "Wäre der Roman in den sechziger oder siebziger Jahren erschienen - die Wächter der politischen Korrektheit hätten von Verharmlosung gesprochen." Doch diesen Vorwurf gab es auch heute.

Die große, bei vielen Kritikern sogar fast hymnisch klingende Welle der Rezensionen war gerade vorübergerauscht, als das Literarische Quartett am 14. 8, 1998 die ethische Dimension radikal in den Vordergrund rückte. Dabei wird Walser von Marcel Reich-Ranicki nicht nur vorgeworfen wurde, er könne nicht erzählen; der weit schwerwiegendere Vorwurf lautete: die NS-Zeit sei ausgespart geblieben, und es gebe ausgesprochen antisemitisch tönende Stellen. Andreas Isenschmid sagte in der NZZ: es handle sich um eine "Kindheitsgeschichte im deutschen Faschismus, in dem das Wort Auschwitz nicht vorkommt, das Wort Dachau vielleicht dreimal vorkommt, aber der Schrecken des Faschismus, wie wir ihn kennen, eigentlich beinahe ausgeblendet ist.... Martin Walser hat sich dazu entschieden, diese Jugend.... mit Scheuklappen zu schildern. Ganz bewußt hat er das Wissen, das im Buch dargestellt ist, reduziert auf das Wissen, das er damals gehabt hat und das ist kläglich wenig, und er weigert sich sozusagen hinzutun so etwas wie Vergangenheitsbewältigung, ja geradezu auch nur Scham zu zeigen über die damalige Zeit." Walser sollte sich also schämen, entweder für die NS-Zeit als ganze oder sein damaliges Erleben oder sein Sich-Einlassen auf sein damaliges Empfinden.

Es gibt zu diesem Vorwurf allerdings auch ganz andere, gegensätzliche Stimmen. So schreibt Peter Glotz in der "Woche":

"Die `Dachauer`, die KZ-Häftlinge also, kommen nur in einer winzigen Szene vor, die Judenmorde im Osten nur indirekt, in zwei verstörten Figuren. Wasserburg war nicht Auschwitz. Aber Auschwitz ist gegenwärtig.... das Grauen, das dieses Regime auslöst, ist spürbar, und sei es nur in der unkommentierten Art, in der die Schuldfreunde Adolf und Johann kämpfen, um einander auf die Knie zu zwingen."

Was Reinhard Baumgart in der "Zeit" stummen Protest nennt, bezeichnen andere als Trotz, mit dem sich Walser gegen ein nachträgliches Wissen-Sollen oder Beurteilen wehrt. Auf jeden Fall wird deutlich, daß an Walser ethische Ansprüche gestellt werden, die sich gegen Verharmlosung, Idyllisierung, Selbstimmunisierung, Abschottung, Flucht vor der Geschichte richten.

Nun ist es in der Tat verwunderlich, daß zwar sehr viele szenische Beobachtungen über die NS-Zeit im Städtchen Wasserburg am Bodensee in den Text hinein komponiert sind, wir aber über die Seelenlage der Personen, vor allem der Mutter, wenig erfahren, und kaum etwas über seine damaligen Reaktionen oder Nicht-Reaktionen auf das, das der Beobachtung zugänglich war oder war man hören konnte. Die Mutter war schließlich früh, 1932, in die Partei eingetreten, um den Konkurs der Familiengaststätte abzuwenden und sie mit Erfolg für die Versammlungen der SA anzubieten. Es fehlt nicht an Passagen, in denen über brutale Vorfälle und die langsame Veränderung von Personen hin zu braunen Verhaltensweisen berichtet wird; aber es fehlt an der Wahrnehmung der Innenperspektive, dem Seelenhaushalt des Walserschen Hauses, nachdem der Parteieintritt und die Öffnung des Hauses für die später so genannten "braunen Horden" geschehen war. Und auch Johann, der vieles und oft in frühreifer Differenziertheit erlebt und reflektiert hatte, nimmt diese Episoden und Ereignisse sozusagen nur als Bilder wahr, fast ohne emotionalen Nachhall. Insofern ist sicher manches "ausgespart", aber vermutlich nicht nachträglich, sondern bereits im Wahrnehmungsvermögen des Kindes und des Jugendlichen, dem sich Walser ganz anvertraut.

Martin Walser hat viel nachgedacht über Fragen der Erinnerung, der geschönten, gereinigten, der aufgefrischten, opportunistischen oder modernisierten Erinnerung. Es ist auch bekannt, daß er diesen Roman, der nicht nur der Roman seiner Kindheitsentwicklung sein sollte, sondern auch ein Porträt seiner Mutter, mit vielerlei lange vor sich hergeschoben hat.

Das Problem war also längst deutlich: Wieviel kann oder muß ein Kind und junger Mann bemerken und bedenken, der, 1927 geboren, sehr viel hätte wahrnehmen können, wenn er auch nur einen bescheidenen Teil seiner spürbaren seelischen Kraft und Auffassungsgabe diesen Fragen zugewandt hätte. Und wenn er sich dann erinnert: Wie viel nachträgliches Wissen darf oder muß einfließen in die Bewertung, ja vielleicht sogar die Darstellung der versunkenen Zeit, über deren Schreckenshintergrund wir heute so viel mehr wissen als damals. Oder um es anders zu formulieren: Gibt es eine subtile oder auch deutliche Nötigung zur politischen correctness, die es verbieten würde, einen Entwicklungsroman aus jener Zeit ohne tieferes Berührtsein durch den immer schon spürbaren Schrecken des Dritten Reiches zu schreiben?

In seiner berühmten Rede vom Herbst 1988 in den Münchner Kammerspielen mit dem Titel "Über Deutschland reden" nähert sich Walser gleich eingangs wie folgt dem Thema, das schon vollkommen deutlich in seinem Bewusstsein war:

"Ist man fähig oder gar verpflichtet, Kindheitsbilder nachträglich zu bewerten, oder darf man sich diesem allerersten Andrang einfach für immer überlassen? Ich habe das Gefühl, ich könne mit meiner Erinnerung nicht nach Belieben umgehen. Es ist mir, zum Beispiel, nicht möglich, meine Erinnerung mit Hilfe eines inzwischen erworbenen Wissens zu belehren." Das klingt wie eine vorweggenommene Einleitung zum "Springenden Brunnen".

Martin Walser hat sich immer wieder sarkastisch oder auch wütend über die political correctness geäußert, mit der über Auschwitz zu reden sei, und die Walser-Bubis-Debatte im Anschluß an seine Friedenspreisrede hat das Thema zu einem heiß umkämpften gemacht. Walser wollte sich 1988 aus seinem eigenen Gründen schämen, und nicht, weil ihm der Diskurs der Scham von außen vorgeschrieben, ja aufgezwungen werde. Insofern höre ich bereits aus der Einleitung seiner großen Rede über Deutschland einen trotzigen Unterton heraus. Und dieser Unterton begleitet auch das Buch "Ein springender Brunnen."

Eben dieses fast trotzige Ausklammern bestimmter Wahrnehmungen, Assoziationen, Gedanken, Erinnerungen an Konflikthaftes aus s e i n e r NS-Zeit, mögen Sigrid Löffler von der "Zeit", Andreas Isenschmid und Reich Ranicki auch gespürt haben. Es gibt aber noch andere mögliche Motive als diesen in der Zeit des Schreibens vermuteten Trotz. Sie ergeben sich aus der frühen Familienstruktur, aus Loyalitäten, vor allem zur Mutter, aus Konflikten, die für das Kind zu groß gewesen wären, hätte es sie selbst durch bewußte Wahrnehmung vertieft. Das bedeutet folgendes: Die Ausblendung des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens damals ist nicht ein seelisches Handeln des gegenwärtig schreibenden Autors, sondern eher eines, das sich segmenthaft im Kind und im Jugendlichen vollzieht. Neben subilsten Einsichten in zwischenmenschliche Vorgänge und Wahrnehmungen von höchster Präzision auch über politische Dorfereignisse stehen ganz unterschiedliche Niveaus der Perzeption wie der seelischen Verarbeitung. Es ist, als ob Johann keinen inneren Raum hätte haben dürfen für politische Konflikte. Daß er ihn potentiell in sich trug, zeigen Walsers spätere lebenslängliche Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen. Die germanistische Gretchenfrage, inwieweit Johann und der junge Walser in eins gesetzt werden dürfen, lasse ich hier unglöst stehen, nehme vielmehr an, daß Walser eine Form gesucht hat für die Struktur seiner eigenen Erinnerungen, wie er es ijn der erwähnten Münchner Rede angedeutet hat.

Martin Walser ist kein Freund der Psychoanalyse. Sie ist für ihn ein starres Theoriesystem, das Deutungen in seelische Vorgänge hineinträgt, die der Dichter viel authentischer erfaßt, ohne sie auf einen zerstörerischen Begriff zu bringen. Trotzdem wage ich es, aus der therapeutischen Erfahrung mit NS-verstrickten Patienten der zweiten Generation, in dieser Diskussion über Erinnerungen an die NS-Zeit einige psychoanalytische Begriffe zu benutzen.

Damit komme ich zu einigen tiefenpsychologischen Aspekten des Themas, das die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller von Jahren schon durch einen Buchtitel auf den Begriff gebracht hat: "Du sollst nicht merken". Damit sind Gebote angesprochen, die durch unbewußte oder auch bewußte Anweisungen in der Familie das regeln, von dem gesprochen werden darf; ja sogar, was wahrgenommen und gefühlt werden darf. Die Sanktionen, die hinter diesen Geboten stehen, sind weniger konkrete Strafen als vielmehr die Angst vor Liebesverlust, die Angst, eine Katastrophe in der Familie anzurichten, eines oder mehrere Familienmitglieder zu verletzen oder aus dem Gleichgewicht zu bringen, sie zu überfordern oder schlicht Schmerz und Sorgen zu bereiten. Wie tief diese Gebote reichen, wie tief ihre auch die Kindheit überdauernde Wirksamkeit ist, hat vor allem die Familientherapie herausgearbeitet. Dort spricht man dann von der Kollusion des Schweigens, ja der Verschwörung zum Schweigen, aber auch von Wahrnehmungs- und Denktabus, die bis zur Herausbildung familiärer Wahnwelten führen können, wie sie zum Beispiel Horst Eberhard Richter in seinem Buch "Patient Familie" analysiert hat.

Im folgenden soll also versucht werden, anhand einzelner Passagen in Walsers Roman Zeichen solcher Schweige- oder Wahrnehmungstabus zu orten und zu analysieren, um zu einem möglichen Bild des Familienklimas zu gelangen, das vielleicht beim jungen Martin Walser ganze politisch relevante Fragmente von seelischem Erleben ausgeblendet hat. Die Erfahrungen meiner eigenen Kindheit und Jugend mit Wahrnehmungs- und Thematisierungsverboten spielen hier sicher mit herein.

Es wäre sowohl falsch, später von gereinigten Erinnerungen zu sprechen, wie auch falsch, Walser vorzuwerfen, er habe an einseitig idyllischen Erinnerungen festgehalten, die übrigens so idyllisch gar nicht sind. Eher handelt es sich um Leerstellen, und an diesen Leerstellen entfaltet sich, so viel sei vorweggenommen, ein grobes Filter gegen die Vertiefungen einer Wahrnehmnung gefährlicher Inhalte in entscheidenden Momenten.

Mit deutlich fühlbarer Wirkung gibt es ein mütterliches Psst, oder süddeutsch Pscht, oder, noch deutlicher, ein: "Könnt ihr denn von nichts anderem reden", wenn die Rede auf die gefährliche Politik kommen will. Und da schließen sich sofort die Münder, das Thema wird gewechselt. Manchmal heißt es auch aus "zischendem" mütterlichem Mund etwa: "Nicht vor den Buben!" Dieses Ausschließen von politischen Themen ist um so auffallender, als in Geschäftsdingen der junge Johann früh eingeweiht wird in heikle Angelegenheiten. Er wird zum Geschäftspartner der Mutter, dem sie Geheimnisse anvertraut, die selbst der Vater nicht wissen darf. Ganz anders in Sachen Politik. Lapidar heißt es gleich im ersten Teil des Romans, als es um die Gefahr des Bankrotts der Gastwirtschaft geht, über die ersten auffälligen Veränderungen der Menschen und die drohenden Feindschaften:

"Der Großvater sagte leise vor sich hin: Wenn i bloß ge Amerika wär. Stand mühsam auf und ging hinaus. Die Mutter sagte: Der Brugger Max hat gesagt: Jetzt hilft bloß noch der Hitler. Der Vater sagte: Hitler bedeutet Krieg. Dann sagte er, er müsse ins Bett. Ja, sagte die Mutter, du bist arg blaß." (59)

Damit ist der seelische Handlungsspielraum der drei Hauptpersonen in der Familie knappstens gekennzeichnet.

Erhalten wir also in das affektive Innere des Helden einen geradezu akribischen Einblick, so werden die übrigen Figuren, vor allem die Eltern, fast nur deskriptiv wahrgenommen mit dem, was sie sagen und tun, allenfalls noch wie sie es sagen und wie sie es tun. Man spürt die Stimmung, manchmal die Gewalt der innerfamiliären Verhältnisse, die latenten Konflikte über die Hitlerei, aber sie werden weder benannt noch beschrieben, höchstens andeutend wahrgenommen. Sie bleiben sozusagen ohne seelische Entfaltung, und damit fallen ganze Themenbereiche weg, die einige Kritiker so sehr vermissen.

Verlangt man nun nicht, daß der Autor sein Wissen von heute dem Knaben oder Jugendlichen von damals überstülpt oder introjiziert, so muß doch das Urteil, daß die NS-Zeit in dem Roman beinahe ausgespart bleibe, zurückgewiesen werden. Sie ist in vielen Ereignissen, Konflikten, Veränderungen der Menschen und Gewaltszenen präsent. Aber sie ist nicht präsent als innerlich wahrgenommene, reflektierte Gefahr, als Inhalt familiärer Gespräche oder Brüche, oder als Denkinhalte des einsamen Jungen. Um es ganz verkürzt zu sagen: Die Mutter geht in die Partei und öffnet die Gastwirtschaft den Nazis, um überleben zu können und den Konkurs abzuwenden. Wie sie selbst zu deren Ideologie steht, wird nie deutlich. Doch da sie sehr katholisch orientiert ist, vermutet man, daß die Mutter mit gespaltenem Bewußtsein gelebt hat, aus opportunistischem Mitmachen und ländlich-katholischer Distanz, die sich in gelegentlich sarkastischen oder entwertenden Äußerungen gezeigt haben mag. Man spürt in kleinen Splittern einen Widerwillen gegen ein seelisches Eintauchen in jede Form von nationalsozialistischer Ideologie, die doch in ihrer krudesten SA-Form die Gaststube überschwemmt. Aber über die Mutter nachzudenken scheint sich der Junge wie der Jugendliche verboten zu haben, wie überhaupt das Nachdenken äußerst selektiv bleibt. Wir erfahren nicht, ob die Mutter nachgedacht hat oder sich bestimmte, nach außen sichtbar werdende Gefühle überhaupt erlaubt hat. Aber wie sie die Armbewegung des "deutschen Grußes" fast zu einer Karikatur machte, zeigt doch viel an innerer Distanz.

Entsprechend gibt es bei Johann eine deutliche Tendenz, die Nazis, und hier besonders die frühe SA im Dorf und ihre öffentlichen Auftritte, mit despektierlicher Komik wahrzunehmen, fast auf der literarischen Ebene kurioser Moritaten.

Der ironische Blick ist nicht der eines sechs- bis siebenjährigen Kindes, nicht einmal der des pubertierendenKnaben, sondern vielleicht der mütterliche oder der katholisch-dörfliche im Jahr dreiunddreißig. Denn der junge Johann selbst übt fasziniert bei seinem Freund Adolf vor dem Hitlerbild im Wohnzimmer des SA-Führers das Strammstehen und Grüßen und erinnert sich an seine Bewunderung für den Freund, der einen so mächtigen Vater hat.

Der eigene Vater ist schwach und wird von Adolfs Vater verachtet und bedroht. Der Konflikt zwischen den Eltern über die Politik taucht immer wieder auf, er muß das Familienklima untergründig bestimmt haben, doch er wird nie ausgetragen, ja kaum formuliert, und wenn er ausbricht, müssen die Buben aus dem Zimmer, und es wird deutlich, daß Krankheit droht. Die Mutter hat im Januar 1933 Hindenburg am Radio reden hören, sie kommt aufgeregt ins Zimmer:

"Hindenburg hat gesprochen, sagte sie. Im Radio. Man hat ihn gehört, wie wenn er vor einem stehen würde.

Der Vater: Was hat er gesagt? Die Mutter: Daß es so nicht mehr weitergeht. Diesen Winter kann Deutschland, sagt er, nicht überleben! .... Dann gibt es eine Katatrophe, eine Katastrophe durch nichts als Not und Hoffnungslosigkeit.

Der Vater: Die Katastrophe heißt Hitler.

Die Mutter: Das hat er nicht gesagt.

Der Vater: Aber gemeint.

Ins Bett jetzt, die Buben, sagte die Mutter und preßte ihre Hand an die rechte Seite. Der Vater sagte sofort: Die Galle? Die Mutter setzte sich auf den Bettrand, stand aber gleich wieder auf und sagte: Das wird sich weisen. Sie sagte das natürlich in einer anderen Sprache als der Vater. Sie sprach ja eine andere Sprache als der Vater." (87/8)

Meine Hauptthese ist die folgende: Aus einer Reihe von Gründen ist der Pakt mit dem Nationalsozialsmus das Äussere, für die Mutter das zum Überleben Notwendige. Aber er darf um des Überlebens wie um des Familien- und des Seelenfriedens willen kein Thema werden, kein Seelenstoff. Er tritt sozusagen nicht ins Denken und nicht in die Gefühlswelt ein. Er ist übermächtig wirklich und gleichzeitig unwirklich, oder, wie die Mitscherlichs es für die Nachkriegszeit formulierten, seelisch derealisiert. ("Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967) Eine rationale und emotionale Thematisierung würde diese Menschen überfordern, oder sie fürchteten es, und so entstanden Mechanismen des Selbstschutzes. Einer der wirksamsten ist die sogenannte Abspaltung: Ein ganzer Teil der Realität enthält keinen Zutritt mehr zur Welt der Gefühle.

Nur das Klima der Sorge und der ohnemächtigen väterlichen politischen Spinnerei wird deutlich. Wer will schon einer ewig bekümmerten Mutter, auf deren Schultern die Last des Erhalts der Familie liegt, noch tiefere Sorgen machen; wo der Vater schon den Fluchtweg zu den unschuldigen poetischen Wörtern bahnt, als einer zunächst konfliktfreien Zone der Freiheit?

Über Gefühle wird natürlich ohnehin nicht geredet. Aber zur Hilfe bei ihrer Entzifferung, zum Verstehen, Gestalten und Erleben hat Johann die schöngeistige Literatur, sozusagen den Schatz der Innerlichkeit, der er verfällt, um sich überhaupt wahrzunehmen. Er formt oder produziert seine Seele durch das Schreiben von Gedichten. Es wird deutlich, daß die Mutter, da der Vater Hitler für eine Gefahr hält, sich aber nicht durchsetzen und die Familie nicht ernähren kann, den kaum sechsjährigen Johann als emotionale Stütze braucht für ihre Entscheidung, die SA in die Gaststube zu lassen. Das rechtfertigende Beweisstück ist eine Postkarte, die der Ortsgruppenleiter der als kirchlich-katholisch bekannten Wirtin am Ende seiner kleinen Werberede für Hitler überreicht:

"Die schenk ich Ihnen, sagte er. Die Mutter hielt die Karte Johann hin, als sei es wichtiger, daß er sie anschaue. Christus am Kreuz, vor ihm einer im Braunhemd mit der Hakenkreuzfahne, ein zweites Braunhemd neben ihm hebt die Hand zum Schwur. Kannst du lesen, was da steht, sagte die Mutter. Johann buchstabierte und sagte dann den ganzen Satz: Herr, segne unsern Kampf. Adolf Hitler." Meine wohlbegründete Vermutung ist die: Ein Kind würde die Mutter nicht mehr stören, durch Wahrnehmung, Zweifel oder Aufgebehren, wenn sie in einfachster und verzweifelter Seelenarbeit versucht, zum Überleben Christus und Hitler zusammenzubringen, in der uns heute fast wahnwitzig erscheinenden Hoffnung, daß der zweite sich dem ersteren unterstellen werde.

Es mußte also viel ausgeblendet werden, um Versammlungslokal der SA bleiben zu können. Und es wird immer deutlicher, daß die Sorge der Mutter übergeht in Krankheit, deren Anzeichen, die Koliken, dann am heftigsten werden, wenn es um Schritte auf den Nationalsozialismus zugeht. Aber der ist nicht eine Ideologie, sondern eine Partei, mit der es aufwärts gehen soll.

So kommt es, daß Johann zwar SA-Szenen in der Gaststube genau schildern kann, aber sie bringen keine Emotionen und kaum Gedanken mit sich. Sie gleiten an ihm ab.

Walser schreibt an mehreren Stellen nicht nur, daß er ein Ereignis oder eine Person vergessen habe, sondern er betont: er habe sogar vergessen, daß es es vergessen habe. Mir scheint das eine Umschreibung einer vollständigen Tilgung eines unliebsamen Inhalts aus dem Bewußtsein, eben das, was man eine vollständige Verdrängung nennt, angereichert durch weitere Mechanismen wie Verleugnung, Derealisierung und Abspaltung.

Der Umgang der Mutter mit gefährlichen Inhalten gleicht einer aus der angenommenen Lebensgefahr entstammenden Einschwörung. In der Wirtschaft erzählt ein gewisser Battist politisch gefährliche Dinge. Die Mutter spürt die Gefahr für und durch das Kind:

"Als Johann mit der Mutter wieder allein ist, sagt sie, was er von Battist gehört habe, dürfe er niemandem sagen, sonst verlören alle ihr Leben, der Gast, die Mutter und Johann. Die Mutter sagt für alle Arten von Sterben immer: das Leben verlieren."

Und nun folgt unmittelbar eine kleine Passage, die entweder zeigt, daß die Mutter eine übertriebene Angst hatte, oder aber, daß Johann sich den gefährlichen Wahrnehmungen bereits durch Weghören entzog:

"Johann nickt; eigentlich hätte er ihr sagen sollen, daß er gar nicht zugehört habe, also nicht wisse, was er niemandem sagen dürfe."

Eine Seite später wird die Technik der Entwirklichung genauer geschildert. Wolfgang, ein Freund, und Johann begegnen einem Zug von KZ-Zwangsarbeitern. Wolfgang flüstert:

"Die Dachauer. Da fällt Johann ein, daß er jenen Battist vergessen hat und auch vergessen hat, daß er ihn vergessen gehabt hat. Das einzige, was Johann an dem Sonntagmorgen bei seinem Nichtzuhören gehört hat, ist: Dachau. Als Johann nach der Flak-Ausbildung heimkommt, in die Küche kommt,... sagt der Großonkel gerade: Büßen müssen wir es sowieso. Die Mutter sagt: Pscht. Ihr Gesicht täuscht etwas vor. Johann erinnert sich an das Gesicht der Mutter, nachdem sie mit Battist gesprochen hat. Dieses Gesicht hat er vergessen gehabt und vergessen, daß er es vergessen gehabt hat." (123) Man könnte geradezu von einer Technik der Reinigung des Bewußtseins sprechen. Zur Wiedererkennung bedarf es nicht nur bestimmter Auslöser, sondern auch Situationen geringerer Gefahr, in denen Erinnerung wieder möglich wird.

Es ist wahr: es gibt Szenen, in denen das Kind oder der jugendliche Johann überwältigt wird von Gefühlen. Und dann gibt es wieder Szenen, die Johann oder Walser über Johann so aus der Distanz berichtet, als habe er sie wie hinter Glas erlebt, während dem Leser beinahe der Atem stockt. Auch dieses Phänomen ist aus der Psychotherapie bekannt: Patienten konnten als Kinder, auch noch als Erwachsene, bestimmte Ereignisse gar nicht fühlen, erleben, sie waren kalt oder erstarrt, leblos oder innerlich gespalten. Dann muß der Therapeut ihnen seine Gefühle leihen, damit sie auch für den Patienten erlebbar werden, nachdem sei Ich gestärkt wurde. Ich will Johann beileibe nicht zum Patienten machen, sondern hervorheben, daß er in einer Situation der Spaltung gelebt hat. Der Reichtum der Gefühle wie der sensiblen Wahrnehmung ist in manchen Bereichen einfach nicht angesprungen, und so ging es, schrecklich zu sagen, vielleicht Millionen Deutschen, auch Erwachsenen. Man kann es moralisch sehen, verurteilen, oder psychologisch oder sozialpsychologisch oder massenpsychologisch deuten. Aber auch dies gehört vielleicht zu Walsers Kunst wie zu seiner Aufrichtigkeit: Er unterschiebt dem Johann keine Gedanken und Gefühle, die er damals nicht hatte, auch auf die Gefahr hin, beschuldigt zu werden als Verharmloser der NS-Zeit.

Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich noch eine Familienszene der Einschwörung zitieren, bei der Johann sehr nahe an ein gefährliches politisches Fühlen und Denken und Handeln herankommt, weil es einem hitlerkritischen Clown zustößt, Axel Munz: Dieser hat für Johann dadurch eine hohe emotionale Bedeutung, als er zum Zirkus La Paloma gehört, der auf der Walserschen Wiese spielt, und Johann verliebt ist in ein Zirkusmädchen Anita. Der Clownn wird wegen seiner Anti-Nazi-Scherze nachts fast halbtot geschlagen. Darüber berichtet Johann in der Küche. Der HJ-Führer Edi Fürst habe gesagt:

"Ein übles Subjekt sei der Dumme August schon gewesen, aber verprügelt hätten ihn Auswärtige. Er vermute, daß das die vom SS-Landsturm gewesen seien. Jetzt seid doch stil, sagte die Mutter.... Jetzt hört doch endlich auf, sagte die Mutter. Man kann doch über etwas anderes reden. Und fing an zu weinen. Alle schwiegen. Der kleine Anselm, der auf ihrem Schoß saß, zog die Augenbrauen in die Höhe, sah von einem zum anderen, vorwurfsvoll. Ihr seid schuld daran, daß sie jetzt weint. So schaute er seine Brüder an. Die Mutter sagte, es reiche doch, daß der Vater nichts als Schwierigkeiten gehabt habe mit den neuen Leuten.... Man könne doch still sein jetzt, oder! Ob denn noch nicht genug Unglück über die Familie gekommen sei."

Klarer kann ein Schweigegebot nicht ausgesprochen werden. Und es ist leichter einzuhalten, wenn man die bedrohlichen Dinge nicht mehr wahrnimmt, nicht über sie nachdenkt. Das Schweigegbot läßt auch die seelische und mentale Kompetenz schrumpfen oder sich gar nicht erst entwickeln, mit der die bedrohlichen Dinge verarbeitet werden könnten. Und die schrumpfende Kompetenz wiederum macht mutlos, ja sogar regressiv, und in dieser Regression verstärkt sich wiederum die Loyalität zur Familie, die durch Widerspruch, Fragen und Thematisieren bedroht würde.

Ich mache einen Zeitsprung, um dem späteren, wissenden Walser zuzuhören, in einer Rede mit dem Titel "Auschwitz und kein Ende", die er 1979 zur Eröffnung der Ausstellung "Überleben und Widerstehen" mit Zeichnung von Häftlingen des Todeslagers hielt, und die er mit folgenden Worten schloß:

"Es genügt ein Blick auf ein Auschwitzbild, und jeder gesteht sich wenigstens ein: Wir sind nicht fertig damit. Du kannst nicht bewältigen lassen. Die Gewalt, die in diesen Bildern erscheint, ging von dir aus, jetzt kehrt sie zurück, zu dir. Es genügt nicht, seine Eltern und Großeltern zu fragen: wie war das und das. Frag doch dich, wie es ist.

Ich möchte immer lieber wegschauen von diesen Bildern. Ich muß mich zwingen hinzuschauen. Und ich weiß, wie ich mich zwingen muß. Wenn ich mich eine Zeitlang nicht gezwungen habe hinzuschauen, merke ich, daß ich verwildere. Und wenn ich mich zwinge hinzuschauen, merke ich, daß ich es um meiner Zurechnungsfähigkeit willen tue."

Der erwachsene Walser hat sich immer wieder der deutschen Vergangenheit zugewandt, aber er wollte Johann nicht mit diesem späteren Programm bedrängen. Das Walser sein Genug-Haben vom öffentlich-drängenden NS-Thema in seine maßlose Pauls-Kirchen-Rede goß, steht auf einem anderen Blatt.

Und doch ist der Holocaust auf beklemmende Weise präsent im Kindheitsroman, aber in den Emotionen eines Anderen, in den Tagen von Johanns militärischer Ausbildung, ebenso wie das Thema Verrat und Denunziation. Ein Obergefreiter der Kurland-Armee auf Heimaturlaub erzählt: "Da gab`s Urlaub nur, wenn man einen Kameraden, der am Endsieg zweifelte, denunzierte." Und der hatte Urlaub bekommen. Und dann sagt er, "er müsse dauernd Hundegebell nachmachen, weil er als SA-Mann bei der Judenverfolgung mitgemacht habe und jetzt dauernd daran denken müsse, ob er das büßen müsse.... Was er denn getan habe, fragte Johann. Angezündet, sagte er, und geschlagen." Und der Soldat wimmert fortwährend bei der Erinnerung. Aber wieder bleibt es offen, ob Johann eine emotionale Reaktion verspürt. Und Walser unterschiebt sie ihm nicht. Er folgt ihm in das knappe Abbrechen der Szene. Johann will ja noch in den Krieg, vielleicht um sich vor dem toten Bruder zu beweisen. Er weiß: wer am Endsieg zweifelt, kann das Leben verlieren. Verblendet zieht es ihn in den Kampf. Und dann geht es ganz rasch mit der Flucht aus der sich auflösenden Einheit, mit der Kapitulation, mit die Heimkehr.

Und wieder läßt Walser dem fast zum Mann gewordenen Johann seine Unfähigkeit, emotional zu reagieren. Zurück in Wasserburg sieht er den Nazilehrer am Pranger sitzen, im Schaufenster eines Cafés:

"Lange konnte Johann nicht hinschauen. Sobald er das Schild, das dem Hauptlehrer umgehängt worden war, gelesen hatte, rannte er davon. Ich war ein Nazi, stand auf dem Schild.... Johann ging dann gleich wieder langsamer. Er wollte nicht auffallen."

Mir scheint, Walser überläßt es dem Leser, diese Unfähigkeit zu erkennen, vielleicht zu bedauern, oder auch die Aufrichtigkeit Walsers zu würdigen. Die "Unfähigkeit zu trauern" ist vielleicht nie aufrichtiger eingestanden worden als gegen Ende des Romans, als Johann heimkehrt und vieles hört von den Grausamkeiten der letzten Kriegstage, von den gefallenen Schulfreunden, aber auch von den letzten Hinrichtungen von Polen wegen Rassenschande. Er stürzt sich in neue Bücher, fühlt sich euphorisch:

"So gestimmt, konnte Johann von nichts Schrecklichem Kenntnis nehmen. Alles, was entsetzlich war, fiel ab an ihm, wie es hergekommen war. Er wollte nicht bestreiten, was rundum als entsetzlich sich auftat. Aber er wollte sich nicht verstellen. Und er hätte sich verstellen müssen, wenn er getan hätte, als erreiche ihn das Entsetzliche. Es erreichte ihn nicht." (389)

Der seelische Stupor, so möchte man fast sagen, wird noch deutlicher. Er begegnet dem halbjüdischen Jungen, dessen demütigenden Ausschluß aus der HJ er miterlebt hatte. Johann ist unfähig, etwas zu sagen. Und dann hört er vom Schicksal von dessen Familie, die gerade noch emigrieren konnte. Und nun kommt wieder das Geständnis des doppelten Vergessens:

"Wolfgang hatte ihm leid getan, als Edi Fürst ihm das Fahrrad den Rain hinuntergeworfen hatte. Er hatte Wolfgang dann vergessen und vergessen, daß er ihn vergessen gehabt hatte."

Und als Wolfgang ihm von der Geschichte ihres Überlebens erzählt, spürt er wohl, er sollte fühlen und sprechen, aber er verhakt sich in der Beschreibung des Gesichts von Frau Haensel, der Jüdin, und er schildert es so, daß Walser von Reich-Ranizcki der Vorwurf des Antisemitismus gemacht wurde. Doch nehme ich an, daß Walser zu seiner damaligen Wahrnehmung steht, obwohl er weiß, es ist politisch nicht korrekt mitzuteilen, wie Johann damals dieses jüdische Gesicht sah, vielleicht verzerrt oder vergröbert durch seine bedenkenlos aufgesogenen Vorurteile.

"Woher hätte er wissen sollen, daß Frau Haensel Jüdin ist?" (Er muß zuhause die Frage unterdrückt haben nach jener Ausschlußszene, was ein Halbjude ist.) "Er wollte von sich nichts verlangen lassen. Was er empfand, wollte er selber empfinden. Niemand sollte ihm eine Empfindung abverlangen, die er nicht selbst hatte. Er wollte leben, nicht Angst haben.....Er mußte wegdenken von ihr und ihrer Angst.....

Seit er wußte, in welchser Angst sie gelebt hatte, wußte er nicht mehr, wie er ihr begegnen mußte." Von seiner Familie her war er nicht vorbereitet auf Gefühle zur Politik und zum Schrecken. Dann wird deutlich, daß der Stupor nicht nur den Verfolgten gilt, sondern auch dem eigenen toten Bruder.

"Die Toten warteten auf ihn. Er konnte sich Josef nicht tot vorstellen. Er sah Josef immer lebendig vor sich. Vielleicht würde er sich im Winter die Toten vorstellen. Jetzt nicht. Nicht in diesem glühenden Sommer." (401)

Man könnte hinzufügen: im Sommer des Überlebens, und wäre dann rasch bei dem düsteren Paradox, daß der Sommer des Überlebens für viele Deutsche fünf Jahrzehnte gedauert hat.

Ich habe schon erwähnt, daß Walser kein Freund der Psychoanalyse ist, und doch umschreibt er mit dichterischen Worten die Wirkung des Unbewußten: Etwas, das, obwohl unterdrückt, ausschlaggebend ist. Allerdings hat er eine, wie ich meine, idealisierende Vorstellung, ein Wunschbild, wie Vergangenheit wieder sichtbar und fühlbar werden könnte: durch passives, geduldiges Abwarten. Aber so scheint mir, der Mut des Schriftstellers, sich auf das Unbewußte einzulassen, ist nicht der Mut des durchschnittlichen Zeitgenossen, der sich ohne Hilfe erinnern soll.

"Wunschdenkens Ziel: Ein interesseloses Interesse an der Vergangenheit. Daß sie uns entgegenkäme wie von selbst."

So mag sich der Schriftsteller über die Jahre des Schreibens gefühlt haben: geduldig wartend aus das, was aufsteigen will und nach Worten sucht. Offensichtlich hat er kaum Hilfmittel gebraucht, sondern sich nur geöffnet. Deshalb klingen für mich als Psychoanalytiker die folgenden Sätze streng, puristisch, ja sogar falsch. Denn eine Reihe von therapeutischen Schulen arbeitet sehr wohl, und mit Erfolg, mit der Hilfe von kleinen Zeichen, Gegenständen, Auslösern, die die Schleusen der Erinnerung zu öffnen vermögen, und ebenso machen es viele Lehrer und Erwachsenenbildner, die Erinnerungsstücke verwenden. Natürlich können auch sie nicht alle Widerstände überwinden; aber sie können hilfreich sein. Doch Walser meint:

"Die Vorstellung, Vergangenheit könnne man wecken wie etwas Schlafendes, zum Beispiel mit Hilfe günstiger Parolen oder durch einschlägige Gerüche oder andere weit zurückreichende Signale, Sinnes- oder Geistesdaten, das ist eine Einbildung, der man sich hingeben kann, solange man nicht merkt, daß das, was man für wiedergefundene Vergangenheit hält, eine Stimmung oder Laune der Gegenwart ist, zu der die Vergangeheit ehe den Stoff als den Geist geliefert hat." (281) Als Psychoanalytiker weiß ich, wie viel helfende Ermutigung es brauchen kann, um, manchmal nach jahrelanger Arbeit, einige Tor zu öffnen.

Walser hat sicher hauptsächlich die gesellschaftlich manipulierte Vergangenheit im Sinn, die von dokumentarischen Eindrücken überflutete Erinnerung, die ständig angemahnt wird. Und Walser denkt auch an die geschönte Vergangenheit, die sich viele Menschen nach 1945 zugelegt haben.

Der Psychotherapeut weiß, daß Patienten, die nicht Walsers schriftstellerische Geduld und die Fähigkeit des Abwartens haben, Hilfe brauchen, die verborgenen oder verschütteten Erinnerungen zu ertragen. Zwar kommen heute viele Patienten, weil sie als Angehörige der zweiten Generation an Kriegs- oder Verfolgungstraumen leiden. Aber die bewußte Absicht, sich dem Abgründigen in sich zu stellen, muß nicht bedeuten, daß die Offenheit und Bereitschaft nicht unterwegs erlahmen will. Der Therapeut hilft beim Aushalten der kleinen und größeren Schritte. Er ermutigt auch, und stellt aktive Vermutungen an, was im Familienuntergrund schwelen könnte. Er muß sich mit den Erinnerungswiderständen der Patienten wie deren Familien auseinandersetzen.

Walsers Buch öffnet durch seine literarische Qualität wie die Kraft seiner Erinnerung, Türen des Mutes. Der Therapeut steht oft genug vor der Situation, daß er ahnt, ja fast weiß, daß im Patienten ein düsteres Geheimnis von Erinnerung lastet, das er ansprechen muß, auch wenn der Patient Widerstand leistet. Er ahnt die Loyalitäten, die bedroht sind, wenn es an die Leichen im Keller geht. Die Beziehungen zu den verstrickten Angehörigen verändern sich, es gibt Schuldgefühle, Strafbedürfnisse, Träume, in denen Rache angedroht wird. Und so ist es nicht schwer vorauszusagen, daß Walser, obwohl das natürlich nicht in seiner Absicht lag, Erinnerungshilfe gibt, gerade weil es so konsequent beim Beobachten und Mitteilen geblieben ist und alles Mahnen und Kommentieren vermeidet. Man kann ihn begleiten, sich identifizieren oder sich abgrenzen, sich zumuten, wieviel man erträgt, an manchen Stellen aber auch weitergehen, oder bewußter reflektieren, warum so viel Erinnerung in der eigenen Lebensgeschichte im Dunkeln geblieben ist, soweit die NS-Zeit betroffen ist.

Übertragung und Inszenierung: Der therapeutische Zugang zu den geschichtlichen Katastrophen

Selten hat mir ein Vortrag, den ich gerne und sogar mit Eifer übernommen hatte, solche Mühe gemacht wie dieser. Vordergründig lag das an einer Kränkung, an der ich einige Wochen litt, und die vielleicht für das Thema von Bedeutung ist. Deshalb riskiere ich es, von diesem subjektiven Moment auszugehen, in der Hoffnung, zu objektiven psychischen Sachverhalten vorzustoßen, die ich dann mit Ihnen teilen kann. Denn obwohl es mir nicht an Kampfgeist fehlt, fühlte ich mich vom Thema ermattet und sehnte mich nach Rückzug in freundschaftliche oder kollegiale Solidarität. Es war, als hätten sich alle Widerstände gegen das NS-Thema erneut festgefressen.

Der Anlaß war der folgende: ein Jahr nach dem Erscheinen mußte ich als Bilanz anerkennen, daß mein Büchlein "Politik und seelischer Untergrund", in dem ich mein Nachdenken über die "Wiederkehr des Verdrängten", nämlich NS-Zeit und Stalinismus, zusammengefaßt hatte, keine einzige gedruckte Besprechung gefunden hatte. Auch der Verkauf stagnierte. Ich meinte, ins Leere geredet zu haben und fragte mich: Wozu mache ich das?

Ich hatte dann in einer kleinen Streitschrift die meist hämischen Reaktionen der Literaturkritik auf Ulla Berkéwics´ faszinierenden Roman "Engel sind schwarz und weiß" untersucht und bin ebenfalls vorwiegend auf Häme gestoßen. In den wenigen Rezensionen wurde ungeniert der Verdacht ausgedrückt, daß meine Analyse lediglich Ausfluß einer Liebschaft und also ein Minnedienst für die Autorin, die Frau meines Verlegers sei. Ich kannte sie aber vor der Fertigstellung des Buches gar nicht. Der Roman geht zum ersten Mal der Seelensprache der NS-Zeit aus der Perspektive eines Hitlerjugendführers nach, der mit achtzehn Jahren aufwacht, als sein erster Auftrag hinter der russischen Front eine Massenerschießung ist. Es war nicht schwer, hinter der Häme der Kritik etwas von der Abwehr der eigenen möglichen Verführbarkeit, von der unbewältigten Vergangenheit in den eigenen Familien der Kritiker zu spüren. Ich sprach sogar von einer Rezeptionskatastrophe. Es fand eine Polarisierung statt zwischen der Aufgeklärtheit und moralischen Reinheit der Kritiker und dem Verdacht, die Autorin sei selbst eine späte und von sich selbst berauschte Quelle von Nazi-Mythologie, trotz ihrer zum Teil jüdischen Herkunft. Die literarische Botin wurde zur geistig-seelischen Schreibtisch-Täterin gestempelt. Die ungeheuren Botschaften des Romans fielen unter den Tisch.

Was enthält meine Kränkung und die Vergeblichkeitsgefühle vor diesem Vortrag an mehr als subjektiver Bedeutung? Obwohl der therapeutische Umgang mit der seelischen Erbschaft der NS-Zeit auch in Täter- und Mitläuferfamilien nicht mehr tabu ist und sich die Arbeiten darüber mehren, kenne ich das Thema von Erschöpfung, Entmutigung, Angst und Isolierung auch von Gesprächen mit anderen Kollegen. In den Stichwortverzeichnissen der analytischen Lehrbücher der letzten Jahre kommen Hitler und der Nationalisozialismus nicht vor. Eine wirkliche Diskussion der behandlungstechnischen und menschlichen Probleme bei der Analyse von Täter- und Mitläuferkindern ist noch kaum in Gang gekommen; vor allem, nachdem die Pionierleistungen, etwa die von Anita Eckstaedt ("Nationalsozialismus in der ´zweiten Generation´". 1989), fast unisono der Schuldentlastung der Deutschen und des Antisemitismus geziehen worden waren.

Die Analytiker, die auf dem Weg der Übertragungs- und Gegenübertragungsanalyse sich auf das Terrain des Grauens gewagt haben, berichten von schweren Belastungen und Verstrickungen, von kaum erträglichen Gefühlszuständen, wenn sie in der therapeutischen Rolle selbst zum Objekt massiver negativer Projektionen, Übertragungen oder gar projektiven Identifikationen geworden sind, wenn sie in die Gestalt der Verfolger und Dämonen rückten. Dazu eine kurze Passage von Gottfried Appy (1992):

"Der Analytiker schien unterdessen projektiv mit negativen Gefühlen vergiftet worden zu sein, die sie ausgrenzt und in ihn hineingesteckt hatte. Für sie war er neidisch und verfolgend geworden,, sodaß sie ihm nicht mehr vertrauen und Deutungen nicht mehr hilfreich annehmen konnte. Sie war nahe daran, in eine Totalidentifizierung mit den omnipotenten sado-masochistischen Vernichtungsimpulsen ihres Traumes abzugleiten und akut psychotisch zu werden." (S. 33)

Trotz der fast einstimmigen Berichte über die seelischen Belastungen findet aber folgender paradoxer Vorgang statt: das Bekenntnis zum "Aushalten" und zur strikten Anwendung der reinen Übertragungsanalyse intensiviert sich. Und dies, so meine wichtigste These, obwohl die Probleme der Überlastung des Analytikers es immer fraglicher erscheinen lassen, ob die Instrumente von Übertragung und Gegenübertragung geeignet, oder vorwiegend geeignet sind, die NS-Thematik einigermaßen bewältigen zu können. Liest man Fallberichte von solchen Analysen, so fällt der heroisch-masochistische Ton auf, in dem das Leid in Übertragung und vor allem Gegenübertragung geschildert werden. Es ist nicht verwunderlich, ja vielleicht sogar förderlich oder notwendig, wenn bei den Kollegen, die das NS-Erbe in ihren Behandlungen thematisieren, die späte Entdeckung der eigenen Familiengeschichte als paralleler Prozeß abläuft. Ich habe an anderer Stelle schon betont, wie wenige Kollegen meines Alters die Thematik in ihrer Lehranalyse fundiert bearbeitet haben.

Meine These lautet: neben der mangelnden Schulung und Ermutigung und dem rein subjektiven Widerstand im Therapeuten gibt es auch einen Widerstand gegen einen angemessenen Zugang zu den politischen Katatrophen im Unbewußten, der ein direktes Resultat einer Überlastung der Analyse durch einige Regeln des Settings ist.

Ralf Zwiebel hat in seinem Buch "Der Schlaf des Analytikers" (1993) einiges von der Mühsal dargestellt, vor die uns Übertragungsformen mit kumulierter Negativität, verbunden mit rettenden Verschmelzungserwartungen stellen. Das NS-Thema wird dabei gar nicht erwähnt. Im Nachwort des verdienstvollen Buches "Psychoanalysen, die ihre Zeit brauchen" (Hrsg. von H. Henseler und P. Wegener, Opladen 1993), das nicht im geringsten dem NS-Thema gewidmet ist, heißt es im Schlußwort über die Dauer von Analysen weit über die Kassenleistung hinaus:

"...zwar erreichten die Behandlungen bis zur 300. Stunde gewisse, zum Teil erfreuliche Besserungen der Symptomatik und des Befinden der Patienten, gleichzeitig verlagerte sich die pathogene Problematik im Sinne der Übertragungsneurose in die Beziehung zwischen Patient und Analytiker. Daß dies erst jetzt geschah, mag unterschiedliche Gründe haben: die Art der ....Störung, das Angstpotential, die Rigidität oder die Kompliziertheit der Abwehr, u. ä. Möglicherweise brauchen Patienten mit einer Störung der Beziehung zum Primärobjekt Zeit, um soviel Vertrauen zu finden, daß sie bereit und in der Lage sind, die entsprechenden Konflikte nicht mehr nur im äußeren Leben, sondern auch und gerade in der Beziehung zum Analytiker zuzulassen." (S. 235)

Nun hatte Anita Eckstaedt und andere analytische Kollegen gezeigt, daß Nazi-Herrschaft und Krieg, vor allem durch die Abfolge von Begeisterung, Rassenwahn, Sorge, Angst und Panik, auch angesichts fehlender Väter, die Primärbeziehung massiv beeinträchtigt haben, zum Teil in schwer erkennbarer Weise. Was Zwiebel beschreibt, potenziert sich also unter Umständen bei Kindern von NS-verstrickten Eltern, weil die Übertragungsfragmente bedrohlicher und in ihrem Ursprung und ihrer psychischen Konsistenz schwerer zu erkennen und auszuhalten sind. Es kommt hinzu, daß durch den Holocaust und seine Vorbereitungshandlungen, aber auch auf Seiten der Deutschen, die aus dem Siegestaumel in Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung stürzten, häufig totale Brüche in der äußeren wie der inneren Lebenskontinuität eine Rolle spielen. Man kann von einer massenhaft induzierten Borderline-Struktur als Sozialcharakter bei Millionen von Eltern unserer heutigen Patienten sprechen, aber auch bei der Kriegs- und Nachkriegskinder selbst.

Die traumatisierenden Formen der Weitergabe dieser Belastungen hat die Familientherapie in den siebziger Jahren und achziger Jahren hervorragend dargestellt, wiederum, ohne den Bezug zur NS-Zeit anfangs auch nur zu erwähnen. Erschwerend kommt hinzu, daß die psychische Dynamik bei der inneren Deponierung und Tradierung der seelischen Erbschaft wahrscheinlich nicht umfassend mit den klassischen Abwehrmechanismen zu begreifen ist.

Verdrängung gilt als gegen Trieb und Triebangst gerichtet. Verleugnung dient dem Schutz des Ichs von vorwiegend äußeren individuellen Gefahren. Abspaltung dient der Isolierung und Entschärfung von überwältigenden inneren Gefahren, für das individuelle Ich keine Verarbeitungsmöglichkeiten hat. Die destruktiven Schrecken von NS-Zeit und Krieg sind aber zum großen Teil durch überindividuelle Abwehrformen der Bearbeitung entzogen worden. Die Mitscherlichs haben sie zusammengefaßt unter dem Ausdruck der Entwirklichung. Es gehören dazu kollektive Muster der inneren Abtrennung, des Besetzungesentzugs, der historischen Umdefinition von Erlebnissen, der völligen Abwendung des individuellen wie des kollektiven Ichs von ganzen inneren Epochen der Erinnerung. Deshalb spreche ich von den inneren Giftmülldeponien, für deren Zugang die Landkarten zum Teil verloren, zum Teil noch gar nicht erstellt worden sind. Der Zusammenschluß der Familien zum Überleben nach dem Krieg, oder schon während, und auf der Flucht, haben bei den Kindern zu Formen der Loyalität geführt, die zum Schutz der unbewältigten Deponien der Eltern führten.

In Goethes Faust wird die Sorge als ein zentrales Grundgefühl benannt. Nach meiner Einschätzung ist dieser Zustand und seine Folgen in den Kindern neben den "klassischen Affekten" um Angst und alle Formen der Wut herum, mit denen umzugehen wir lernen, nicht ausreichend erforscht und therapeutisch berücksichtigt. Aber wenn man bedenkt, in wievielen vaterlosen Familien in dem Jahrzehnt zwischen 1940 und 1955 die Sorge, neben der Angst, das tragende Grundgefühl war, dann wird manches von der oft schier unüberwindlichen Parentifizierung der Patienten meiner Generation eher verständlich. Mit Parentifizierung meine ich hier sowohl die praktische wie die seelische Überlebenshilfe, die die Kriegs- und Nachkriegskinder ohne viel Aufhebens zu leisten hatten, und die sie für die Mechanismen der Implantation des Unbewältigten in sie so verwundbar machten. Jürgen Müller-Hohagen hat in seinem jüngsten Buch "Geschichte in uns" (München 1994) noch einmal deutlich darauf hingewiesen und die These mit einer Fülle von Beispielen belegt.

Die Wucht der Anklage der 68-er- Generation gegen diesen von der Geschichte erzwungenen kollektiven parasitären Mißbrauch ist ohne die konvulsivische Kündigung dieses Schweigevertrages kaum zu verstehen. Es hätte damals auch keinerlei Hilfe gegeben, mit den geerbten Belastungen anders als durch beschuldigende Ausstoßung der Elternbilder umzugehen.

Damit komme ich auf den Beitrag der Psychoanalyse zur psychischen Bewältigung des NS-Erbes. Auch unsere Berufsvereinigungen waren verstrickt in das Ringen um Entlastung und Beschuldigung, in rituelle Kämpfe um Unschuld, Reinheit oder Verstrickung. Martin Beland hat in einem DPV-internen Vortrag gezeigt, wie sehr sich junge Analytiker kollektiv auf der richtigen Seite fühlen konnten, ohne ihre politische Familiengeschichte aufzuarbeiten, wenn sie sich zur Freud´schen Ausbildung entschlossen.

Noch viel drastischer drückten dies Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer aus in ihrem Aufsatz über "Psychoanalyse und Nationalsozialismus", (1982). Sie sprechen ebenfalls von der Ausblendung des NS-Themas aus den Lehranalysen und fahren fort:

"Man kann sogar annehmen, daß der Beruf des Analytikers als eine Art ´Deckidentität´ benutzt wird, wenn Schuld und Scham über die eigene Geschichte unbearbeitet bleiben, aber auch dazu, dem Konflikt mit den Anteilen der Elternimagines zu entgehen, die abgelehnt werden und in Zusammenhang mit dem Naziregime stehen." (S. 103) Das kann ich für mich selbst uneingeschränkt akzeptieren. Hierfür noch ein kleines persönliches Beispiel: Mitte der sechziger Jahre habe ich einige Monate der Frankfurter Ausschwitz-Prozeß als Journalist beobachtet. Ich war gleichzeitig in therapeutischer Analyse bei einem inzwischen verstorbenen, sozial engagierten Kollegen. Wir haben, trotz wildester Träume und anderer Konvulsionen meines Unbewußten, mit keinem Wort daran gedacht, die politische Geschichter meiner Familie anzuschauen; eben sowenig geschah dies später in der Lehranalyse. Die Gründe sind vielfältig, institutionell, kollektiv wie individuell. Aber es ist ein Stück Scham zurückgeblieben, und ein Entidealisierungsschock, als mir deutlich wurde, in welchem Ausmaß die Psychoanalyse behindert war, ihr aufklärerisches Ideal in den Dienst der individuellen oder familiären oder gesellschaftlichen Wahrheit über die historischen Katatrophen zu stellen.

Da in der DPV die Themenstellungen im wesentlichen umrissen waren durch den Forschungskanon der IPV, war es wohl auch kaum möglich, die deutschen Hausaufgaben mit neuen und eben vielleicht vorübergehend nur "nationalen" Fragestellungen und technischen Überlegungen zu erledigen. Das Schwergewicht der Arbeit lag aus vielen Gründen bei den mutigen Pionieren auf der Erforschung der Folgen des Holocaust. Die Identifikation mit den Opfern des Holocaust und die manchmal wohlfeile Desidentifikation mit den Deutschen und die Abwendung von der politisch-seelischen Leidensgeschichte des Täter- und Mitläufervolkes waren die Folge. Mit diesem Ausdruck "Leidensgeschichte des Tätervolkes" ist zugleich das unauflösbare Paradox bezeichnet, das einem Tabu gleichkam: Wer sich anders als denunzierend für die seelischen Abgründe bei den Deutschen im Gefolge von NS-Zeit und Krieg interessierte, war rasch politisch verdächtig.

Soviel zu den Hindernissen auf dem therapeutischen Zugang zu den Katastrophen, die uns, davon bin ich überzeugt, im Untergrund noch lange beschäftigen werden. Ich hoffe, daß wir Analytiker die sogenannte "zweite Chance" der Bewältigung zu ergreifen verstehen, auch wenn fast fünf Jahrzehnte des Schweigens vergangen sind.

Als letztes Motiv der Verzagtheit vor diesem Vortrag, die ich sicher mit manchen von Ihnen teile, nenne ich die Wirkung der täglichen Bilderflut über Krieg, ethnische Säuberungen, inhumanen Nationalismus, Rechtsradikalismus und Fremdenhaß, der in manchen Ländern an Völkermord und Ausrottungspolitik grenzt. In ihrer Folge gibt es heute 20 Millionen Flüchtlingen auf der Welt, davon die meisten ohne Hoffnung auf unsere Form der Wiedereingliederung nach dem Krieg. Wenn man sich mit den Nachwirkungen der NS-Zeit beschäftigt, ist es nicht nur das sichtbar gegenwärtige Elend, das einen ohnmächtig und empört zurückläßt, sondern die Gewißheit der generationsübergreifenden Langzeitwirkung des Schreckens. Man kann sie, wie Peters Heinl in seinem Buch über Kriegskinder ("Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg..." (1994) gezeigt hat, noch nach 50 Jahren in den Gesichtern erkennen, wenn man erst einmal aufmerksam geworden ist.

Der seelische Niederschlag der historischen Katatrophen fand in Formen statt, die mit den herkömmlichen Bildern innerer Repräsentanzen und dem vertrauten Umgang mit ihnen ebenfalls nicht ausreichend zu fassen sind. Anita Eckstaedt hat in ihrem Buch wiederholt darauf hingewiesen, wie die Verstörungen auf ihrem Weg durch die Generationen unkenntlich werden. Man könnte sagen, daß es die Gefährlichkeit der Wahrheit ist, die mit den entsprechenden Angstaffekten dafür sorgt, daß die Erkennbarkeit vor allem der parasitären Beziehungsaspekte und der destruktiven Implantate sich zunehmend verschleiert. Was Freud für die Entstellung der Triebwünsche geleistet hat, wäre für die Wirksamkeit dämonischer und terroristischer innerer Instanzen erst noch zu leisten. Das gilt auf viel allgemeinerer Ebene auch für die Wirkungsweise religiöser Introjekte, die sich oft mit den von den Elternbildern abgeleiteten Repräsentanzen nicht ausreichend erklären und vergleichen lassen. Ihre Reduktion auf projektive Zerrbilder der Elternfiguren ist irreführend. Sie verkennt die Eigenständigkeit, ja die Andersartigkeit religiöser oder politisch-ideologischer Introjekte, vor allem dann, wenn sie als dämonische oder terroristische Einheiten, vor deren Macht die Eltern selbst zittern und keinen Schutz bieten, aufgefaßt werden. Hier hat die bloße Ausweitung von Freuds triebökonomisch gedachten Familienmodell und den nur als Verzerrungen der Elternimagines gedachten religiösen Symbolen ohne Zweifel in eine gewisse Sackgasse geführt. Und als Freudianer ist es uns, aus Loyalität, in gewisser Weise noch im er verwehrt, Jungs Vorarbeit in der Erweiterung der Archetypen weiterzuführen. Nicht zuletzt seine politischen Irrungen haben diesen Weg noch weiter versperrt.

Für mich selbst war die Lektüre von Eva Sternheim-Peters Buch "Die Zeit der großen Täuschungen" (Bielefeld 1987) eine Quelle der Erkenntnis, in welchem Ausmaß NS-Introjekte prägend waren, die zum Teil von den Eltern vermittelt oder geteilt wurden, die aber weit über das personal Vermittelte im Elternhaus hinausreichten: als Rasse, Volk, Führer, Partei, Aufrag, Mission, aber auch als idealisierte Affekte wie Treue, Unterwerfung, Gehorsam, Verschmelzung und Ähnliches. Wenn die (politisch gewollte) Dämonisierung hinzukommt: SS, Gestapo, der Feind, der Russe, die Verräter, die Volksschädlinge usw., später der Krieg, die Front, die Bomberflotten, dann wachsen diese Instanzen weit über das hinaus, was wir als Introjekte in der Übertragung zu erkennen und zu handhaben gewohnt sind.

Was die therapeutische Technik im Umgang mit den dämonischen Instanzen und ihren Wirkungen schwierig macht, ist deren plötzliche und kollektive Verschüttung um und nach 1945, die einer geologischen Katastrophe gleichkommt. Sie reichte durch den Umsturz und den auferlegten Sprachwandel bis hin zur verbalen und bildlichen Unbenennbarkeit, zu einem Verlust an "Bezug" zu den dämonischen Gewalten. Mit dämonisch meine ich natürlich nicht eine enthistorisierende Kategorisierung, eine Abkehr von Schuld, Analyse, Ursächlichkeit und Erkennbarkeit, sondern ich spreche von der innerseelischen Wirkung und von den Größenverhältnissen, den anderen Dimensionen im Vergleich mit "menschlichen" Repräsentanzen. Das Dämonische wächst in dem Maß, als eben die Elternimagines vor diesen Gewalten nicht nur nicht schützen konnten, sondern ihrerseits als berauschtes oder terrorisiertes Spielmaterial erlebt wurden. Und dies, auch wenn nur wenige Jahre frühe Eltern und Großeltern noch fanatisch mit der Macht Identifizierte waren und dem Kind als partizipierend Mächtige erschienen.

Der Raum der Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle wird bei einer wirklichen Regression auf die Auswirkungen der dämonischen Instanzen dermaßen überstrapaziert und droht in ängstigender Konfusion unterzugehen, daß ich glaube, einige Grundregeln des analytischen Settings müssen infrage gestellt werden. Die inneren Heils- und Terrorfiguren in und über den Eltern oder Großeltern, oder auch ihre einstmals übermächtigen Abgötter, die sie, ohne Trauer und unter dem Eindruck der archaischen Strafe des Bombenkrieges, ohne viel Affekt fallen ließen, verharren in unterirdischen Deponien oder Silos, und die können im Unbewußten durchaus leck oder geborsten sein. Helen Epstein spricht in ihrem Buch "Die Kinder des Holocaust" (1987) vom "eisernen Kasten", in dem alles verschwand. Bei der Annäherung an sie schrillten Warnanlagen, oder die Kommunikation erstarrte in Schweigen. Das geschah weniger in Worten, als über unbewußte Signalsysteme mit Tabucharakter.

Bei der therapeutischen Annäherung an diese derealisierten Schreckensdeponien wird eine verwirrende mehrstufige Abwehr mobilisiert, die um so stärker wirkt, je mehr die drohenden Übertragungsfragmente den haltenden Aspekt der therapeutischen Allianz gefährden. Die Abwehr ist bei neiden Partner oft komplementär.

Bei Rosenkötter (1984) finde ich ein kleines Fallbeispiel, in dem auch von den borderline-artigen, politisch erzwungenen Spaltungen der Identität in der Zeitachse die Rede ist: "Herr P. (etwa Jahrgang 1929, T. M.) wollte lieber seine früheren Identitäten wie alte Masken abstreifen und vergessen." (S. 238) Und nun kommt, bei mehrfachem Hinweis auf die Konfusion und die Gegenübertragungsspannung mit mehreren Patienten, der Bruch der Behandlung, für den ich nicht den Analytiker kritisieren möchte. Es handelt sich wohlgemerkt um einen Patienten, der selbst noch Mitglied der Waffen-SS war, also ein Täter-Mitläufer der ersten Generation. Rosenkötter schreibt:

"Der selbstbeobachtende Über-Ich-Anteil wurde auf mich projiziert; ich wurde in der Übertragung zur Spruchkammer, der man sich möglichst günstig darstellen möchte, vor der man aber ständig auf der Hut sein muß, nicht das Falsche zusagen. In dieser Übertragungskonstellation stagnierte die Behandlung und wurde schließlich in beiderseitigem Einvernehmen beendet." (S. 239)

Ganz ähnlich heißt es bei Appy (1992 S. 34) über das Ende der bereits zitierten Behandlung, die nach extremen Spannungen versandete:

"Der analytische Dialog entleerte sich und verflachte zusehends zur Bedeutungslosigkeit. Nachdem die Krankenversicherung nach 300 Sitzungen die Bezahlung der Analysekosten einstellte, nahm sie alternative Finanzierungsangebote nicht mehr wahr und brach die Behandlung ab."

Eine Spruchkammer-Übertragung, wie Rosenkötter sie erwähnt, gehört noch nicht in den Bereich dessen, was ich dämonische oder terroristische Instanzen nenne, sie steht wohl am Übergang zu etwa überindividuell Drohendem, eine feindliche ideologische Instanz, die zwar nicht mehr lebensbedrohlich, aber doch existenzgefährdend war.

Übertragung ist nun die uns Analytikern geläufige Form der Externalisierung einer inneren Instanz. Ich zweifle zwar, ob sich das Introjekt Spruchkammer mit den "selbstobachtenden Über-Ich-Anteilen" gleichsetzen läßt. Denn die politischen und erst recht die dämonischen Instanzen sind auf eine andere Art und an einem anderen Ort internalisiert sind als das, was wir für gewöhnlich das Überich nennen. Sie bleiben nämlich mindestens halb-extern und partiell abhängig von ihrem äußeren Fortbestande, bevor sie ein einem kaum bekannten Ort im Unbewußten kollektiv "entsorgt" werden. Aber: ihre volle Externalisierung in der Übertragung legt das Arbeitsbündnis lahm.

Da wir aber mit dem szenischen Denken in der Psychoanalyse vertraut sind, bedeutet es für mich nur einen kleinen Schritt innerhalb unserer psychoanalytischer Möglichkeiten, die Externalisierung durch eine Inszenierung zu variieren. Ich würde also diesem Patienten vorschlagen, er möge mit Stühlen oder anderen Symbolen eine Spruchkammer darstellen und sich ihr stellen; ich würde ihn bei dieser Konfrontation körperlich haltend begleiten. Der Analytiker wird also zu einem Regisseur, er verläßt das Sturm-Zentrum der Übertragung, wird Hilfsich, Zeuge, Ermutiger. Er erscheint als neues Objekt, das sachkundigen wie empathische Beistand bietet, eine Art Anwalt, wenn auch ohne politische Parteinahme. Er ist nicht mehr selbst in das Tribunal und den Terror verwickelt.

Noch viel zentraler ist diese Variante, wenn die dämonischen Instanzen überlebensbedrohlich waren oder sind - für den Einzelnen oder die Familie oder eine verfolgte Gruppe - und erst recht, wenn, wie von mehreren Kollegen berichtet (z. B. von Simenauer, 1993), die Opfer- und die Täterübertragungen in konfusem Wechsel die Situation bedrohen.

Es geht mir also um die Einführung eines Parameters, der sowohl den Patienten wie den Analytiker von schwer oder unlösbaren Aufgaben befreien, die sie doch zusammen lösen sollen.

Dazu noch ein Beispiel aus der eigenen Praxis : es handelt sich um eine Kollegin, die, kurz vor der Machtergreifung geboren, in intensiver Verstrickung in bedrohliche Situationen zwischen Angehörigen als Mitläufern, latenten Gegnern und umgekommenen jüdischen Opfern der Nazis aufwuchs. In ihrer langjähigen Lehranalyse war nichts davon bearbeitet worden, sondern sie hatte eine aufgezwungene Frömmigkeit beim Überleben des Krieges in einem frommen Internat direkt und dankbar auf die psychoanalytische Institution übertragen. Sie ging mit einer der Goebbelstöchter in die Klasse und war neidvoll geblendet vom gesellschaftlichen Glanz und der Macht der Nazis. Von den konflikthaften Größenphantasien: daß sie mit einem Verrat Teile ihrer Familie, die zuhause ungeniert ihre Gegnerschaft äußerten, ans Messer liefern konnte, will ich hier nicht sprechen; sondern vom therapeutischen Umgang mit dem dämonischen Introjekt Goebbels und seiner magischen Macht (Person und Nazimacht sind partiell eins und sollten doch in gewisser Weise unterschieden werden). Der Glanz der Tochter, die einige Male ihre Nähe gesucht hatte, und ihre Ermordung durch den Vater bei Kriegsende waren eng verbunden, ebenso dann Liebe, Neid, Bewunderung und Tod. Die lebensrettenden Lehrer des späteren Internats in den letzten beiden Kriegsjahren waren selbst von NS-Verfolgung bedroht. Trotzdem wurden die alliierten Bombergeschwader noch zum absoluten Feind, dem eines Tages die Stadt und die Schule zum Opfer fiel.

Zu Beginn war ich in der Übertragung zunächst wieder Repräsentant einer Kirche oder Ideologie, die Gehorsam und Unterwerfung forderte, also eine Preisgabe des Selbst. Sollte ich warten, bis all die Schrecken, die widersprüchlichen Dämonen, die zu inneren Spaltungen geführt hatten, in der Übertragung wieder auftauchten und sich verdichteten? Ich sah keine Chance und wollte das Unmögliche auch nicht versuchen. Denn das Bild ihres früheren Analytikers war, trotz mancher Dankbarkeit, verschwunden hinter Enttäuschung und Wut: über die eklatanten Lücken in der Durcharbeitung, über das Mitagieren bei der religiösen Idealisierung der Analyse, über einen gewissen Mißbrauch in einer neuen Parentifizierung der Patientin. Die Substanz eines möglichen Vertrauensvorschusses bei Beginn der erneuten Arbeit mit mir war schon aufgebraucht. Die ersten Monate dienten vor allem der aktiven Reinszenierung der Beziehung zum Analytiker und zum Institut als einer quasidämonischen, unangreifbaren, aber als korrupt wahrgenommenen Macht im Rollenspiel. Dann kam die Inszenierung der Beziehung zu den verfolgten klösterlichen Rettern. In ihr waren Dankbarkeit, Loyalität, Wut und Enttäuschung darüber gemischt, daß Zuneigung nur um den Preis einer ideologischen Gleichschaltung möglich war, verbunden mit der Erwartung einer eigenen religiösen Karriere. Erst dann kamen Goebbels und die Nazis an die Reihe. Die Patientin war immer bedroht von totalen Übertragungseinbrüchen, die mit verzweifelten Abbruchsphantasien verbunden waren. Spät tat sich der Zugang zu dem Knäuel der Familienübertragungen auf, das, verwickelt mit ideologischen Fronten, ebenfalls mit Mord-, Opferungs- und Untergangsphantasien getränkt war. Man könnte von historisch geschichteten Angstebenen sprechen. Die familialen Repräsentanzen kamen zuletzt zum Vorschein, die dämonischen hatten sich davor geschoben.

Dadurch, daß ich im wesentlichen Regisseur blieb und sie oft körperlich hielt, wenn die Konfrontationen mit den Dämonen unerträglich oder vernichtend zu werden drohten, ließ sich die Arbeitsbeziehung halten und drohende Übertragungsfragmente ins andere Setting der Inszenierung überleiten. Die Affekte blieben so in der archaischen Stärke erhalten, der Analytiker und das andere Setting bildeten einen stabileren und weiteren Container für die noch immer lebensbedrolichen Rückstände der historischen Katastrophen. Allerdings wird mit der Inszenierung die permanente "Produktion" von Übertragung nicht gestoppt, sie drängt immer wieder massiv in die Therapie, kann in der Regel aber wieder szenisch gestaltet werden. Jeder Therapeut muß hier seinen eigenen Weg in der Fokussierung finden.

Nach der Lektüre dieses Textes wies die Patientin, bei voller Zustimmung zur Bedeutung der Inszenierung, auf drei besonders wichtige Grundmuster von Übertragung parallel zum Prozeß von Inszenierung hin:

  1. Eine starke, wenn auch immer wieder bedrohbare Idealisierung des Analytikers als Regisseur zu einer Figur, der eine Position als Kenner der Geschichte und der dämonischen Prozesse zugeschrieben wird. Sie gebrauchte sogar einmal das Bild des Riesen Atlas, der eine zerstörte Welt zu tragen vermag..
  2. Eine Art Zwillingsübertragung mit dem Inhalt: wir beide forschen gemeinsam und stellen uns mutig der NS-Geschichte, und
  3. ein drohender Absturz in das Undenkbare, wenn der Analytiker mit dem Teuflischen direkt kontaminiert wird oder sich in einen Dämon in historischer Gestalt verwandelt. Trotzdem kommt es im Analytiker nicht zu den qualvollen Verstrickungen, weil er, manchmal mit einer gewissen Autorität, auf die Regeln die Inszenierung verweisen kann, die beide wieder aus der drohenden Sackgasse befreit. Idealtypisch könnte man tatsächlich auch von der Kraft der Alchimie sprechen, wenn der Analytiker mit den Kräften des Schreckens umgeht, ohne von ihnen selbst vergiftet oder verschlungen zu werden.

Ich komme zum Schluß: auf die Psychoanalyse kommen, auch wenn es kaum noch Patienten gibt, die im Erwachsenenalter direkt, aktiv oder passiv oder beides, an den Schrecken von NS-Zeit und Krieg beteiligt waren, noch große Aufgaben bei der Bewältigung der NS-Katastrophe zu. Ich meine sogar, die Psychoanalyse hätte etwas nachzuholen oder wiedergutzumachen. Nach langen Jahren der "Latenz" drängt das NS-Thema in vielen Analysen an die Oberfläche. Aber ich halte es auch für notwendig, es aktiv anzusprechen, wo es nur indirekte Zeichen für einen infizierten seelischen Untergrund gibt. Er ist größer, als wir bisher angenommen haben. Die Wucht des Themas erfordert Modifikationen unserer Technik. Mehrere Autoren haben längst darauf hingewiesen, daß abwartende Neutralität, auf die wir so stolz waren, rasch zu einer Kollusion des Verschweigens führen kann.

Ich wollte ­Sie auf eine solche Modifikation hinweisen, die die Chancen eröffnet, der Kollusion oder der Abwehr, übermäßigem Leid und Konfusion in der Übertragung und Gegenübertragung zu entgehen und trotzdem die Klarheit des szenischen Denkens mit der Sicherung eines geeigneten analytischen Containers zu verbinden. Denn der Vorwurf, daß der Analytiker als Regisseur den Boden der Analyse verläßt, stimmt nicht. Er erweitert nur sein Instrumentarium, und viele Patienten können so sonst nicht betretbaren Boden erkunden.

Nach einem qualvoll verbrüteten Wochenende im August bekam ich wieder Boden unter die Füße und konnte meine Gedanken aufschreiben. Inzwischen glaube ich, daß wir von den Qualen der Opfer, aber auch den verborgenen Leiden der Mitläufer- und sogar vieler Täterfamilien nichts verstehen, wenn wir uns nicht immer wieder diesen inneren Attacken der Sinnlosigkeit aussetzen. Die Kraft zum Neubeginn kommt meist von den Patienten, die unsere Verzagtheit oft mit einem neuen Schritt beantworten. Voraussetzung aber ist, daß wir nicht zu oft im Strudel von Übertragung und Gegenübertragung verschwinden. Eine Form, dem Abgrund zu entgehen, ist für mich die Ergänzung, manchmal die Ersetzung der Übertragungsanalyse durch das Durcharbeiten in der Inszenierung geworden.

Literaturverzeichnis

Appy, Gottfried, Was bedeutet Auschwitz heute? In: Moses, Rafael, und Eickhoff, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.), 1992, S.21-46

Beland, Hermann, Wie verstehen sie sich selbst? Zur Geschichte der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit in der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. In: DPV-Information Nr. 2, Okt. 1987, S. 9-14

Eckstaedt, Anita, Nationalsozialismus in der ´zweiten Generation´. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt 1989

Epstein, Helen, Die Kinder des Holocaust. Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Überlebenden. München 1987

Heinl, Peter, `Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg...´

Seelische Wunden aus der Kriegskindheit. München 1994

Moses, Rafael, und Eickhoff, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.), Die Bedeutung des Holocaust für nicht direkt Betroffene. Stuttgart- Bae Cannstatt 1992

Müller-Hohagen, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Die seelischen Auswirkungen der Nazizeit. München 1988

ders. Geschichte in uns. München 1994

Rosenkötter, Lutz, "Schatten der Zeitgeschichte auf psychoanalytischen Behandlungen", in: Psychoanalyse und Nationoal-

sozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas.

Hrsg. von Hans-Martin Lohmann, Frankfurt 1984, zitiert nach 1994, S. 236-249

Simenauer, Erich, Wanderungen zwischen den Kontinenten. Bd. 2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993

Sternheim-Peters, Eva, Die Zeit der großen Täuschungen. Mädchenleben im Faschismus. Bielefeld 1987

Die Wiederkehr des Verdrängten. Psychotherapie und NS-Zeit

Erlebnisse, Erinnerungen, Traumata können jahrzehntelang ruhen, abgelagert in unzugänglichen Deponien. Auf ihre Existenz könnte man allenfalls schliessen aus Träumen und aus dem oft erschöpfenden Kraftaufwand, sie unbewusst, verdrängt, entwirklicht zu halten. So ist es mit der überwiegenden Summe politisch induzierter Traumata aus NS-Zeit, Holocaust und Krieg gegangen, vor allem dann, wenn die Leiden, die Verfolgung und Angst bei den Opfern wie die Schrecken, die die Täter verbreitet haben, in ihrer Wirkung an die zweite Generation "abgetreten" oder ihr aufgezwungen wurden. Fünf Jahrzehnte nach Kriegsende wird vieles überhaupt erst zugänglich, auch für Menschen, ja für Psychotherapeuten, die bereits durch lange Therapien und Lehranalysen gegangen sind.

I. Das vierfache Vaterbild einer nach dem Krieg geborenen Tochter

In einer Fortbildungsgruppe für Kollegen zum Thema "Spätfolgen von NS-Zeit, Holocaust und Krieg" meldete sich eine Psychotherapeutin, geboren 1947, zu einer sogenannten Familienaufstellung. Ziel einer solchen Inszenierung ist es, unausgesprochene, verheimlichte oder auch unbewußte Gefühle zu den Eltern oder Großeltern oder anderen wichtigen Personen von Kindheit und Jugend zu klären und auszusprechen. Diese Personen werden entweder auf leeren Stühlen symbolisiert oder in einer Gruppe durch andere Teilnehmer dargestellt.

Nach einem kurzen Bericht über die äußeren Daten der Familie entschloß ich mich, die Rolle des Vaters vierfach besetzen zu lassen, aus folgender Überlegung heraus: Als ein einzelner Kollege noch in der Rolle des (nur zuhörenden) Vaters saß, wurde deutlich, daß die Kollegin in ganz verschiedenen Tonlagen zu ihm sprach. Dominant zunächst war zunächst die Anklage: "Du hast zweimal moralisch versagt in deinem Leben, erstens indem du keinen Widerstand geleistet hast im Dritten Reich, sondern freiwillig in den Krieg gezogen bist; und zweitens, daß du später nie wirklich umgedacht und bereut hast. Und drittens vielleicht, aber das hängt damit zusammen, daß die ganze NS-Geschichte von fast totalem Schweigen umhüllt blieb: daß du nie über dein früheres Leben, deine Ziele und deine gescheiterten Hoffnungen, gesprochen hast. Ich konnte immer nur ahnen, daß du, oder ihr Eltern, so ganz andere Lebensentwürfe hattet als nach dem Krieg."

Dazwischen traten aber, nach einer Pause, Mitleid mit dem gebrochen zurückgekehrten Vater auf, Dankbarkeit für den zugewandten Vater der Kleinkindzeit, und schließlich unklare Gefühle gegenüber einem unbekannten Vater, der gesund und stolz in Uniform in den Krieg gezogen war, und dessen Foto sie einige Male gesehen hatte.

Mein Ziel bei der vierfachen Besetzung der Vaterrolle war es, sowohl didaktisch wie auch therapeutisch im Sinne der Kollegin einen Überblick über die Beziehungsfragmente zum Vater zu gewinnen und, soweit es in einer Sitzung möglich war, einen Schritt in Richtung Aufarbeitung einzuleiten. Denn es war deutlich, daß in ihrer Lehrtherapie das NS-Thema zum großen Teil ausgeklammert blieb oder aber in einer gewissen Verwirrung steckengeblieben war. Die Komplexität und widersprüchliche Vielschichtigkeit der Vaterbeziehung war im Dunkeln gelassen wurden.

Die Dreijahresphasen in der psychosozialen Wirklichkeit in der NS-Zeit

Für einen kurzen Exkurs verlasse ich die Inszenierung mit der Kollegin und wende mich kollektiven Gesetzmäßigkeiten in der Einwirkung der NS-Politik auf die Familienatmosphäre zu.

Sehr vereinfacht gesprochen bedeuten in NS-Zeit und Krieg für die meisten nicht-verfolgten und ns-gläubigen Deutschen jeweils drei Jahre bereits einen völligen Wandel der äußeren, zum Teil auch der inneren Einflüsse des Regimes auf die Menschen, und damit indirekt auch auf die Kinder. Für die Gegner und die Verfolgten gilt dies in viel schlimmerer Weise ganz analog.

Dafür einige Beispiele in Stichworten aus der Sicht der nichtjüdischen Mehrheit:

  1. Die Phase von der Machtergreifung 1933 bis zur Olympiade 1936: Wiederkehr von sozialer und ökonomischer Hoffnung (im Tausch gegen Anpassung, Begeisterung oder Opportunismus), Gewöhnung an Diktatur, wachsende Gleichschaltung, Zerschlagung allen institutionellen Widerstandes, heimliche Aufrüstung bei gleichzeitiger Proklamation der Friedlichkeit, beginnende Größenphantasien, Terror noch eher im Hintergrund nach anfänglichen Verhaftungswellen; erste Konzentrationslager und dem sogenannte Röhmputsch (der Staat darf in "Notwehr" im groß0en Stil morden); Beginn der Judenverfolgung, usw.
  2. 1936-39: Unerwartete Stabilität, zunehmendes Sich-Einlassen auch anfangs skeptischer Menschen; neue Lebensentwürfe, ökonomische Konsolidierung, Aufrüstung, allgemeine Wehrpflicht, Hitler-Jugend und BDM, der Anschluß Österreichs, endgültiges Eindringen der NS-Ideologie wie von NS-Personal in Schule, Wissenschaft, Mobilisierung und Politisierung der Bevölkerung. Denken in Herrenrasse, Expansion, aggresssiver Nationalismus; Militarisierung des Weltbildes, wachsende Gleichschaltung, rauschende Inszenierung des Nationalsozialismus und Triumphalismus, etwa bei den Reichsparteitagen.
  3. 1939- Herbst 1942: Siegreiche Kriege, Begeisterungsrausch, Ausgliederung, Verfolgung, Deportation und Ermordung der Juden, weltpolitische Dimensionen der Politik, Führerkult, Eroberungsgefühle, geographische Erweiterung des "Lebensraums" mit Lebensentwürfen für den Ostraum.
  4. 1942-45 Wachsende Angst, Verstärkung der sozialen und politischen Mobilisierung, Kriegswirtschaft, Knappheit, Angst um Soldaten, beginnende Angst vor dem Ende, erhöhter Terror gegen Wehrkraftzersetzung und Defaitismus, graduelle heimliche Absetzung vom Regime bzw. Fanatisierung des Führerglaubens, Bombenkrieg, zurückweichende Fronten, Durchhalteterror.
  5. 1945-1948 Kampf ums Überleben, Flucht, Flüchtlingsdasein, Not, Hamstern, beginnendes Aufräumen, Besatzung, Entnazifizierung, vaterlose Familien, Ungewißheit, Gebrochenheit und starker innerer Trotz in vielen Familien gegen den öffentlichen Diskurs von der universellen "braunen Barbarei".
  6. 1948 -51 noch immer: Überleben, Rumpffamilien, Ungewißheit, Parentifizierung, Armut, Rückkehr der Nazis in viele Ämter, kalter Krieg, Lockerung der Besatzungsmacht, Leben in Trümmern und Versuch des Vergessens und des Neubeginns.

Die Brüche in den Phasen spalten auch die Seelen

Alle diese Phasen bringen für die Familien und Kinder eine oft ganz unterschiedliche Atmosphäre, Bilder von Autoritäten, Ängste, Identifikationsmöglichkeiten. Es gibt also eine zeitlich horizontale Spaltung auch der seelischen Struktur, soweit sie von diesen Dreijahresphasen mitgeprägt wird: Seelische Veränderungen der Eltern durch Aufstieg, Teilhabe an der Macht, Ortswechsel, Berufswechsel, Politisierung, Angst, Wechsel in der Zusammensetzung der Familien, Umzüge, Krieg und Not. Nach 1945 kommt es zu einem raschen Absinken der NS- und Kriegserinnerungen, vor allem der Fragen von Scham und Schuld, in unterirdische Deponien. Ebenso zu den Schweigepakten, der fehlenden Auseinandersetzung, und dem Auseinanderklaffen von öffentlichem und privaten Sprechen.

Vertikale Spaltungen kommen zustande durch die Gleichzeitigkeit von unvereinbaren psychischen Situationen und von Brüchen im realen oder seelischen Zusammenleben.

Zurück zur Inszenierung mit dem gespaltenen Vaterbild:

Die Kollegin nahm, nachdem sie für die vier unterschiedlichen Vaterrollen Männer ausgewählt hatte, zu jedem Fragment unterschiedliche gestisch-körperliche und sprachliche Beziehungsformen auf. Dabei wurden auch die Einwirkungen der Fragmente untereinander deutlich, sobald diese in Ansätzen untereinander in Beziehung traten. Als sie versuchte, noch einmal die moralische Anklage gegen den in ihren Augen ethisch versagenden Vater zu formulieren, durchaus mit dem Vokabular der jungen 68er-Studentin, spürte sie, wie das Mitleid mit dem Vater, der gebrochen und mit einer Kopfverletzung aus Russland heimgekehrt war, es ihr schwer machte, die Wut der Anklage überhaupt noch aufrechtzuerhalten. Sie drückte ihm ihr Mitleid mit dem Soldatenschicksal im verlorenen Krieg aus: er war nach kurzer Gefangenschaft mit Erfrierungen und einer Gehirnverletzung, die ihn lebenslang sehr stimmungslabil und auch jähzornig machte, heimgekehrt. Dominantes Vaterbild ist also der depressive oder jähzornige Invalide.

An diesem Punkt drängte sie darauf, die Rolle der Mutter zu besetzen. Auch hier hätte sich angeboten, zur Klärung der Beziehungsframente mehrere Personen zu wählen, doch die Auseinandersetzung mit ihr stand nicht im Vordergrund. Sie konnte der Mutter aber sagen, daß sie zum ersten Mal wahrnehme, was die Mutter aufzufangen und mitzutragen hatte am Elend des Vaters. Denn der schleppte die zerbrochenen Ideale und die Trauer um falsche Lebensentwürfe mit sich in Form einer oft weinerlichen getönten Depression.

Aber dann wurde, auf dem Umweg über die Mutter, der in einem Moment des Zorns und der Resignation einmal entfahren war: "Oh, hätte dich der Krieg doch behalten!" der soldatische Heldenvater sichtbar, den die Tochter nie gekannt hatte. Plötzlich sah sie die Mutter in einer Verbindung zu ihm, von der sie nichts wusste, in einer für immer vergangenen Zeit. Und da erinnerte sie sich an seltene knappe Hinweise der Mutter, wie sie den Vater, nicht nur in Uniform, sondern zivil als blonden, zuversichtlichen, selbstbewussten, aber auch Hitler verehrenden Mann und jungen Ingenieur geliebt hatte. Der soldatische Held war nur ein zusätzlich mit Stolz und anfangs nur leichtem Schaudern wahrgenommenes Fragment des blond und arisch wirkenden Verlobten und jungen Ehemannes, sozusagen der Phänotyp des propagierten arischen Deutschen. So lebte er als Erinnerungs- und Sehnsuchtsbild in der Mutter fort.

Zu diesem Vaterbild v o r der Zeit ihrer Geburt sprach nun die Tochter ebenfalls, und sie spürte die von ihr übernommene Trauer der Mutter und auch ihren Neid auf die Mutter, die mit einem ganz anderen Mann, als sie ihn kannte, ein paar Jahre zusammengelebt hatte. Nun verstand sie auch, in welchem Umfang der gebrochen Heimgekehrte eine Enttäuschung, ja ein lebenslänglicher psychischer und auch körperlicher Betreuungsfall war, an den sie sich nicht mehr anlehnen konnte.

Außerdem gab es für die Tochter noch den Kindervater, der in den nicht zähzornigen und depressiven Zeiten ein idealer Gespiele und väterlicher Helfer war. Zumindest gab es ausreichende Erinnerungsfragmente für ein solches Bild. Und sie konnte ihm angesichts der menschlichen Zerstörung, die der Nachkriegsvater mit sich trug, auch danken für die Kraft zur Nachkriegs-Idylle, für Phasen eines familiären Neuanfangs, die freilich immer bedroht blieben. Und diese ständige Bedrohung der väterlichen körperlichen und seelischen Gesundheit verlangten auch der Tochter Aspekte von Parentifizierung ab: ständig sein Wohlbefinden zu bedenken, die Mutter zu stützen, nicht aufmüpfig, expansiv, laut und autonom zu sein. Von Parentifizierung spricht man dann, wenn Kinder zu früh den Eltern gegenüber selbst elterliche Rollen übernehmen müssen.

Die russische Partisanen als zweite Mutterfigur

Bei einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf den Soldatenvater tauchte nun aus einer fast vergessenen seelischen Deponie ein Bild auf, das der Vater immer wieder halb verklärt, halb entsetzt oder erschüttert erzählend umkreist hatte. Es ging um eine der wenigen Schlüsselmomente des Krieges in Rußland, die er inmitten des Schweigens preisgab. Er war nämlich Augenzeuge, wie eine junge russische Partisanin, in ihrer Haltung ungebrochen trotzig und verächtlich, gehenkt wurde. Die emotional hoch besetzte Episode führte im unbewußten Erleben der Kollegin dazu, daß sich die Figur des Soldatenvaters noch einmal teilte in verschiedene Fragmente, die wir nicht mehr getrennt aufgestellt haben. Er war einerseits der auf Moskau vorrückende Siegesvater, dessen Fotos sie gesehen hatte, und auf dem noch kein krimineller oder kriegsverbrecherischer Verdacht lag. Und er war plötzlich der Vater, der hinter der Front vermutlich mit Partisanenbekämpfung zu tun hatte. Aber sein aktiver Anteil daran blieb im Dunkeln. Und selbst dieser Anteil des Augenzeugen der Hinrichtung teilte sich noch einmal. Der gehorsame und wohl auch indoktrinierte Soldat sagte kühl: "Das mußte so sein." Aber daneben gab es einen spürbar erschütterten Mann, den diese Bilder immer wieder heimsuchten, und in dessen entsetzten und glänzenden Augen die ihrem Tod entgegensehende Partisanin überlebte.

Die Kollegin schien auf einmal auf eine fast tragische Weise vitalisiert, als sie den Vater auf diese Frau ansprach. Ich spürte, daß sie eine noch unbekannte Beziehung zu der Partisanin hatte: Und als ich der entferntesten Ecke des Raumes, als Symbol der russischen Weite, einen dunklen Tisch mit einem Blumenstrauß als Symbol der Frau und gleichzeitig ihres Grabes aufstellte, nahm die Kollegin eine Beziehung zu der Partisanin auf, die im Unbewußten längst bestand. Aber sie mußte verdrängt, verleugnet, entwirklicht werden, schon aus Loyalität zur Mutter. Denn die Mutter war ebenfalls eine gebrochene, unzufriedene Frau, und in jenem Grab ruhte eine ungebrochene, tapfere Frau, zu der der Vater eine fast mythische Beziehung zu haben schien.

Mir fiel ein, daß in mittelalterlichen Hinrichtungsszenen ein Verurteilter vom Galgen herunter befreit werden konnte, wenn eine Jungfrau bereit war, ihn zu heiraten. Egal ob Realität oder Sage, eine solche Szene schien mir psychisch wirksam zu sein auch unter jenem Galgen in Rußland: ein Soldat mit scheinbar kaltem Herzen, und ein junger Mann, dem das Bild der todgeweihten Frau ins Herz drang, sodaß er es mit nachhause trug und in die Seele seiner Tochter einpflanzte. Mir schien, der Vater habe sich mit der Partisanin seelisch verbunden, ja auf fast magische Weise vermählt, und der Kollegin leuchtete es, was die seelische Beziehung angeht, unmittelbar ein.

"Du hast zwei Mütter", sagte ich zu ihr, "und die russische darf als Kraftquelle in dir leben." "Ich darf also tapfer sein und meine Meinung vertreten und aus deinem Mut Stärke beziehen, auch wenn gelegentlich Todesangst aufkommen will", sagte sie zur toten Partisanin, und dann wandte sie sich an ihre Mutter und sagte: "Ich will dich nicht entwerten, aber ich habe noch eine andere weibliche Gestalt in mir, mit der ich mich identifizieren darf." Das Wort Partisanin gab auf einmal manchen Lebenssituationen, in denen sie sich, wenn auch manchmal mit großer, ihr unverständlicher Angst, in sozialen Gefahrensituationen behauptet hatte, einen ganz neuen Sinn, ihr selbst aber auch neue Lebenszuversicht.

Und sie wußte nun, daß sie getrennte und einander auch widersprechende Vaterbilder in sich trug, die sich nur als ein seelisches Mobile, nicht als einheitliches Bild fassen ließen.

Ein Erdenwurm im Glanz der Erwählung. Brief an meinen Feind

Augustinus

"Lieber Augustinus, zuerst stieß ich, deiner noch gar nicht ansichtig, auf die niederdrückende Lebensfeindlichkeit des Familienhintergrunds von Patienten, denen die Freude am Leben mit dem Prinzip Sünde ausgetrieben worden war. Schuldgefühle von erstaunlicher Zähigkeit verwandelten kleine Fortschritte in der Therapie nicht in hoffnungsvolle kleine Bewegungen auf eine Heilung hin, sondern wurden zu Wendepunkten zurück zum Schlimmeren, zu vertieftem Leiden. Ganz nach Lehrbuch schienen die Patienten nicht abzuhalten von Selbstbestrafung und quälenden Selbstzweifeln. Als Therapeut kommt man sich klein vor neben solchen Gewalten der Selbstbehinderung, nicht nur, weil mächtige Elternfiguren, Wächtern gleich, neben ihren partiell unmündig gebliebenen erwachsenen Kindern stehen, sondern weil noch ein ungreifbar Höherer, eine göttliche Instanz, ihr lebensverstümmelndes Recht einfordert.

Und du, Augustinus, fromm gewordener Leidensbruder im Zeichen der Depression, stehst zwischen den Eltern und Gott, als machtvoller Prophet des Schuldgefühls und der alleinigen Erlösung von seiner grimmigen Bürde: in Gott, ohne den alles hoffnungslos und vernichtend wäre.

Auf der Spur der Schuldgefühle und der Lebensverneinung von Patienten begann ich dich zu lesen, sozusagen als einen wortmächtigen Urquell der Verschmähung aller Freude, sie sei denn Freude in und an Gott. Daß es eine riesige Gottesneurose ist, die dich trieb, ist offensichtlich, es sei den, man folge dir blind und ergriffen in dem ungeheuren und wortgewaltigen Schwall des Gotteslobes, in dem sich bei dir alle irdische Not ertränken läßt.

Doch zuerst zu deinen eigenen Worten, du Held der Selbstzichtigung, der kein gutes Haar mehr an sich und seiner Jugend und jungen Erwachsenheit findet. Dadurch warst du so verführerisch für Jahrhunderte, fast Jahrtausende, weil du dein mit enormem Mut erforschtes Leben als Wandlung und Bekehrung vom Falschen, Sündigen, Erbärmlichen zum Richtigen hinstellen kannst. Du bist literarisch das prominenteste Exempel einer Hinwendung vom Heidentum zu Gott, die du als stetige Führung rühmst. Der Preis aber war die Schmähung alles Natürlichen, Lebensbejahenden, wenngleich vielleicht manchmmal Irrenden in deinem Leben. Durch deinen Mut zur Introspektion bis du mir ein Freund, durch den Kampf um die Aufrichtigkeit ein Bruder, der weit über das hinausstrebte, was an autobiographischer Genauigkeit bis dahin möglich gewesen war. Doch es ist eine Autobiographie der Schmähung, und gerade durch das Ausmaß deiner Schmähung der eigenen Person wirst du verdächtig. Ich nähere mich dir mit einem tiefen Mißtrauen, und es verstärkte sich mit jeder Seite, die ich las. Wie soll ich mich dabei einordnen? Ich sehe die Millionen von Gläubigen, die sich an deinen Selbstbezichtigungen wie an deiner hemmungslosen Gottesschwärmerei erbaut oder berauscht haben. Da ich mich von Gott losgesagt habe, ist es mir leichter, das Neurotische an deinem riesigen Schuldgefühl wie an deiner Verschmelzungssehnsucht mit Gott zu deuten. Ich kehre meinen Zorn gegen einen Giganten, der mich nicht mehr schreckt und dennoch hassen läßt. Du bist einer der großen Verführer der Christenheit, nicht zum gottgefällig-normalen Leben, sondern zur verquälten Gottsuche und Jenseits-Sehnsucht, und du hast für Unzählige mit zur Lebenszerstörung beigetragen, weil du ihnen das Lebens als Sündenpfuhl und Schlammbad der Versuchung geschildert hast. Es gibt in deinen "Bekenntnissen" keine Nachsicht, keine Ermunterung zum rechten Leben, sondern nur Sünde und Abkehr, Verdammung und Verklärung deiner Errettung.

"Wer macht der Sünde meiner Kindheit mich eingedenk? Ist vor Dir doch keiner rein von Sünde, auch das Kind nicht, das nur einen Tag lang auf der Welt ist." Das liegt nahe bei der Erbsünde und erbringt gleich zu Anfang der "Bekenntnisse" jenes Gefühl der Unausweichlichkeit des Verderbens, auf dem dein Gebäude aufbaut. Warum also hat Gott die Menschen zum Schuldig-Werden geschaffen? "Höre, Gott! Wehe über die Sünden der Menschen! - Und das sagt ein Mensch, und Du erbarmst Dich seiner, denn ihn hast Du erschaffen und hast nicht erschaffen die Sünde in ihm." Diese Theologie ist nun in der Tat praktisch für Gott, denn er ist Ursache alles Guten, für das Böse sind allein die Menschen verantwortlich. Ein ähnliches Denkmodell wird dich auch hindern, gegen deine Eltern nur ein Wort des Vorwurfs zu erheben, außer dem, daß sie bodenlos ergeizig mit dir waren und dadurch lange zu nachsichtig mit deinem "irdischen" Treiben als Schüler und Student und fertiger Rhetor.

Du wirfst dir vor, als Säugling, wie man dir sagte, gierig geplärrt zu haben; daß du mit Geheul nach Dingen verlangt hast; daß du gar nach den verweigernden Erwachsenen geschlagen hast! An das Leben im Mutterleib und als Säugling erinnerst du dich begreiflicherweise nicht, aber fest steht, daß die Sündhaftigkeit weit hinter die Geburt zurück reicht: "Wenn aber `in Bosheit ich empfangen bin und in Sünden meine Mutter in ihrem Schoß mich nährte`: Wo, ich frage Dich, mein Gott, wo, Herr, war ich, Dein Knecht, wo und wann in Unschuld?" Die Antwort auf die rhetorische Frage muß lauten: NIE und NIRGENDS.

Das Sündengefühl dehnst du aus auf die kleinen Schülerverfehlungen und den Trotz gegen allzu viel Lernen und vor allem die ewigen Schläge: "Sünde war es gleichwohl, wenn ich im Schreiben oder Lesen oder im Nachdenken über den Lernstoff zurückblieb hinter dem, was man von uns verlangte." Wiederum sind die Lehrer fein heraus. Ihr Schlagen wird zwar beklagt, aber sie sind für dich bereits Obrigkeit von Gott, ähnlich wie die Eltern: "Sünde war es, Herr mein Gott, daß ich handelte gegen die Gebote der Eltern, auch der Lehrer, wie jene es waren." Und was machst du aus kleinen Diebstälen "im Keller der Eltern und vom Tisch weg" (also Naschen, T. M. ): "Ist das die Kindesunschuld? Nein, die gibt es nicht, Herr, nein, die gibt es nicht, laß es mich sagen, mein Gott." Du wühlst dich hinein in deine Kindes- und Knabenschuld, sodaß schon da Gottes Erbarmen und die religiöse Erlösung notwendig erscheinen.

Mit der Pubertät wird alles noch schlimmer. Da suhlst du dich in deiner Verderbnis, und deine spätere Errettung wird um so leuchtender. Du sprichst von der "Gier, am Niederen mich zu sättigen"; vom "sumpfigen Gelüst des Fleisches und dem Strudel sich regender Mannbarkeit", von der "Finsternis der Wollust" und vom "Wirbel der Schändlichkeiten." Die Selbstzermarterung wird so ausschweifend, daß man sich fragt, ob es neben den normalen Jugendsünden vielleicht Perversionen gab. Wohl kaum, aber mehrere Kommentatoren halten homosexuelle Episoden für wahrscheinlich, was von anderen, frömmeren, heftig dementiert wird. Du haust dir mit ungeheurem Eifer deine eigene Pubertät kaputt, als sei sie der Höllenpfuhl gewesen, in dem du fast untergingst, und der einzige, vorsichtige Vorwurfe an Gott ist der seiner allzu großen Langmut und Zurückgezogenheit: "Ich wälzte mich in meinen Unzüchten, ich ergoß mich darein, ich zerfloß und verschäumte, - und Du schwiegst."

All deinem sündigen Treiben soll Gott nun, in jahrelangem Schweigen, aber doch voller Grimm, zugesehen haben; höchstens in deinem periodischen Gefühl des Ekels soll er dir Zeichen gegeben haben, du mögest innehalten.

An dir bleibt bei deiner Selbsterforschung kein guter Faden, es ist gerade zu mit Lust, daß du im Abgründigen deiner Existenz wühlst. Dabei bist du einer neuen Theologie des Schuldgefühls auf der Spur, die mit dem aktiven Willen zum Bösen, wie ihn nur der Mensch haben kann, zusammenhängt. Denn auch dich zeihst du des direkten Willens zum Bösen: "Und ich, ich wollte einen Diebstal begehen und beging ihn, von keiner Not gedrungen, nur vom Mangel und Überdruß am Gutsein und vom feisten Behagen am Bösen. Denn was ich stahl, davon besaß ich selbst im Überfluss und noch viel besser. Ich wolte mich ja auch gar nicht an der Beute letzen, auf die ich beim Stehlen ausging, sondern allein an der Dieberei und der Sünden." Es handelt sich wohlgemerkt um einen Birnendiebstal des kaum Jugendlichen, den er mit Freunden beging. "Siehe, nun soll dieses Herz Dir auch sagen, was es dabei suchte: daß ich um nichts und wieder nichts schlecht war, meine Bosheit eben nur die Bosheit zum Grunde hatte. Abscheulich war sie, und ich liebte sie; ich liebte es zu verkommen, ich liebte meine Sünde: nicht das, wonach ich in der Sünde griff, sondern mein Sündigen selbst. Schändliche Seele!" Der Sprung in die Theologie der Sünde überspringt die Psychologie eines jugendlichen Diebes oder eines vorübergehend leicht delinquenten Halbwüchsigen, nach dessen Motiven man heute fragen würde. Du aber brauchst dein Gefühl abgründiger, aus bösem Herzen gewollter Schlechtigkeit, um das Gebäude deiner Gottsuche und anscheinend immer ungewissen Gottgewißheit darauf zu bauen. Und deine Gottesbeziehung ist durch und durch symbiotisch, sie umgibt dich wie bergendes Fruchtwasser, doch davon später. Sie muß jedenfalls unablässig beschworen werden.

Du warst dem Karriere-Ehrgeiz verfallen, der, genährt von der Familie, für einige Zeit dein oberstes Motiv war. Auch dies verfällt dem Verdikt und tritt in Gegensatz, als eitler Menschenruhm, zum ewigen Ruhm Gottes. Denn je verwerflicher du warst, desto leuchtender der, der dir alles verzeiht, da du selbsts dir nichts verzeihen kannst: "Ich will dich lieben, Herr, Dir danken, Deinen Namen preisen, daß Du mir so viel Böses und Ruchloses, das ich getan, vergeben hast." Und nun die Steigerung der Gnade angesichts weiterer, nicht begangener Sünden: "Deiner Gnade rechne ich auch das Nichttun anderes Bösen zu: denn wozu sonst noch wäre ich imstande gewesen, ich, der ich die Sünde sogar als Sünde ohne Entgelt liebte." Gott hat über dir gewacht, daß aus deinem Abgrund von Bosheit nicht noch weiteres verbrecherisches Unheil geflossen ist. Denn du bezeichnest dich selbst als schwach gegenüber den Einflüsterungen der Tatgenossen. Da klingt zwischen den Zeilen etwas Entlastung durch: du warst abhängig von der Gruppe der anderen Birnendiebe. Aber dann zielt dein Selbstvorwurf eben auf diese Abhängikeit, und wieder hast du den schwärzesten Peter, den man sich ausmalen kann: "O Freundschaft, so feindlich! Unergründlich diese Verwirrrung des Geistes! Aus Spiel und Scherz heraus die Sucht zu schaden, ein Drang nach Unheil für den andern! Nicht auf Gewinn, nicht auf Rache war ich aus - ein Stichwort war genug: `Los, das machen wir!` Und man schämt sich schon, nicht ohne Scham zu sein." Die Quelle dieses Schuldgefühls ist nur zu ahnen. Du sgst wenig über die Erziehungsmaximen deiner frommen Mutter. Aber an deinem späteren Trotz kann man ermessen, daß die Wucht der Moral tief in dich eingedrungen sein muß, auch wenn du sie für mehr als zwei Jahrzehnte verdrängen konntest.

Obwohl du ein mächtiger Geist im Entstehen warst, ist eine erhebliche, depressiv getönte Ich-Schwäche nicht zu verkennen, und du verbirgst sie auch nicht. Nicht nur, daß du deiner Jugendlichen-peer-group widerstandslos ausgeliefert warst; du verfielst dem Theater, und beim Theater den Stücken, in denen Schmerz zur Darstellung kommt, sodaß man mitfühlen und weinen kann.: "Ich aber, ich Armer, liebte damals die schmerzliche Rührung und suchte mir, was sich beschmerzen ließe. Gefiel mir doch beim Anblick fremder, von Gauklern vorgetäuschter Leiden das Spiel des Mimen um so besser, zog mich um so mächtiger an, ja mehr Tränen es mich kostete." Du nennst dich ein armes Schaf und wie Hiob von häßlicher Räude befallen. "Daher mein süchtiger Hang zum Schmerzlichen", sagst du, und dann abwertend "freilich nicht Schmerzen, die mir tiefer gegangen wären", "Schmerz vielmehr, der beim Hören und Vorstellen nur obenhin jucken sollte." Die ganze Theorie der Katharsis steckt in diesen wenigen Sätzen, aber auch die Gewißheit deiner jugendlichen Neurose, die ihre Ursachen nicht kennt, aber doch dringlich ein Ventil sucht, durch die der unbekannte Schmerz wenigstens teilweise abfließen kann. Worüber du weinen mußtest, weißt du nicht oder verrätst es nicht, aber wir dürfen die Gründe wohl in deiner familiären Konstellation vermuten, die dich auch, längst verinnerlicht, an deinen Studienort Karthago begleitet hat.

Doch zuvor noch ein Blick auf den ungeheuer individuellen, speziell auf dein tiefes Schuldgefühl ausgerichteten Erwählungsvertrag mit dem lieben Gott. Davon, wie er dich mit Grimm, aber ohne direkt einzugreifen, beobachtend begleitet hat, war schon die Rede. Und doch war Gott schon tätig angesichts deiner "schlechten Taten": "Du hast mich dafür gezüchtigt, Deine Strafen waren schwer, aber ein Nichts, gemessen an meiner Schuld, o Du übergroße Erbarmung, mein Gott, meine Rettung vor argen Verderbern, unter denen ich mich herumtrieb...." Denn aus der göttlichen Vogelperspektive gab es schon Beobachtung, Zorn und Rettung: "Und es umkreiste mich in ferner Höhe der Flügelschlag Deiner getreuen Erbarmung." Oder in etwas anderer Tonart, bei der die tiefe Lebens- oder Todesangst zum Vorschein kommt, so als könne ihn der Höllenschlund verschlingen ob seines früheren Lebens: "Dir sei Dank, Dir sei Ruhm, Du Quell der Erbarmung! Elender ward ich - Du mir näher. Nun um Nun war sie da, Deine Rechte, mich dem Schmutze zu entreißen und zu waschen, und ich wußte es nicht. Und noch tiefer mich dem Pfuhl der Fleischeslust zu überlassen, davor bewahrte mich allein die Furcht vor dem Tode, die Furcht vor Deinem kommenden Gericht, die mir doch nie, bei allem Wechsel der Weltbetrachtung, aus der Brust gewichen ist." Eine Angstneurose steckt dahinter, die fortwährend Panik erzeugt vor dem Gericht Gottes, der doch ständig als der allgütige gespriesen wird, allerdings erst dann, wenn er den absolut privilegierten, als Exempel für den ganzen Erdkreis ausgewählten Sünder, von seinem Schmutz befreit hat. Was wird mit den Milliarden Sündern geschehen, an denen sich diese grandiose Rettungsaktion nicht vollzogen hat? Sie werden, falls sie ebenfalls an die Höllenhaftigkeit der "Fleischeslust" glauben, in ständiger Angst leben. Erst recht die zum Zölibat gedrängten Priester und Mönche, die zumindest von den Heimsuchungen der Phantasie oder der klammheimlichen Fleischeslust nicht mit Gottes kräftiger Nachhilfe bewahrt werden. Du Theologe der Angst und des Schuldgefühls.

Aber es kommt noch etwas hinzu: Das Ausmaß deiner Unsicherheit hängt auch mit dem Ausmaß deiner Größenphantasien zusammen. Das Ich fühlt sich klein angesichts der Vorstellungen, die es über sich selbst hat, und es sucht Halt, um nicht zu zerspringen oder sich vernichtet zu fühlen angesichts der Unmöglichkeit, die Ziele des Größenselbst zu erreichen. Also kammerst du dich, weil auch Größenphantasien Schuldgefühle und Angst machen können, an einen ungeheuer Größeren, der dir einen Boden, einen Rahmen und Grenzen gibt.

Wieso hasse ich dich über sechzehn Jahrhunderte hinweg und halte dich für ein Unglück des Abendlandes, während Millionen deiner Leser die lebensfeindliche "Süssigkeit" der Gottesbeziehung aus deinen Schriften gewonnen oder genährt haben? Weil deine Neurose sich ins Große geweitet hat! Weil sie kollektiv geworden ist! Weil sie Anlaß zu Religionskriegen war, zu massenhafter Unterwerfung, zum Fundament einer Kirche, die Ungeheures geleistet und Ungeheures verbrochen hat. Dabei denke ich hier nur an das innerseelische Elend der Millionen, die ihr natürliches Menschsein verdammten, um sich deinem Gott zu unterwerfen und ihn zu dem ihrigen zu machen.

Der Autor der Biographie am Ende der Bekenntnisse" schreibt über dich: "Ob wir es wissen oder nicht, er hat sich über anderthal Jahrtausende her in unsere Gedanken und Gefühle gemischt; ob wir ihn kennen oder nicht, wir atmen seine fortwährende Gegenwart aus der Nähe oder Ferne." Meine eigene Neurose ist augustinisch! Gefällt dir dieser Ehrentitel? Meine beiden Pfarrergroßväter waren geprägt von deinem Geist der Schuldhaftigkeit und des Zweifels am Leben. Und da verschlägt es nichts, daß sie geistreiche, gebildete und sogar weltläufige Männer waren. Was für mich zählt, ist der Verdacht gegen das Leben, der überall lastende Begriff der Sünde, das ungeheure Angewiesensein auf einen Erbarmer, der die Menschenheere erst in den Sumpf der Schuld gehen läßt, was wiederum ihre Schuld dann ist, und der ihnen aufhilft um den Preis der Unterwerfung und des Glaubens an den eigenen Unwert.

Deshalb liegt mir daran, so spät - und mit ihren Begriffen haben es bereits andere Kommentatoren getan - dir das Neurotische deiner Frömmigkeit vor Augen zu führen, das auf ethischer Selbstvernichtung und einer permanenten Selbstberauschung am poetisch differenzierten Lobpreis Gottes beruht. Wer so viel preist, den muß Gott lieben, so geht wohl die Rechnung, und fürwahr, die rethorische und die dichterische Kraft deines Preisens kann ansteckend wirken und war wohl für viele ein weiterer Gottesbeweis. Du Heros des Lobpreises, der Verherrlichung, der übersteigerten Verehrung, der sich überschlagenden Superlative! Deshalb nenne ich dich ein Jahrtausendunglück, auch wenn die Erbauer tausender Kirchen im Geiste dir gedankt haben für das theologische Fundament für ihr kunstvolles Tun.

Hier ein Beispiel deines Preisens, das einem den Atem nehmen kann, und wenn ich es ins Banale wende, dann handelt es sich um eine Form der dichterischen Selbstintoxikation:

"Du, über alles bist Du der Hohe, der Gute, der Mächtige, der Allmächtige, der Erbarmende, der Gerechte, der Geheime und der Offenbare, der Schöne und der Gewaltige, der Feste und der Unergreifliche, der Unwandelbare, der alles wandelt: nie bist Du neu, nie bist Du alt und erneust doch alles....immer bist Du der Wirkende, immer der Ruhende, bist der Sammelnde und nichts Bedürfende, bist der Tragende, Erfüllende, Schirmende über allem, bist der Erschaffende, Nährende und Vollendete, bist Suchender, obgleich doch nichts Dir mangelt." So geht das noch eine halbe Seite weiter, und man merkt schließlich den poetischen Ehrgeiz, den Du aus Deiner vorchristlichen Rhetoriker-Zeit doch so sehr verachtest. Aber beim Preisen ist er erlaubt, bis er zum Rausch des Rühmens wird. Ich behaupte, Du habest eine innere Leere angefüllt mit Gott, und das Rühmen ist eine Form der beglückenden Verschmelzung, die, so darf man zweifeln, längst nicht immer trägt, denn sonst müßtest Du sie nicht mit solcher Penetranz wiederholen in deinen Bekenntnissen. Ich lasse mich nicht täuschen, das Rühmen ist auch eine Selbstversorgung mit erhabenem Gefühl, und da viele danach süchtig sind, macht dieses berauschende Preisen einen Teil deines Erfolgs. Es fehlt nur noch die Musik dazu.

Dein Gottesbild ist das einer fötalen Umhüllung, nicht eines dialogischen Gegenübers. "Nicht also wäre ich, mein Gott, ja gar nicht wäre ich, wenn Du nicht wärest in mir. Oder vielmehr, wär ich nicht, wenn ich nicht wäre in Dir, `aus dem alles, durch den alles, in dem alles`" .... "Woher soll ich Dich rufen, da ich in Dir doch bin?" Oder du lebst mit einem Gott der frühen Nahrungszufuhr: "Doch nur einer, der Deine Milch saugt oder schon als Speise Dich genießt, die nicht verderben kann."

Das mit der Ichschwäche muß ich dir vielleicht erklären, du großer Geist, weil es ein Ausdruck und eine Entdeckung der neueren Zeit ist; aber geahnt hast du, was damit gemeint ist. Deine Ichschwäche und Konturlosigkeit zeigten sich schon früh im Umgang mit deinen Freunden, von denen du abhängig warst bis zum Selbstverlust. Du sagst es selbst in der Rückschau auf deine Verwirrrungen, die du später alle "schwere Sünden" nennen wirst: "Dein Lob, Herr, Dein Lob, das verkündet ist in Deiner Schrift - das wäre der schwachen Ranke meines Herzens Halt gewesen, um daran emporzuwachsen...." Und immer wieder der Rekurs auf den Birnendiebstal und die Theologie des bösen Herzens: "Also liebte ich damals auch das Zusammengehen mit Schuldgenossen meiner Tat." Du spekulierst, ob die Sünde des einsamen Diebstals größer gewesen wäre als das Mitmachen, und mußt einsehen, daß du alleine gar nicht gestohlen hättest. Die Lust lag "im Freveln selbst, und sie entzündete sich erst am Miteinander gleichsündiger Genossen." Du zeigst dich als beeinflußbar wie ein schwankendes Rohr und wagst sogar ein vorsichtiges Klagen, daß Gott nicht früher eingegriffen habe, aber natürlich mündet auch dieses Klagen in Lobpreis, weil der gewundene Weg schließlich doch der beste war und die Gnade der Strafe in Form von Krankheit und Schicksalsschlägen dich noch ereilen konnte: die angebetete "Peitsche Gottes" schon früh in seinem Leben.

Die Familiendynamik, wie sie aus deinem eigenen Bericht ablesbar ist, spricht Bände. Du bist ein Muttersohn, wie er im Buche steht. Die Mutter war fromm, um nicht zu sagen bigott, aber verheiratet mit einem Mann, der wenig vom Christentum hielt, es aber unter dem Druck seiner Frau bis zum Taufanwärter brachte, bevor er früh starb. Man geht sicher nicht fehl, daß um den Glauben herum in der Familie ein zäher Machtkampf wogte, den selbst du, der wenig auf sein Elternhaus kommen läßt, bemerkt hast: "Schon damals ("als Knabe") also war ich gläubig, so auch die Mutter und das ganze Haus, einzig den Vater ausgenommen, aber auch er konnte bei mir das Vorrecht mütterlicher Gläubigkeit nicht entkräften, so daß er mir, obwohl noch ungläubig, den Glauben an Christus verwehrt hätte. Ja die Mutter sorgte schon dafür, daß Du, mein Gott, mir Vater seiest, mehr als der leibliche, und darin standest Du ihr bei, sodaß sie obsiegte über den Mann, dem sie, obwohl sittlich überlegen, diente..." Der Vater wurde schlicht ausgebootet mit Gott, und wir haben es mit einem Vierer-Ödipus zu tun: Mutter - du als Knabe oder Jugendlicher - Gott als die Hauptpersonen, und einen Vater als Randfigur, an dem Mutter und Knabe vorbeiziehen, um sich in Gott zu vereinen.

Und so es ist es denn auch die Mutter, die die Ernte der Bekehrung einfährt. Du, einunddreißig Jahre alt, und dein Freund Alypius erlebt eure Bekehrung im Garten des Hauses in Mailand, und das heißt Verzicht auf "Fleischeslust" und mönchisches Zusammenleben für Gott. Was tut ihr wie die Knaben: "Wir gehen hinein zur Mutter, sagen`s ihr: sie freut sich. Wir erzählen, wie alles herging: sie jubelt und frohlockt, und immer wieder preis sie Dich, `der Du mächtig bist, mehr zu tun, als wir erbitten und erdenken`, weil sie sah, wie viel mehr Du ihr gewährt hattest, als was sie für mich in Jammer, Weinen und Seufzen zu erbitten pflegte."

Nicht zufällig beschreibst du später, mit welcher Inbrunst du als Student und junger Rhetor den Beifall oder die Aufmerksamkeit eines väterlich-überlegenen Lehrers gesucht hast, um etwas Väterlichkeit nachzuholen: "So galt es mir als große Sache, es möchten meine Sprachkunst und meine Studien dem berühmten Manne zur Kenntnis gelangen: wenn sie ihm gefielen, so würde ich noch mehr entbrennen; wenn sie ihm mißfielen, so wäre mir das Herz verwundet, das hohle, das nicht an Dir sein Festes hat." Da hattest du noch ein Fenster offen zu einer menschlichen Lösung, hin zu einer männlichen Figur, und du scheust dich gar nicht zuzugestehen, wie tief dich deren Bejahung oder Verneinung getroffen hätte. Aber dann schließt sich das Fenster zu Vater, und es öffnet sich nur noch einmal zu einer großen Figur, und das ist der Bischof Ambrosius in Mailand Aber der ist nun schon Vorbild für deinen späteren Beruf, Priester und Bischof. An seiner Figur gewinnt deine "schwankende Seele" endlich ein Stück Kontur, von ihm bist du auch bereit, die Taufe anzunehmen. Er ist nicht so sehr väterliches Gegenüber als väterliche Identifikationsfigur, mit der Bindung über den gemeinsamen Glauben an Gott und seiner Verehrung. Welch ein Fest für die anwesende Mutter!

Du wurdest real früh vaterlos, noch in der Pubertät, und du warst partiell schon früher seelisch vaterlos im religiösen Kampf der Mutter um deine Seele, bzw. um deine Zugehörigkeit zur religiösen Fraktion im Haus, die die Mutter anführte. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie tief geteilte Religiosität mit der Mutter binden kann, um so mehr noch, wenn sie dich fühlen läßt, daß ihr Glück darin besteht, daß du ihren Glauben teilst, und daß jeder Schritt vom rechten Weg ihr das Herz zerreißt. Denn dies, so siehst du es, war ihre Lebensaufgabe, an der sie lange Jahre, in denen du noch "irrtest" oder in Sünde lebtest, in Trübsal und ständigem Beten litt. Sie glaubte so inbrünstig und lebte so streng, daß sie dich wegen deines Lebenswandels für einige Zeit aus dem Hause warf, weil sie so viel Gottlosikgeit in ihrer Nähe nicht ertragen konnte. Wenn du also wieder Nähe wolltest und Aussöhnung, blieb dir auf die Dauer gar nichts übrig, als dich ihr auf ihrem Felde der katholischen Liebe anzunähern.

Nachträglich siehst du es so, daß ja schon immer von Gottes Güte alles vorbestimmt war und Menschen und Ereignisse nur Vorbereitungscharakter haben: "Aber im Herzen der Mutter hattest Du schon Deinen Tempel zu bauen begonnen und den Anfang mit Deiner `heiligen Einwohnung` gemacht - der Vater war ja noch Taufbewerber, und das seit kurzem erst -, und so fuhr sie auf, erzitternd in frommer Angst, und obgleich ich noch nicht zu den Gläubigen zählte, bangte sie für mich vor den krummen Wegen, wie sie die wandeln, die Dir `den Rücken kehren, nicht das Angesicht`".

Die ewig mahnenden Worte aus dem frommen Mund der Mutter sind das Vehikel von Gottes Offenbarung, auch wenn du meinst, Gott hätte in den wirren Zeiten geschwiegen. Aber nicht doch: "Du hättest mir damals geschwiegen? Und wessen waren denn die Worte, wenn nicht die Deinen, die Du durch den Mund meiner Mutter, die an Dich glaubte, mir oft und oft in meine Ohren riefst?"

Gegen die Mutter konntest du anfangs noch trotzen und ihre frommen Ratschläge in den Wind schlagen, wie überhaupt der Trotz ein Versuch war, dich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Aber die Mutter im Bündnis mit Gott, sie haben es geschafft, dir ein seelisches Gerüst zu vermitteln, an dem du endlich Halt gefunden hast.

Dir fehlte der Vater, mit dem du dich hättest auseinandersetzen können, aber er war abgemeldet, und der Rest ist zuerst eine sorgenvolle Symbiose der Mutter mit Dir, und später, schon an der Schwelle ihres Todes, eine triumphierende. Denn sie hat dir im Rom und in Mailand das Haus geführt und den Sieg davongetragen über deine langjährige Freundin, die du nachhause geschickt hast, als es Zeit war für eine großbürgerliche Gattin, die du auch gefreit hättest, wäre dir nicht das Zölibat auf einmal als die höhere Form des Lebens erschienen. Es war allerdings gemildert durch intensive Freundschaften und ein Leben in männlicher Wohn-, Arbeits- und Gebetsgemeinschaft.

In ihren Qualen über deinen Unglauben und deinen Lebenswandel wandte sie sich an einen Bischof, der wohl einige Übung hatte im Umgang mit glaubensneurotischen Müttern. Er empfahl ihr weiterhin das Gebet und weigerte sich, den Schlingel von Sohn, der schon ein stolzer Rethorikdozent war, zur Bekehrung zu empfangen. Du ahnst wohl, was sie ihm danach für eine Szene gemacht hat, denn du schreibst: "Als sich die Mutter von diesen Worten nicht beruhigen ließ, sondern mit Bitten und reichlich Weinen noch weiter in ihn drang, er möge mich kommen lassen und sich mit mir besprechen, da sagte er, schon im Ton des Überdrusses: `Nun geh und laß mich! So wahr du lebst, es ist unmöglich, daß ein Sohn solcher Tränen verloren geht.`" Er muß etwas vom Ausmaß der Bindung wie von dem dranghaften Bekehrungswillen gespürt haben. Aber sie nahm seinen Unwillen trotz seiner Ablehnung für eine Ermutigung: "In ihren Gesprächen mit mir kam sie oft darauf zurück, sie habe dieses Wort so aufgenommen, als wäre es eine Stimme vom Himmel gewesen."

Ich kenne solche Stimmen von weinenden Müttern, die mich beschwören, ihren drogensüchtigen Sohn zu retten, der gar nicht meint, daß ihm etwas fehlt; oder Mütter, die tief besorgt sind, sicher mit Recht, über ein Kind, das in einer religiösen Sekte untergetaucht ist, das aber in der Zeit gar nichts von ihr wissen will und von mir erst recht nicht. Aber trotzdem kann es sein, daß die in Verzweiflung gerungenen Arme der Mutter und ihr Beten irgendwann etwas bewirken, nämlich wenn die Kraft des Trotzes und des Wehtunwollens bei den Jugendlichen oder auch schon älteren Kindern nachläßt. Aber die Gebete der Mutter, über die man zunächst höhnt, später als die Stimme Gottes zu erleben, das setzt schon eine tiefe und umschlingende Verbindung zur Mutter als Mittlerin zu Gott voraus. Der Übersetzer und Biograph Joseph Bernhardt schildert sie so:

"Monnica.... war eine eifervolle Christin aus kampferprobter katholischer Familie, allem Anschein nach ein Weib von herber Keuschheit, männlich geartet, zugreifend und innerlich zugleich, zäh im Verfolgen ihres Willens und fühlsam für die Dinge der Überwelt, im ganzen vielleicht zu nonnenhaft für den Gefährten an ihrer Seite, der auch als Gatte seine freien Wege ging." Du bist nur scheinbar und für wenige Jahre deine freien Wege gegangen. Dann traf sie ein in Rom, aus Karthago kommend, wohin sie dir schon nachgereist war, und beruhigte die Matrosen beim Seesturm mit ihrer Gottseligkeit, um deinen Haushalt zu regeln und ihren frommen Druck auf dich auszuüben, bis sie dann in Mailand mit deiner Taufe am Ziel war. Und noch einmal Bernhardt, auf deine früheste fromme Jugend zurückschauend, über den Knaben: "Feinnerviger, als es die Art gesunder Kinder ist, nimmt der Liebling Monnicas die Bilder, Zeichen und Worte der Umwelt auf." Fast scheint es, als hättest du danach mehr als ein ganzes Lebensjahrzehnt, vom Vater nicht mehr gestützt nach seinem Tod, im Trotz gegen die frühe Indoktrination der Mutter gelebt, bis die Kraft der Auflehnung versiegte und die seelische Symbiose obsiegte.

Was ich dir am meisten übel nehme, ist die Art, wie du Gott als Medikament gegen alle seelische Unbill einsetzest. Es wird immer wieder deutlich, daß du depressiven Verstimungen ausgesetzt warst. Der Tod deines Freundes versetzt dich in tiefe und anhaltende Trauer, stürzt dich in Klagen, die gar nicht aufhören wollen. "Einzig das Weinen war mir süß, und es war an meines Freundes Statt getreten als die Wonne meines Herzens." Doch alles Weinen der Seele ist letztlich ein Weinen nach Gott. "Und doch, wenn wir nicht weinten zu Dir, daß Du es hörst, unsere Hoffnung wäre dahin, und es blieb nichts von ihr. Woher also kommt es, daß von der Bitternis des Lebens als süße Frucht gepflückt wird das Seufzen und Weinen und Stöhnen und Klagen? Ist es das Süße darin, daß wir hoffen, Du erhörest? Gewiß, so ist es beim Beten unter Tränen, weil es das Verlangen hat, ganz bis zu Dir zu kommen." In der Gefahr des depressiven Absturzes und dem ewigen Schwanken soll Gott Halt geben, die Ichschwäche ausgleichen Es war mehr als eine Freundschaft zu dem verstorbenen Gefährten, es war eine Art Zwillingsbeziehung, die den Mangel an Kontur aufgefangen hat, wichtig wie ein inneres Gerüst. "In der Tat, ich wunderte mich, daß die übrigen Sterblichen noch lebten, da er doch, den ich geliebt hatte, gestorben war, und mehr noch wunderte ich mich, daß ich selbst, da ich doch ein zweiter Er gewesen, noch lebte, nun, da er tot war. Trefflich hat jemand von seinem Freund gesagt: die Hälfte meiner Seele. Wahrhaftig, ich hatte das Gefühl, als wären seine Seele und meine Seele nur eine Seele gewesen in zwei Leibern. Und es war mir das Leben so gänzlich verleidet, weil ich nicht hälftig leben wollte..." Es war wohl der Verlust des spiegelnden Ebenbildes, der den Tod so schmerzlich machte, das Gefühl der Leere, den dieses Sterben hinterließ. Und von dieser Leere in dir ist immer wieder die Rede als einem peinigenden Zustand, für den du verzweifelt die verschiedensten Abhilfen gesucht hast, auch bei einem unfertigen, vorchristlichen Gottesbild: "Versuchte ich nun, dort meine Seele zur Ruhe zu legen, so fiel sie ins Leere und stürzte auf mich zurück..." "Zu Dir, Herr, hätte sich sie erheben sollen, um Heilung zu finden....", und nennst Gott quasi ein Medikament gegen übermäßige, vielleicht pathologische Trauer. Die Neigung zu symbiotischen Beziehungen, die den Anderen als inneres Gerüst oder als Baustein der Seele brauchen, wird auch in der Beziehung zum Freund deutlich: "Hatte mich jener vorige Schmerz nicht deshalb so überaus leicht und bis ins Innerste durchschauern können, weil ich meine Seele in den Sand gegossen hatte, indem ich einem Sterblichen eine Liebe zuwandte, als ob er niemals sterben müßte." Bei Gott als dem inneren Baustein der Seele ist nie eine Trennung zu befürchten, und der kontinuierliche Lobpreis scheint das Bindemittel, das ihn "verfügbar" hält, obwohl seine Treue als hart erarbeitete Gnade erscheint. Die Liebe zum Freund erscheint so als Irrtum, weil er sterblich ist, also weil Trennung droht, und die ist für den symbiotisch Gebundenen die größte Gefahr. Deshalb auch ist dein Gottessbild, das eines Allumhüllers, aus dessen Kreis man nie herausfallen kann. "`Herr der Heerscharen, kehr uns zu Dir und zeig uns Dein Angesicht, so werden wir heil sein!` Denn wohin sich, ohne Dich zu haben, die Seele des Menschen auch wendet, sie heftet sich dort an Schmerzen, auch wenn sie, so außer Dir und außer ihr, an schöne Dinge sich heftet." Außerhalb von Gott siehst Du nur Schmerz, und er ist das Heilkraut, das sie beseitigt. "Werde nicht nichtig, meine Seele, und laß das Ohr des Innern nicht ertauben durch das Lärmen gegen die Nichtigkeit in dir!" "Stehet bei ihm, und ihr werdet Stand haben, ruhet in ihm, und ihr werdet Ruhe haben." Man könnte deinen Lobpreis manchmal fast lesen wie die poetische Version eines Beipackzettel für ein neues Antidepressivum mit gleichzeitiger Wirksamkeit für Borderline-Zustände: "Ach ja, so kläglich steht es um die schwanke Seele, eh sie nicht Halt und Stand in der Wahrheit hat. So wie der Wind der Rede ihr zuweht aus der Brust Vermeinender, so läßt sie sich tragen und treiben, drehen hin und und drehen her, und das Licht verwölkt sich ihr, und die Wahrheit wird nicht gesehen. Und doch liegt sie vor uns."

Dein für viele leuchtendes, für mich quälendes Vorbild der jahrzehntelangen Wanderung aus der Schuld der drohenden Verwahrlosung und der eitlen Selbstbeweihräucherung hin zur demütigen Unterwerfung und Verschmelzung mit Gott hat wohl den abendländischen Erfolg Deines Buches ausgemacht. Deine eigenen Größenvorstellungen haben endlich Ruhe gefunden in der Größe Gottes, die dir Grenzen gaben und Halt. Denn ".... die Stimmen des Irrtums rissen mich hinaus aus mir, und von der Last meines Hochmuts sank ich in die unterste Tiefe." Mit deinem Gott kannst du dich gleichzeitig dauernd entwerten als erbarmungswürdiges Subjekt, aber in seiner Gnade bist du groß und kannst doch auf seine Größe verweisen. Du, der Erdenwurm im Glanz der Erwählung, über dessen Leben Gott von den ersten Erdentagen an gewacht hat, um ihn auf einem komplizierten und auch trotzig in die Irre führenden Weg zu sich selbst und also zu Gott zu bringen, nein umgekehrt, zu Gott und also erst dann zu sich selbst.

Zögernd schreibe ich es hin, trotz deiner riesigen Statur, die sich durch millionenfache Nachahmung im Glauben wie in der Lebensform noch erhöht: es steckt etwas von Falschmünzerei in deiner Frömmigkeit, in deiner Theologie auf der Basis von Schuld und Verwirrung und Depression und von unverarbeiteten Größenphantasien des Jugendlichen und des jungen Erwachsenen. Du hast dir einen Halt gesucht, um nicht auseinanderzufallen und der Gefahr der Depression ausgeliefert zu bleiben. Du brauchtest die Riesenhaftigkeit Gottes, um deinen irdische Kleinheit zu ertragen. Und hinter allem steht das Band zur Mutter, die dich am irdischen Vater vorbei zum himmlichen Vater geführt hat und dich so in ihrer seelischen Nähe hielt. Sie entschied wohl auch, daß deine langjährige Freundin und Mutter deines geliebten Sohnes nachhause geschickt wurde.

"Du aber strecktest Deine Hand aus der Höhe und rissest meine Seele aus dieser tiefen Finsternis; denn es weinte zu Dir meine Mutter, Deine Getreue, weinte um mich mehr, als Mütter Leichname beweinen. (das Bild der Pietà wird insinuiert, T. M.)

Sie sah meinen Tod durch ihren Glauben und den Geist, den sie durch Dich besaß. Und Du, Herr, hast sie erhört. Du hast sie erhört und hast ihre Tränen nicht verachtet, wenn sie strömend den Boden unter ihren Augen benetzten, wo immer der Ort ihres Betens war: ja, Du hast sie erhört."

Verwirrung, seelisches Elend und Kleinheit werden dann erträglich, wenn sich hinterher behaupten läßt, dies alles habe bereits in Gottes Plan gelegen. Gott hat sich in der Tat viel Mühe mit dir gemacht, wie eine liebende Mutter, die über ihren Zögling wacht und seine Schritte lenkt, ohne daß er es merkt. Aus plausiblen Gründen, außer der Flucht vor der Mutter, bist du von Karthago nach Rom übersiedelt; die pädagogischen Verhältnisse schienen dir dort erträglicher. Aber nein, der noch kleine Mann entscheidet nicht frei, sondern geht am Zügel Gottes: "In Wahrheit aber bist Du es gewesen...., Du warst es, der zum Ortswechsel um meines Seelenheiles willen mich bestimmte: einmal in Karthago gabst Du mir die Stachelstöße, von dort mich wegzubringen, und Rom umgabst Du mir, mich hinzuziehen, mit verlockenden Aussichten, und in beidem waren Menschen, die ein totes Leben liebten.... Du aber... bedientest Dich im Verborgenen sowohl ihrer wie meiner Verkehrtheit." So lassen sich Kleinheitsgefühle und gescheiterte Größenvorstellungen ertragen, wenn der Herr geduldig und mit bedachter Präzision seinen pädagogischen Plan ausführt. Außerdem sind Gottes Pläne würdiger als die der Mutter, auch wenn sie das gleiche Ziel haben. Für wieviele solcher gleichzeitiger Lebenspläne hat Gott wohl die Ressourcen? Oder verlief nur dein Leben nach Gottes Heilsplan, weil du dich besser ertragen kannst, seit du dich als ein Erwählter kennst, mit dem Gott sich alle erdenkliche Mühe gab? Mithilfe der Mutter, die sein wichtigstes Instrument bei seinem Bemühen war? Du hast sie sicher im Jenseits wiedergefunden, und ihr konntet euch ergötzen an den Irrungen und Wirrungen eurer dem Heil zugewandten Verstrickungen und dem Einmünden in die Laufbahn eines Kirchenvaters. Wie viele Tausende und Millionen gläubiger Menschen werden sich nach Dir eingebildet haben, der himmliche Vater überwache und lenke ihre Biographie? War es so schwer, ein Leben rückschauend auszuhalten als eines von Versuch und Irrtum, von Geglücktem und Mißglücktem? Warum brauchtest du die kindliche Idee, daß da einer sozusagen Tag für Tag wacht über dich und die nächsten tapsigen Schritte deines Lebens plant, nach einem Drehbuch, dessen Sinn sich dir erst erschloß, als du beim rechten Glauben angekommen warst? Warum willst du uns weismachen, daß du, inmitten von Millionen und Milliarden Irrender und Taumelnder, ein Geführter warst? Wo liegt Dein Verdienst in der Sache, und warum redest du nicht darüber? Deine Erwählung übersteigt ja alles, was dir deine Größenphantasien in der Zeit der langen Irrwege eingegeben haben. Nun darfst du deine Außergewöhnlichkeit noch steigern, indem du zu deiner verworrenen Biographie noch den Glanz eines Heilsplans hinzufügst und so vielen Menschen Lust machst auf die Vorstellung, ebenfalls liebevoll-streng Geführte zu sein und im Unglück nur das schmerzende Halteseil des Herrn zu fühlen. Ein Millionenheer, ein Milliardenheer von Geführten, falls du nicht zu einer Spezialelite gehörst, an der allein Gott ein leuchtendes pädagogisches Exempel statuiert. Seine lenkende Arbeitskraft muß doch auch Grenzen haben! Oder überblickt und steuert er die Lebensläufe aller je gewesenen Menschen, von dumpf bis erleuchtet? Auf wieviel biographischen Brettern kann er spielen, ohne die Übersicht zu verlieren? Oder sind dir solche Fragen ganz fremd, du von der Mutter und von Gott Erwählter? Lauter offene Fragen, aber du glaubst, so heiligmässig viele wunderbare Antworten in deinem Leben gefunden zu haben.

Zwanzig Pfarrer und ihr kranker Gott

Bericht über eine Gesprächs-Woche mit Theologen

"Nie gut genug, immer schuldig", so brachte ein Gemeindepfarrer das Grundgefühl seines Berufsalltags in knappe Worte. Das ist zum Teil Realität, weil es kein umrissenes Leistungsbild gibt und die Anforderungen von allen Seiten aus der Gemeinde hoch sind. Aber es wurde auch deutlich, daß eben diese diffusen und nie abschließbaren Anforderung die neurotischen Züge anzapfen: es allen recht machen wollen, Vorbild sein, für die Nöte aller ein offenes Ohr haben, die widersprüchlichsten Wünsche aufnehmen und möglichst befriedigen, Christusnachfolge betreiben; mit dem Wissen um das viele reale und seelische Elend in der Gemeinde umgehen oder es aushalten können. Besonders bei einem neuen Amtsantritt wird von manchen Arbeits- und Bibel-, Frauen- und Jugendkreisen verlangt, daß "der/die Neue" dies auch weiter pflege und nicht etwa andere und ungewohnte Schwerpunkte setze. Das katechetische wie das Verwaltungspersonal stellt oft in sich noch eine seelsorgerliche Anforderung dar, will Aufmerksamkeit und Beratung, Anhörung und Betreuung. Der Pfarrer zieht Übertragungen auf sich, die er nur mühsam abarbeiten kann. Denn er reagiert wie ein Mensch auf Idealisierungen und Enttäuschungen, die er auslöst oder bereitet; vielleicht ist er noch empfindlicher, weil er es so gut machen will, und weil er in Fragen der Verwaltung meist gar nicht geschult ist.

Zum Thema der "Gottesvergiftung" und der Frage eines gütigen. brauchbaren oder erträglichen Gottes kam im Lauf der Tage viel Spannendes zutage. Aber früh schon brach sich die Frage Bahn: "Wie gehe ich mit der Wut, dem Zorn und auch der Verachtung um, die mich in meinem Beruf gelegentlich packen?" Und eng damit im Zusammenhang stand eine zähe Empörung, auf die ich ohne die Auskünfte der Teilnehmer nie gekommen wäre: "Wie begegne ich einer anderen Form der Gottesvergiftung in der Gemeinde, die ihre Träger als eine besondere Art der Gottesverbundenheit begreifen würden? Es sind die treuen, frommen Gemeindemitglieder, deren Glauben eine gewisse Starrheit aufweist; Menschen, die kritisch, nörgelnd und unzufrieden werden, wenn ein wenig moderne Theologie in die Predigt kommt." Es seien "unerträglich fromme, oft schuldbeladene, im Glauben erstarrte Menschen, die auch den Pfarrer so wollen wie sie es sind, Rechthaber, Traditionalisten, ungnädige Christen. Sie kämpften um ihr Gottesbild, tun es klagend, anklagend, diffamierend, sogar erpresserisch." Zögernd gebrauchten die Gottesmänner und -frauen das ihnen hart ihm Ohr klingende Wort der Neurose. Eine Frömmigkeit, mit gewissen charakterlichen Verbiegungen, die den Pfarrer bedroht, obwohl er sich über so viel Kirchentreue und aktive Teilnahme am Gemeindeleben eigentlich freuen sollte.

Dagegen sei es ja auch eine wichtige Aufgabe, mit religiös bedrückten Menschen gerade das "Verletzende der christlichen Tradition" aufzuspüren, zu benennen, ihm seine lebensfeindliche Wucht zu nehmen. Denn viele Ältere wankten noch unter einem strengen Richtergott; vor allem viele ältere Frauen hätten, im Glauben an eine solche christliche Botschaft, ihr Leben in Enge und Aufopferung verbracht, und da stieße der Pfarrer auf viel untergründigen, aufgestauten Zorn, berechtigte Bitterkeit und heftige Trauer um das unter solchen Imperativen versäumte Leben, das nun nicht mehr zurückzuholen sei. Also christliche Seelsorge, um von den Bedrückungen durch eine engherzige, aber doch in der Jugend vielen Menschen gepredigte Christlichkeit zu befreien. Viele, so hieß es, stünden da ohne viel Halt vor dem Abgrund eines großen Betrugsgefühls. Und auf der Gegenseite, was droht dort? Von außerhalb der Gemeinde sind oft genüßliche Häme, Spott und zynische Kommentare über Gott und die Kirche und die Pfarrer auszuhalten, ein "schmerzliches Kritisiert-Werden oder ein demonstratives Nicht-Ernstnehmen", das zu ertragen nicht immer leicht sei. Denn es verbünde sich mit den tiefsten Schichten der Selbstzweifel und des Verdachts, in unserer säkularisierten, entkirchlichten Welt ein "komischer Vogel" und belächelter Außenseiter zu sein. Allerdings, und das wird mit Zorn vorgetragen: Wenn das Personal mit den letzten Stunden, Tagen oder Wochen eines zuende gehenden Lebens im Pflegeheim nicht mehr zurechtkomme, dann sei der Pfarrer wieder gut als der Zeremonienmeister, der dem Sterben, ja dem oft unwürdigen Endstadium von Alter und Krankheit eine letzte Würde zu geben habe. Aus all diesen Gründe gebe es die Versuchung, und das werde vom "Mittelbau" der Gemeinde wohl auch begrüßt, einen Gott zu predigen, der "Harmonie, Ermutigung, Erbauung, Ästhetik und Erträglichkeit" ausstrahle. Dann sei Konfliktfreiheit garantiert. Aber nach einer Weile werde dem ernsthaften Theologen dieser "Softy-Gott" selbst unerträglich. Und dann gehe es ans persönliche Eingemachte, wenn das eigene Gottesbild in Frage gestellt würde. Nicht immer sei man fähig, in der Einsamkeit mit seinem die klare Konturen immer wieder verlierenden Gott umzugehen, der oft zwischen den Polen von Güte und von Grausamkeit schwanke. Man spreche auch unter Kollegen nicht sehr frei von den Anfechtungen im Glaubens, und vor der Gemeinde seien diese ohnehin streng zu verbergen; jedenfalls führe das Gefühl, von ihr bewacht zu werden, nicht gerade zu einer freien Mitteilung der eigenen Glaubensprobleme. Und doch sei für die Gemeinde, wenn die Predigt nicht reine Routine sein solle, der eigene Glauben, zwar gereinigt, oft auch beschönigt und an der offiziellen Verkündigung orientiert, doch eine wichtige, halböffentliche Sache, eine Glaubens-deutlichkeit, die sie dem Pfarrer abverlange.

Gottesdienst und Gottesbild Eine große Rolle spielte die Frage des "Überdrusses an Worten" und eines freundlicheren Umgangs mit dem Körper. Wie kommt der Körper in den Gottesdienst, auch wenn er hinter dem Talar verborgen bleibt? Wie hängen Gottesbild und Körpersprache zusammen? Einige schildern durchaus konkret das Leeregefühl in Körper und Seele vor dem Gottesdienst, das Lampenfieber im Zustand der "Unbereitschaft", der noch fehlenden inneren Anwesenheit. Aber siehe da: der Körper hilft, wenn man sich nur einläßt auf ihn und seine Wege zum Selbst: Die Wärme und die Kraft, die durch die Begrüßung der Gottesdienstbesucher am Kircheneingang ausgeht, wird als durchaus hilfreich beschrieben, als energetisierend, als eine intensive Botschaft des Gebrauchtwerdens, auch der Freude an der Freude der Besucher über die Freundlichkeit des begrüßenden Pfarrers. Natürlich waren einige der zwanzig Teilnehmer gruppenerfahrene, vielleicht sogar körpererfahrene Pastoren. Sie wußten um Hilfen, ja sogar um Tricks, um in der drohenden oder bereits eingetretenen Leere zu sich selbst zu finden. Auch die Gesten und rituellen Gebärden werden angesprochen, der feste Stand vor dem Altar, der dem bioenergetischen "groundig" nahekommt, als der ruhigen Verankerung auf der Erde. Und selbst aus den Lesungen und rituellen Gebeten wußten sie Kraft zu ziehen, vielleicht sogar seitab vom theologischen Inhalt des Gesagten. Deshalb war der Gottesdienst für die meisten, von den Kanzelphobikern einmal abgesehen, doch eine Quelle der Zufriedenheit, ja der Stärkung der eigenen Identität. "Vertrauen in die Rituale, sie werden als etwas Überindividuelles gesehen", so klang es wiederholt, auch wenn es "heiliges Theater" ist. Aus der Gebärde kommt die innewohnende Kraft, die auch ein leeres oder falsches Selbst wieder auffüllt", so lautete eine geradezu zuversichtliche Aussage, die mehrfach gemacht wurde. Auch helfe es, nicht gleich die volle Verantwortung für den Gottesdienst übernehmen zu müssen, sondern erst einmal der Wirkung der Glocken und der Orgel, dem Gesang und der Lesung durch Gemeindemitglieder zu vertrauen.

Wie kriege ich einen freundlichen, erträglichen Gott, einen nicht grausamen, den ich trotzdem ernst nehmen kann? Luthers "gnädiger Gott" wurde ebenfalls genannt, aber mit einer gewissen Bitterkeit, denn: "Gnade macht klein, oder gibt es eine Gnade, die nicht klein macht?" Ich ließ sie die Stierkampfübung machen: Der Haltende nimmt die Stirn des Gegenübers in die Hände, die Einladung lautet: Schieben Sie mich wie ein Stier durch den Raum. Da beginnt ein tobendes Kämpfen, Stöhnen und Schreien, ein geradliniges Schieben und ein fintenreiches Umtanzen des Gegners. Manche können kaum aufhören, so viel im Körper gestaute Wut kommt zum Vorschein und will heraus und niedergerungen werden. Die Hände an der Stirn geben sowohl Wärme wie Halt und Widerstand. Kraft und Wut werden so aufgefangen und sind plötzlich nicht mehr bedrohlich oder gefährlich. Danach ein keuchendes Aufatmen, auch kleine, beruhigende Gesten, ein Anerkennen des Kampfes, und allmählich, wenn die Lungen wieder ruhiger arbeiten, ein Durchsprechen des Erlebten. Fast gotteslästerliche Wünsche tauchen auf, den Stierkampf mit der Erfahrung des Gehalten-Seins vor dem Alter zu praktizieren, um der Wut und der Unsicherheit eine Form zu geben. Oder eine Sitzung des Kirchengemeinderats oder gar des Pfarrerkonvents mit einem solchen Kampf zu beginnen, um Aggressionen, Mißtrauen und schleichende Wut zu beseitigen, die sich so oft hinter falscher und beklemmender Freundlichkeit verbergen. Dies dann der Übergang zum Problem des Berührens überhaupt. Die Krankenhausseelsorger waren hier am mutigsten. Sie konnten berichten, wie sie am Bett saßen und eine Hand hielten, tröstend eine Hand auf die Schulter legten, oder gar einmal über ein müdes Haupt streichelten. Aber schon wurde es schwierig, wenn eine Pfarrerin am Bett eines Mannes sitzt. Da entsteht rasch die Angst vor Mißverständnissen, vor zu großer Nähe, vor einem zu großen eigenen Ergriffensein, und vor falschen Phantasien. Frauen mit Frauen, eine leichtere Übung! Wir haben Berührung geübt, vor allem aber das Aushandeln, das Fragen, ob sie willkommen oder angenehm sei. Das hat sie erstaunt: der fragende Umgang mit den Kranken, Klienten, trauernden Gemeindegliedern, die in seelischer Not zum Pastor kommen. Er mag den Berührungswunsch spüren, seinen eigenen und den des Klienten, und nicht wissen, wie er ihn in die Tat umsetzen soll. Alle spürten sie den eigenen Wunsch nach Berührung, von einzelnen Scheuen einmal abgesehen, und stürzten sich übend in das Aushandeln des Weges, den die eine Hand zur andern Hand zurückzulegen hat. Und es wurde deutlich, daß das Arrangieren, das fragende Vorbereiten der Berührung, schon die halbe Begegnung ist. Im Fragen steckt Achtung und der Wunsch nach Einfühlung. Intuition, auf die sie zunächst bauen wollten, trifft nicht immer, und sie gaben auch zu, daß viele Klienten sich den Gebärden des Pastors nur fügen, weil sie weder sich noch ihm die Peinlichkeit einer Korrektur oder gar einer Zurückweisung bereiten wollen. Zum aktiven Wünschen nach einer Berührung oder einer veränderten Berührung sind die wenigsten in der Lage.

Zunächst gab es Widerstand gegen das fragende Arrangieren. Wir spielten Szenen durch, in denen ein achtzigjähriger Witwer, ein treues Gemeindemitglied, zur Pfarrerin kommt, um sich auszuweinen über den Tod der Ehefrau. Sie ahnt, daß sie sich neben ihn setzen sollte, um seine schreiende Einsamkeit und Pein zu mildern, aber sie verharrt auf ihrem leicht abseits stehenden Stuhl, wagt ihn nicht zu verstellen, weil sie nicht weiß, wie sie sich verhalten und wie sie eine geeignete Nähe herstellen soll. Nach dieser Szene sind alle gewonnen für ein aktives Arrangieren von Nähe, die sich von orientierenden Fragen leiten läßt. Einigkeit läßt sich auch leicht herstellen, daß Kranke, die seit längerem zur Passivität verurteilt sind, eine genaue Beobachtungsgabe entwickeln können, wie sich der Pfarrer verhält, und ob Sprache, Gestik und sonstiges Verhalten übereinstimmen; ob es überhaupt eine Stimmigkeit gibt, oder ob der Besuch ohnehin zu konventionellem Verhalten zwingt, das man sich hinterher vielleicht sogar übelnimmt. Man stoße auf viele Kranke, die, in der Kindheit mit schwierigen Eltern eingeübt, das seelsorgerliche Verhalten umkehren und sich um das Befinden des Pfarrers kümmern, nach seinen Sorgen fragen, ihn gar blaß oder angegriffen erleben. Kurz, sie verhalten sich "parentifiziert", wohl in der Annahme, daß der Besuch am Krankenbett, vor allem, wenn es nicht der Klinikseelsorger, sondern der Heimat- oder Gemeindepfarrer sei, eine besondere Anstrengung bedeute. Und die will man ihm erleichtern. Dann wird eben auch mal gekämpft um den ersten Platz der Seelsorge. Denn der Kranke in seiner Not und Passivität wolle auch wieder Initiative und Kompetenz zurückgewinnen. Die Seelsorgesituation am Krankenbett ist sehr offen: Man weiß nicht, was der Kranke erwartet oder befürchtet. Der Kranke weiß nicht, was der Pastor will oder bringt oder inszeniert. Wird er von Gott reden? Wird er einfach etwas abliefern wollen? Vermag er sich einzustellen? Wie viel Zeit hat er? Läßt sich die Ebene für ein offenes Gespräch finden? Wird es ein Tanz um die richtige Ebene? Oder gelingt ein wohltuendes, heilendes, solidarisches Schweigen, das nicht viele Worte und schon gar kein Verkündigungsziel braucht? Wird Beichte gewünscht? Geht es, bei Alten und Schwerkranken um Ängste vor dem Tod? Darf man sie ansprechen? Und zum Schluss, eine erstaunliche Erkenntnis: Wie geht man damit um, daß Sterbende manchmal nicht nur Trost brauchen, sondern noch Wut loswerden wollen, die jahrzentelang angestaut sein kann? Auch Wut auf die Kirche, gar auf Gott? Wie spürt man das und wie geht man damit um? Und was macht man mit der Frage: "Nimmt Gott mich an, trotz dieser Wut?" Hier gehen Seelsorge und Therapie ineinander über. Und manche Pfarrer wünschten sich, mehr Therapeut sein zu können, und anderen war darum zu tun, die Eigenwürde der Seelsorge gegenüber der Psychotherapie zu betonen. Da hatten wir kleine Streits auszufechten um deren und um meine Kompetenz, freundliche Streits, aber mit spürbarem Einsatz um die eigene, immer wieder unsichere Kompetenz. Denn das fiel mir auf, der ich mit einem gesicherten beruflichen Setting lebe, und in wie viel unvorhergesehenen Situationen und mit wie viel verschiedenen Menschen und institutionellen Zusammenhängen die Pastoren agieren müssen. Und immer wieder taucht aufs unvorhersehbarste die Frage nach dem Glauben auf. Es gibt nur Fragmente eines sicheren Settings, und oft hilft eben nur Routine und Intuition und Improvisation und vielleicht Gottvertrauen oder wenigstens ein Stoßgebet. Denn von der Geburt bis zum Tod ist ein langer Weg, und alle Stationen fallen in die Zuständigkeit und Kompetenz des Pastors. Sicherheit gibt es am ehesten, wenn die Erwartungen des Kranken klar sind: Lesung von Psalmen oder Gebet, also Umgang mit altvertrauten Texten, aus denen noch von Jugend her Zuversicht und Geborgenheit strömt. Manche fragen nach dem Glauben des Pastors. Manche, nicht sehr Fromme, zetteln ein Streitgespräch über die Kirche an. Wieder andere wollen noch vor dem anstehenden Ende, oder auch nur in aufwühlender Krankheit, Konflikte mit frühere Pastoren loswerden. Ich habe notiert: "Klagen über frühe Erlebnisse mit Pfarrern; spätere sogar als Grund für einen Kirchenaustritt; kirchliche Beziehungskisten und weit zurückliegende Enttäuschungen". Als Frage blieb: Wie kommt man dem Ziel am nächsten, größtmögliche Offenheit zu üben, auch dem Sterbenden gegenüber, oder dem Trauernden oder sogar auch Unruhigen im Koma? Es gibt Grade des Mutes oder der Scheu, am Krankenbett von Gott zu reden, Scheu, etwas Gelerntes,

Gewußtes, Erprobtes mitzubringen, ohne auf den oft stillen Wunsch zu achten, was aufgenommen und angenommen werden kann. Immer wieder ging es um den Glauben des Pfarrers und sein sicheres oder unsicheres Bild von Gott.

Die Gottesbilder waren sehr breit gestreut, so daß fast das Bild eines unberechenbar Kranken entstand, außer bei den wenigen, die aus Kindertagen einen freundlichen, zugewandten und verläßlichen Gott mitbrachten. Den andern war er mal gütig, mal zornig, stützend, verunsichernd, grausam, rachsüchtig, erlösend, zur Verschmelzung einladend. Manchmal spürbar, gegenwärtig oder verborgen, sich entziehend, rätselhaft, drohend, vielleicht sogar inexistent, persönlich und unpersönlich, heilend oder vergiftet, unbarmherzig oder milde, gewalttätig, ungerecht, tragend auch in der Verzweiflung, und weiter: unberechenbar, wankelmütig, gar heimtückisch, und dazu noch die vielen biblischen Aussagen, von dogmatisch bis jesuanisch, ein Gott der Liebe oder der Strafe. Das war beunruhigend. Wie soll oder darf man auswählen? Welche Bilder kann und darf oder soll man predigen? Sind dies alles Projektionen, und wie erkennt man das? Und was bleibt, wenn die Projektionen in sich zusammenfallen? Was wäre ein Gegengift gegen die Gottesvergiftung? Wie entsteht aus dem brodelnden Kessel der Bilder ein erträglicher Gott, den man sogar weitergeben kann?

Offene Rechnungen mit Gott

Große Bewegung entstand, als ich vorschlage, offene Rechnungen mit Gott zu klären in der direkten Auseinandersetzung mit ihm. Wir tagen im Saal eines alten Klostergebäudes mit großen gotischen Fenstern und riesigen, abstrakten Wandbildern an den Wänden. Es ist deutlich, daß die Begegnung mit Gott im direkten Gegenüber viel intimes Material mobilisieren wird. Deshalb wird verlangt, weil man sich vor mir nicht unbesehen exponieren will, daß ich etwas über meine religiöse Sozialisation berichte, was ich auch tue. So entsteht wieder Boden für eine gewisse Solidarität.

Die einzige Nicht-Theologin, sondern Pastoral-Assistentin, die in ihrer Gemeinde Gruppengespräche anbietet, meldet sich zuerst und gerät vor ihrem dunklen Gottesbild sofort in eine Wut, die sie kaum kontrollieren kann, und die sich sofort körperlich äußert: Sie wirft mehrere von den reichlich vorhandenen Kissen in seine Richtung und schreit: "So habe ich immer vor der Wand gestanden, es kam nie eine Antwort, nur immer Forderungen und Beschuldigungen." Sie ist in einer Pfarrersfamilie aufgewachsen. Gott war oberstes Erziehungsinstrument des Vaters, und die Devise lautete: "Brav sein, klein bleiben, nicht neugierig sein, gehorchen. So, wie der Vater das Christentum predigte, nämlich Güte, Milde und Verzeihen, so war er gar nicht, sondern streng, jähzornig und nachtragend." Und das hat sich auf Gott übertragen: Nicht der gepredigte Gott wurde in ihr lebendig, sondern das überdimensionale Abbild des Vaters, in dem sich alle lebensverneinenden Aspekte und negativ patriarchalischen Formen ballten.

Als ich ihr nach langem und berührendem Toben ein weibliches Mitglied zum Haltgeben vorschlage, weil ihr Gott ja ein vollkommen männlicher Gott sei, kommt eine noch tiefere Wut hoch über die Dominanz der Männer in ihrer Herkunftsfamilie; auch über die Vorrechte der Brüder und die patriarchalische Gewalt des Vaters, der der Mutter kaum Luft zum Gedeihen ließ. "Für die Frauen blieb: Dienen, unterdrückt leben, nicht expansiv sein, nicht an Selbstverwirklichung denken. Gott war der Rückhalt der Unterdrücker." Sie läßt sich dankbar berühren, sich Halt am Rücken geben, hat nur Angst, daß sie, da schweißgebadet, abstoßend sein könnte. Ich lasse die Halt gebende Frau zu ihr sagen: "Nach einem solchen Kampf mit Gott kann man schon einmal schweißgebadet sein, das macht nichts."

In der Nachbesprechung bekommt sie viel Zuspruch, Bewunderung, sogar Neid zu spüren über ihren Mut. Dann kommt die Sprache auch auf die mögliche Wut auf die Mutter, die diese gottesbestärkte Tyrannei zugelassen und sich nicht gewehrt und die Töchter nicht geschützt hat, vor allem auch nicht vor der erzwungenen Vorbildlichkeit der Pfarrerskinder. Die Inszenierung der direkten Begegnung vor der Gruppe bringt viel latentes Material aus der Beziehung zu Gott zum Vorschein, das im Gebet oft verborgen bleibt. Das körpertherapeutische Zur-Verfügung-Stellen von Halt gebenden Personen löst eine große Diskussion aus über Spontaneität und Intuition bei Berührungen. Es gibt viel Sehnsucht nach größerer Freiheit im körperlichen Umgang miteinander, möglicherweise auch in der Gemeinde. Aber: Wie lange würde die Gemeinde brauchen, um einen berührenden und berührbaren Pfarrer zu akzeptieren? Hat der Körper des Pfarrers überhaupt etwas in der Gemeinde zu suchen? Ist sein Körper ausschließlich privat, und wird er zu Recht unter dem Talar verborgen?

Der unbekannt gewordene Gott

Der nächste, der in den Ring geht, ist ein homosexueller Gemeindepfarrer, in auffallend heller Freizeitkleidung, man könnte fast sagen in Spielhosen. Er steht betont aufrecht vor einem dunklen, abstrakten Wandbild, das Leere, Düsterkeit und Abwesenheit auszudrücken scheint. Die Spielhosen passen zu seinem Gottesbild aus Kindheit und Pubertät: Gott war ein großes Kuscheltier, zu dem er sich vor seiner übergriffigen, unfrommen Familien retten konnte. Bei Gott wurde er nicht dauernd berührt und betatscht, sondern konnte sich geborgen fühlen. Auch für den Pubertierenden war Gott noch ein Retter vor der Familie, die er als Gefängnis erlebte. Aus seinen Worten spricht tiefe Dankbarkeit in der Rückschau auf diesen Gott. Sein Problem ist, daß dieser Kuschel- und Zufluchtsgott aus Kindheit und Jugend verloren gegangen ist. Zwar war Gott noch ein großer Freiraum, aber nicht mehr bergend und antwortend. So war er immer wieder verzweifelt, bis er spürte, er selbst müsse mitwachsen mit einem sich verändernden, aber noch unklaren Gottesbild. Er wandert gleichsam hin und her zwischen dem frühen Gott, dem noch unbekannten Gott der Erwachsenenzeit, und dem eigenen Selbst, dem er durch seine aufrechte Haltung Kontur zu geben versucht. Er stellt die Mutter in Form eines Stuhls mit Lehne neben das Gottesbild. Zwar bleibt ihre Rolle etwas unklar, aber Gott ist die Zuflucht vor ihr. Er spricht mit Gott aufrecht und gelassen, wenn auch mit verhaltenen Gefühlen der Enttäuschung. Auf meine Frage, ob Gott ihm auch geholfen habe beim Umgang mit seiner Homosexualität, leuchten seine Augen: In der Gemeinde sei die Sache sehr schwierig gewesen, aber Gott habe sich heimlich mit ihm gefreut, und das habe er als sehr hilfreich erlebt. Auf meine Frage, ob der Vater auch mit zum Bild gehöre, verdüstert sich sein Gesicht: die Frage mache ihm Angst. Aber schließlich erbittet er einen Hocker, den er neben die Mutter stellt, der aber kleiner ist als der Stuhl der Mutter. Es wird deutlich, daß der Vater nicht ausreichend präsent und schützend war, und daß eine große, ihn ängstigende Sehnsucht nach ihm erhalten geblieben ist. Der kleine Junge in ihm und der Pubertierende sind jetzt unübersehbar. Er seht plötzlich in einem leer wirkenden Raum, den er nicht füllen kann, und den auch Gott von sich aus nicht füllt. Sein Gottesbild hat etwas von der diffusen Sehnsucht nach einem Vater, der aber nicht antwortet. Auf meine Frage nach einem möglichen Helfer in seinen Konflikten spricht er von der Sehnsucht nach einem Lehrer oder einer fördernden Vaterfigur, die er aber noch nicht gefunden habe. In meinem Protokoll steht: "Therapie wäre dringend", ich weiß aber nicht mehr, ob dies mein Urteil ist, oder eine Aussage von ihm, oder beides. Denn er ist sich vollkommen klar, daß er nicht lebenslang Gemeinspastor bleiben will mit der Notwendigkeit der Verkündigung eines Gottes, den er nicht kennt. Sondern er sehnt sich eher nach einer ausschließlich seelsorgerlichen Rolle, oder nach etwas "noch Unbekanntem". Meine Frage, wohin er wachsen wolle, löst sowohl bei ihm wie bei einigen anderen große Bewegung aus: So hätten sie sich noch nie gefragt, nach Wachstum mit einer richtungsweisenden Zielvorstellung.

Der hilflose, schrumpfende Gott

Eine blonde, ansprechend gekleidete Pastorin meldet sich nach einer Mittagspause und sagt, sie habe einen Brief begonnen, den Gott an sie selbst geschrieben habe. Nach einigem Zögern ist sie bereit, als erste an den Platz Gottes vor dem abstraktesten der vier Wandbilder zu treten und zu ihr zu sprechen. Sie beginnt als Gott zu sich zu sprechen: "Du rufst nach mir im Gebet; du suchst mich: ich soll bei dir sein und dir beistehen; ich soll dir helfen und dich schützen, deine Kränkungen heilen und dir Mut machen. Aber all das kann ich nicht: Ich kann nicht eingreifen in dein Leben oder in die Welt. Ich bin nicht so mächtig wie du denkst, ich bitte dich um Verständnis dafür." Es ist ein Monolog der Abdankung, der Resignation Gottes, der sich fast ängstigt vor einem Übermaß an menschlichen Hoffnungen und Erwartungen. "Ich bin nicht so mächtig wie du denkst. Aber was ich kann: Dich begleiten; du kannst mir alles erzählen, was in dir vorgeht und was dich bewegt." Auffallend sind die sich verändernden Körperhaltungen, die sich spontan einstellen wie eine Begleitmusik zu ihren Sätzen. Zuerst hat "Gott" noch die Hände in die Hüften gestemmt, als wolle er Mut aus seiner Haltung beziehen. Aber dann geht der linke Arm zu rechten Hüfte, als wolle er den Körper schützen; dann sind die Unterarme leicht angehoben wie zu einer flehenden Gebärde, oder sie verschränken sich, wie um sich zu wappnen oder einen Angriff abzuwehren. Die Teilnehmerin spürt das, als ich sie aufmerksam mache, und meint, als Gott zu sich selbst: "Ja, ich muß mich schützen, vor was? Vor deinen riesigen Wünschen an mich." Sie geht dann auf ihren eigenen Platz im Angesicht Gottes und betont: "Ich bin traurig, wie schwach du bist, man hat mir ganz andere Dinge über dich erzählt, und ich habe sie geglaubt." Sie wirkt enttäuscht, ärgerlich, verlassen, einsam. Die Stimme ist schwach, doch zu sich selbst findend, und sie spricht voller Trauer und Resignation einen Abschiedsmonolog: "Ich muß mich trennen von dir. Große Teile von dir, die ich mit dir verbunden habe, gibt es gar nicht. Ich muß mit der Enttäuschung fertig werden. Ich weiß nicht, was von dir bleibt." Und in der Rolle Gottes sagt sie: "Ich kann dich doch nicht halten" (wobei unklar ist, bedeutet es Halt geben oder festhalten), "schon gar nicht körperlich, das mußt du bei den Menschen holen." Sie wirkt zerbrechlich, einsam, ein wenig haltlos. Aber als ihr körperlicher Halt angeboten wird, etwa den Arm um die Schultern zu legen, kann sie es nicht annehmen. Sie sitzt fast frierend, aber mit einem verzweifelt tapferen Gesicht in der Runde. In der Nachbesprechung lebhafte Bewegung über den "schrumpfenden Gott". Einer, mit einem strengen, fast grausamen Gottesbild, meint: "Der hat noch was auf der Pfanne, der ist doch strafend, vielleicht sogar hinterhältig. So einfach dankt der nicht ab.", und er spricht von ihm wie von einem unberechenbaren, alternden Tyrannen. Ein anderer sagt: "Ich habe mich gefühlt wie am Krankenbett von Gott. Der ist ja richtig hilfsbedürftig, und tun kann er überhaupt nichts." Aber sein "alternatives" Angebot, nämlich zuzuhören, wird doch als wertvoll empfunden: "Einer, der dableibt, zuhört, vielleicht Mut macht und bei der Verarbeitung von Problemen hilft." Bedrängend offen bleibt, wie man mit einem solchen Gottesbild in der Gemeinde umgehen kann: "Ich muß denen etwas anderes predigen als ich selbst glaube! Ich kann ja nicht einfach von meinem Glauben und meinem Gottesbild ausgehen. Die Gemeinde will vielleicht bestärkt werden im alten Glauben, gerade wenn Zweifel und Anfechtung bestehen. Sie will das Vertraute hören, gefestigt werden im Glauben, nicht Einübung im Unglauben oder im Zweifel." Das Thema ist so aufwühlend, daß sie immer wieder nach Kleingruppen verlangen, weil so sensible Themen in der Großgruppe noch zu bedrohlich sind. Ich schlage als Anregung vor, in einer Art Probepredigt einmal den Subtext des Zweifels mitzusprechen, als das individuell Wahre neben dem zu verkündenden "objektiv" Wahren. Einige spitzen zu einem Pfeifen des leisen Entsetzens den Mund. Ich sehe die meisten in die Kleingruppen gehen in Bewegung, Aufruhr, Zweifel, Anfechtung, aber doch mit dem Mut zur Erprobung dessen, was die mutige Pfarrerin in der Begegnung mit ihrem Gott erkundet hat.

Nachlese in Kleingruppen und Abschlußrunde

Wegen unterschiedlicher, ja widersprüchlicher Erwartungen aus verschiedenen Teil-Gruppen der Gemeinde erfordert die Pastorenrolle einen Balanceakt mit ungewissem Ausgang. Der Göttinger Dogmatiker Lüdemann spielt eine Rolle, weil ihm die akademische Lehrerlaubnis entzogen wurde, da er die leibliche Auferstehung Christi leugnet. Diese gelte auch in vielen Gemeinden als Essential, als unabdingbare Glaubensfrage. Es wurde gefragt, ob ein Frage- oder Dialoggottesdienst denkbar wäre, in dem alle heiklen Glaubensfragen angesprochen würden; ob das auszuhalten wäre, und was es bedeutete, wenn die Glaubensinhalte so schrumpften wie in der Inszenierung der Gottesbegegnung. Wie viele würden wegbleiben, mit den Füßen abstimmen? Aber man müsse ohnehin riskieren, daß ganze Gruppen wegblieben, weil der neue Pfarrer ihnen nicht gefalle. Dafür hätten in größeren Städten die Gemeindemitglieder ja die Auswahl zwischen verschiedenen Pastoren, und da gäbe es ganz verschiedene Auswahlkriterien, die wohl nicht ohne Ironie genannt wurden: Stimmklang, Diktion, Inhalt, Einfachheit oder Kompliziertheit, Erbaulichkeit, Trost Führung oder offenes Denkangebot, oder auch die Einbeziehung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in die Predigt, bis hin zu politischem Engagement. Man könne schließlich seine Kirche auch leer predigen; man dürfe auch kein "Elefant im Porzellanladen" sein oder die Leute dauernd verunsichern. Es setzte also eine Gegenbewegung ein, am deutlichsten mit dem Tenor: "Manchmal will ich mich auch auf das Vorgegebene verlassen; auf das, was ich gelernt habe, auch als Kind oder Jugendlicher, oder im Studium oder der Vikarszeit. Man kann nicht dauernd in einer Pioniersituation verharren." Die Pastoren ringen spürbar mit ihrer Rolle, auch was die Strukturierung der Arbeitszeit angeht: es gebe keine klare Zeit- und Aufgabeneinteilung, und zu den verschiedensten Arbeitsbereichen brauche man zum Teil völlig unterschiedliche Einstellungen. Vor allem beim Übergang von einem älteren zu einem jüngeren Pastor, nach dessen Pensionierung, sei es schwer, sich eine eigene Rolle zu zimmern. Am lautesten war das Stöhnen, als es um "geerbte" Gruppen geht wie Altennachmittage oder Müttergruppen. Dort bestünde oft ein ebenfalls ererbter Anspruch auf Anwesenheit des Pfarrers, und es brauche ein zuweilen als hart empfundenes Nein, um sich solchen Verpflichtungen zu entziehen. Der Pfarrer könne aber gerade an dieser Stelle korrumpierbar sein, weil er von Gruppen mit Älteren, auch von Müttern, deren Kinder aus dem Haus gegangen seien, die höchste Willkommensgratifikation erhalte; hier gebe es das intensivste Gefühl des Gebrauchwerdens und eindeutiger Dankbarkeit. Nicht immer sei man unempfindlich gegen dankbare Zuwendung, besonders in eher zweifelnden Zeiten. Aber man sei verloren, wenn man von allen gemocht sein wolle. Und dann kam die Rede noch auf die vielen festlichen Anlässe wie Taufen oder Hochzeiten, wo man vor lauter Lächeln nicht mehr wisse, wo einem die Gesichtszüge stünden; und dies selbst bei manchen Gottesdienstenden, wo alle am Ausgang der Kirche persönlich verabschiedet werden wollen, eben mit einem Lächeln und einem freundlichen Wort, auch wenn man am liebsten nur noch fliehen oder wütend herumschreien möchte. Dies galt dem "Fassadenanteil" des Berufs und dem starken Rollenzwang; und doch gab es wieder Dankbarkeit gegenüber einem Getragensein durch die Rolle. Hochgradige Ambivalenz würde man das nennen, und das Ertragen von Ambivalenz wiederum als Zeichen einer anstrengenden Reife, über die im Kreise Gleichgesinnter einmal zu stöhnen Erleichterung brachte. Neu war ihnen die Entdeckung von Gott durch die szenische Identifikation mit ihm. Mehrere nahmen sich vor, einen Brief Gottes an sich selbst zu schreiben oder Gott schriftlich eine Predigt an die Gemeinde halten zu lassen. Experimentierfreude war geweckt, aber auch eine gewisse Ängstlichkeit, wie die Rückkehr in die Gemeinde sich gestalten würde. Einer sagte, er gehe in "heiliger Unruhe" zurück an seinen Arbeitsplatz. Andere meinten, sie seien gespannt, wie sie wieder mit der Gemeinde zurecht kämen. "Wofür habe ich Gott für zuständig gehalten während meines Lebens, und wofür halte ich mich dauernd zuständig im meinem Amt? Wenn Gott laufend Zuständigkeiten abgibt, darf ich das auch?" Gegen Ende bekannte eine Teilnehmerin, sie habe in einem einsamen Raum während des Gebets plötzlich angefangen, Gott anzuschreien, und hinter Gott seien im Schreien auf einmal Menschen aufgetaucht, mit denen sie dies bisher nie gewagt habe, obwohl es eigentlich längst fällig sei.

Der Lästerabend

Eine Reihe von Teilnehmern kannte sich von anderen Pastorentreffen und beruflichen Fortbildungen. Deshalb sagten sie mir, als ich beim Abschiedsabend über die Schärfe ihrer Zungen staunte, dies habe Tradition und werde gelegentlich der Lästerabend genannt. Es ging stundenlang so massiv, auch giftig, ironisch, karikierend, spottend, bitter zu, daß ich meinte, es brauche vielleicht ein eigenes Sakrament, eben das Lästersakrament, weil sein Gehalt sozusagen fester Bestandteil des Pastorenamtes zu sein schien. Ja, meinten sie, dieses Ventil sei absolut notwendig; vieles sei am nächsten Tag auch wieder vergessen, und man könne auch sicher sein, daß nichts hinausgetragen werden, da sonst massive Kränkungen die Folge wären. Die Reihe der Gegner für das Lästern: die Kirchenleitung, der Pfarrkonvent, Kollegen im Pfarramt, Mitglieder des Kirchengemeinderats oder der Verwaltung. Der Pfarrkonvent, in dem sich die "lieben Brüder und Schwestern" regelmäßig treffen, erwies sich in den Sinnsprüchen, die oft schallendes Gelächter nach sich zogen, als Vorstufe zur Hölle. Es lösten die Witze einander ab über Begegnungen mit ungeliebten Kollegen in der Hölle oder im Himmel, wobei der Himmel nur als erträglich vorgestellt wird, wenn andere in die Hölle kommen, oder umgekehrt: die Hölle könne vorgezogen werden, wenn jene tatsächlich frömmer wären und den Himmel bevölkerten. Selbstkritisch, wie der Pastorenhaufen war, neigten sie eher zu Annahme, daß sie sich in der Hölle wiederfänden.

Fast schwappte das "Lästersakrament" hinweg über die fünf anstrengenen und fruchtbaren Tage. Aber sie waren sich einig, daß sie dieses Ventil bräuchten, um mit dem Ausmaß ihrer Offenheit während der Woche zurechtzukommen. Und sie wollten einmal nicht Vorbild sein und dauernd darüber nachdenken, wie sie auf ihre Gemeinde wirkten oder auf ihre Nachbarn, die die meisten von ihnen in ihren Pfarrhäusern hatten. Es war eine Gegenreaktion gegen die verordnete Friedfertigkeit und das immerfort ihnen abverlangt Verstehen. Einmal nicht verstehen, sondern mit aufgesparter Bosheit über die Stränge schlagen., so erschien ihr beißender Übermut, und ich spürte, wie ich antike Reste meines Pfarrerbildes zu korrigieren hatte. Und so viel ungezügelte Frechheit hätte ich mir vielleicht gelegentlich am Familientisch gewünscht, aber dort ging es pastoraler zu als bei dieser Gruppe. Meinen beiden Großväterpastoren hätte ich an jenem Abend gerne zugezwinkert, aber sie drehten sich nicht im Grabe nach mir herum und waren meiner auch gar nicht ansichtig.

Psychotherapie und Andacht

Über heilsame und krankmachende Religion

Meine Damen und Herrn,

Sie werden verstehen, daß ich als Psychotherapeut eher von den bedrohlichen kindlichen Gottesbildern spreche. Alle neueren Untersuchungen sprechen dafür, daß ein freundlicher Gott, ein zuversichtlicher Glaube zu den besten psychohygienischen Medikamenten zählen. Mit schwer erträglichen Gottesbildern habe ich es viel mehr zu tun als mit schützenden und zum Leben ermutigenden. Und wer mein Büchlein "Gottesvergiftung" kennt, weiß, daß ich selbst meine frühe Gotteserfahrung als Krankheit bezeichnet habe, von der ich nur langsam genesen bin. Mir ist nach dem unerträglichen kein erträglicher Gott zugewachsen. Mit der Gotteskrankheit ist auch Gott verschwunden. Vielleicht bin ich deshalb so vorsichtig, wenn ich an der Milderung eines bedrückenden Gottesbildes arbeite.

Um in unser Thema einzuführen, vorweg ein paar Zitate, die uns mit bedrohlichen Formen von Religion vertraut machen:

Martin Walser schreibt in seinem autobiographischen Roman "Ein springender Brunnen" über die Zeit seines Kommunionunterrichts und die Qualen und Unberechenbarkeiten seiner religiösen Gewissensbildung nach einem Erlebnis von Selbstbefriedigung:

"Jetzt war`s eine Sünde. Todsünde. Er durfte nicht der sein, der das getan hatte. Er war der, der sich von dem, der das getan hatte, trennen wollte. Für immer. Er war der, dem das zugefügt worden war. Ihm zugefügt hatte. Und weil er nicht loskam von dem, der das getan hatte, wußte er, daß er noch nie so hatte leiden müssen.....(205)...Also mit einer Todsünde zur ersten Kommunion. Daß eine gegen das sechste Gebot begangene Sünde eine Todsünde ist, weiß jeder. Also keine der kleinen läßlichen Nebensünden, die vom Himmel mit zeitlichen Strafen belegt werden, die man sogar ohne Mitwirkung eines Priesters durch bloßes Bereuen und Beten loswerden kann, sondern eine Todsünde, auf die, wenn er, zum Beispiel, jetzt stürbe, sofort die ewige Verdammnis folgte. Ja, die Sünde gegen das sechste Gebot war sogar die Haupttodsünde überhaupt. Schlimmer als diese Haupttodsünde war nur noch, wenn man, von dieser Sünde befleckt, zur Kommunion ging. Und das tat er. Würde er jetzt tun. Wenn nicht ein Blitzschlag, ein Erdbeben, eine sich auftuende Erde ihn an diesem Frevel hinderte." (212)

Es scheint, daß der bedrohliche Begriff der Sünde und des Verworfenseins den Schriftsteller Walser relativ spät erwischt hat, so daß er sich von einer allzu drückenden Sündenlast im Lauf seines Lebens wieder befreien konnte. Es fällt auch auf, daß von einem Gottesbild zunächst gar nicht die Rede ist, sondern von einem Gesetz, wie es vom Priester durch die Auslegung des Katechismus indoktriniert wird. Das Sünde-Gefühl entsteht also nicht unmittelbar aus einer bedrohlichen persönlichen Gottesbeziehung, sondern aus Übertretungen von Geboten, die Gesetzestexten gleichen, mit darauf folgenden Strafvorschriften. Ich spreche also hier von einer gewissen Trennung von Gottesbild und Sündendefinitionen. Deshalb wird mir auch verständlicher, warum ich die katholischen Mitschüler zur Zeit ihres Kommunionsunterrichts beneidet habe: Für sie gab es eine berechenbare Entsprechung zwischen Verfehlung, Bußgebet und Reue. Seit ich allerdings einige katholische Patienten durch die Abgründe ihres Sündegefühls begleitet habe, glaube ich nicht mehr an allzu große Unterschiede im Gefühl von Verworfensein. Es handelt sich allenfalls um Unterschiede in der Orchestrierung der Qualen, wenn die Dimension des Verworfenseins sich erst einmal aufgetan hat.

Schon bald am Anfang seiner Bekenntnisse, geschrieben um das Jahr vierhundert nach Christus, vollzieht der Kirchenvater Augustinus den Schritt, der in der Geschichte des Abendlandes das Verworfensein sozusagen institutionalisiert und in der Moraltheologie verankert hat, indem er es als Erbsünde schon in Zeugung und Geburt zurückverlagert. Er schreibt im ersten Buch in dem Abschnitt mit der Überschrift "Das kleinste Kind ist sündig": "Wer zeigt sie mir, die Sünden meiner Kindertage? Ist doch niemand vor dir vor Sünde rein, auch kein Kindlein, das nicht älter ist als einen Tag.....Nein, schwach und darum unschuldig sind nur die kindlichen Glieder, nicht des Kindes Seele." (38/39).Und wenig später heißt es im Abschnitt über die "Jugendlichen Verirrungen" zu einem Birnendiebstal:

"Denn ich stahl, was ich selbst im Überfluß ....besaß, wollte das gestohlene Gut auch nicht etwa genießen. Sondern den Diebstahl selbst und die Sünde wollte ich genießen.Tief in der Nacht, die wir bis dahin nach übler Sitte auf den Straßen spielend zugebracht, machten wir bösen Buben uns daran, den Baum zu schütteln und zu plündern..... Was uns reizte, war nur dies, daß es verboten war. Sieh mein Herz an, o Gott, sieh mein Herz! In Abgrundtiefe lag es, und doch hast du dich sein erbarmt. Sieh, nun soll dies mein Herz dir sagen, worauf ich eigentlich aus war, so für nichts und wieder nichts böse zu sein, wo es doch für meine Bosheit keinen anderen Grund gab als die Bosheit selbst." (62)

Hier wird deutlich, wie unausweichlich von nun an das Gewissen zwischen Verworfensein und erflehter Gnade taumelt. Der innere Gerichtshof ist installiert, die Selbstverdächtigung wird zum Dauerthema. Die Möglichkeit zur Selbstannahme wird aus dem Menschen hinaus verlegt, weil er für immer unerfüllbaren Geboten ausgesetzt ist.

Die Möglichkeit, sich abgrundtief schlecht zu fühlen, ist in jedem Menschen angelegt. Sie kann aus unerträglichen Schmerzen, also aus einem Trauma stammen; aus Äußerungen der Eltern, oder aus der theologischen Überhöhung von Verfehlungen, die dann die religiöse Dimension der Verworfenseins mit sich bringen.

Die Tiefenpsychologen verschiedener Schulen haben die Gottesbilder als Projektionen der kindlichen Ängste und Wünsche weg von den Eltern hin zu einer mächtigeren, schützenden, aber auch bedrohlicheren Gestalt gedeutet. War es bei Sigmund Freud noch die Macht des Vaters, die das Vorbild für die Macht Gottes abgab, so hat sich, mit der zunehmenden Erforschung der Austauschprozesse zwischen Mutter und Kind, die Projektion sozusagen rückverlagert und schöpft nun aus dem Fundus der frühesten Zeiten, nämlich der schützenden und der verschlingenden oder mit dem Tode bedrohenden Mutter. Der katholische Religionspädagoge und Psychotherapeut Helmut Jaschke faßt diese Entwicklung sehr schön zusammen in seinem Buch "Dunkle Gottesbilder":

"Denn das kleine Kind fühlt sich mit der Mutter verbunden, nicht nur geborgen, geschützt und genährt, sondern es erlebt sie wohl auch schon ganz früh als furchtbar. Dann nämlich, wenn sich das Kind von ihr verlassen fühlt oder abweisende Reaktionen bei ihr durch sein Verhalten wachruft. Wenn zum Beispiel ein Baby der Mutter während des Stillens weh tut und diese in einer plötzlichen Abwehrreaktion das Kind wegstößt, dann erlebt das Baby dieses Verhalten vermutlich als vernichtende Ablehnung. Es versteht ja nicht, was geschehen ist. Es erlebt sich als böse und fühlt sich schuldig. Freilich fühlt das Kind dies noch nicht als ein seelisches Geschehen, das zwischen Personen, also innerhalb einer Beziehung abläuft. (Dies möchte ich allerdings bezweifeln, T. M.) Wir müssen annehmen, daß es vielmehr ein das Kind überschwemmendes Katastrophengefühl ist, in dem es sich als verlassen und verworfen empfindet. Dieses Gefühl ist ja einfach die Kehrseite der absoluten Angewiesenheit auf die Mutter und des damit verbundenen Sich-ganz-aufgehoben-Wissens. `Himmel` und `Hölle` sind also lange vor jeder religiösen Unterweisung Grunderfahrungen des Menschen."(23)

Damit sind wir bei dem wichtigen Gedanken, daß religiöse Ausgestaltungen von Schutz oder Verworfensein, von Geborgenheit oder Bedrohung, bereits Überarbeitungen früherer Erfahrungen sind, oder sein können. Jedes Kind ist empfänglich dafür. Denn viele Erlebnisse und Gefühle, über die es oft nicht sprechen kann, finden durch die vereinfachte moralische Sündentheologie eine Interpretation, die den Gewissensinhalt prägt. Das bedeutet einerseits sogar eine gewisse Verselbständigung gegenüber dem moralischen Deutungsrahmen, den die Eltern geben. Andererseits bringt es natürlich eine Gefahr für die Kinder, die das Gefühl der Hölle, des Verworfenseins oder der Folter bereits in sich tragen. Jaschke betont beides, den emanzipativen Aspekt des religiösen Gewissens, wie seine Bedrohung, wenn als Instanz der christliche Richtergott sich im Innern des Kindes installiert. So heißt es bei Jaschke weiter:

"Indem das Kind eine innere Elterninstanz aufrichtet und auf Gott projiziert, tut es einen ersten Schritt in diese Richtung, von äußeren Autoritäten unabhängig zu werden und sein Gewissen

zu entfalten. Gott als Richter muß und wird also solange das entscheidende Bild von GOTT sein, als der Mensch seine Selbstbejahung und Daseinsberechtigung von seinem moralischen Gutsein abhängig macht. Erst wenn er sich unabhängig davon angenommen und geliebt weiß, kann er auch ein anderes Gottesbild in sich einlassen. Das Kind aber - und wie viele Menschen bleiben dieses Kind ein Leben lang! - ist noch ganz damit beschäftigt, durch Gutseinwollen sein Lebensrecht zu beweisen."(36)

Der langjährige katholische Seelsorger und spätere Familientherapeut Lorenz Zellner nennt sein Buch über seine eigenen religiösen Erfahrungen und seinen therapeutischen Umgang mit religiös bedingten oder durchtränkten Störungen mit einem Wort "Gottestherapie". Was ist damit gemeint? Nach seiner Erfahrung ist das Bild Gottes in vielen Menschen erkrankt, sie leben mit einem kranken Gott in ihrer Seele, der geheilt werden muß: "Ich behaupte: Was in vielen Seelen lebt und Gott genannt wird, ist vielfach eine abnorme Erscheinung. Gott zeigt sich als pathologischer Fall. Er trägt unleugbar pathologische Züge. Und mit dem Gott der Theologie verhält es sich ähnlich.....Die menschliche Seele ist auf vielfache Weise in Gefahr, an Gott zu erkranken. Besonders gefährdet sind Menschen, deren seelisch-geistige Grundstruktur bereits verletzt ist, so daß unheilvolle Verstrickungen und Verquickungen entstehen." Und nun folgt ein kleiner Abschnitt, der bereits auf die Schwierigkeiten einer Therapie eines solchen kranken Gottes im Menschen hinweist:

"Das Wissen über einen Gott, der krank ist und krank macht, wird immer mehr, aber der Zugang zum Patienten Gott ist fast unmöglich. Der Kranke ist gut bewacht. Die Erkenntnisse über die Ursprünge religiöser Neurosen werden ebenfalls immer deutlicher, aber auch die religiös erkrankten Menschen sind schwer zugänglich. Gott und Menschen sitzen in einem Gefängnis. Gott und Menschen erscheinen gefesselt." (60)

Dies ist auch meine Erfahrung. Das bedrohliche Gottesbild ist für das Kind im Patienten im Unbewußten so riesig geblieben, daß der Therapeut sich oft vorkommt wie ein kleiner Eindringling mit unlauteren Absichten. Die Wächter des kranken Gottes melden früh die Gefahr, und der Patient schützt sich mit Erstarrung oder mit Verachtung des Therapeuten oder mit tiefem Verdacht, er wolle ihm das Heiligste nehmen, das er besitzt, selbst wenn dieses Heiligste ein quälender Tyrann ist. Denn die Menschen partizipieren doch noch an der Macht dessen, der sie tyrannisiert, sie fühlen sich oft auserwählt zum Leiden, ja, bei großem Leid gibt es tief unbewußte Identifikationen mit dem gemarterten Christus; und weil dies eine tröstliche heimliche Größenphantasie ist, wird sie wie ein giftiger Schatz gehütet. Wenn das Leiden an der eigenen Schlechtigkeit durch die Verurteilung durch Gott als ein Zeichen seiner Zuwendung erst einmal installiert ist, ist der Zugang schwierig.

Ich zitiere noch einmal Lorenz Zellner, der über langjährige Erfahrungen im Umgang mit solchen Störungen verfügt. Er schreibt über Widerstand und Abwehr gegenüber einer therapeutischen Besserung:

"Sie hängen gewöhnlich mit der Fesselung an ein bestimmtes negatives Selbstbild zusammen, mit der Fesselung an eine gewisse Unmündigkeit, an eine unbewußte innere Ambivalenz oder an tiefe Ängste etwa vor Ich-Bedrohung und Ich-Verlust.

Widerstand und Abwehr speisen sich oft aus einer vorausgegangenen Entmündigung. ...Im Bezug auf solche Gottesbilder fragen dann solche Menschen aufgeregt: `Ja, darf man darüber überhaupt nachdenken?" (155) Die innere Szene ist als zusätzliche durch ein Denk- und Fühlverbot geschützt.

Das Thema "Religion und Psychotherapie" ist so riesig, daß ich gleich die Einschränkung aufzeige, mit der ich herangehe. Mein Feld der Erfahrung im Beruf sind die Folgen einer teils beim Überleben hilfreichen, teils aber auch krank machenden Religiosität in den Seelen der Patienten; daraus ergibt sich die weitere Frage: Wie kann ich als Therapeut helfen, zum Beispiel, wenn ein düsteres Gottesbild das Lebensskript tief beeinträchtigt.

Intellektuelle Menschen, vor allem im frühen und mittleren Erwachsenenalter, neigen dazu, den Gott ihrer Kindheit und Jugend einfach zu vergessen, und mit ihm ihre sogenannte religiöse Sozialisation, also die Summe der Erfahrungen in Elternhaus, Schule, Religions-, Kommunions- oder Konfirmationsunterricht. Sie wollen es, in einer aufgeklärten und oft areligiösen Zeit, gar nicht mehr wahrhaben, daß sie einmal gläubig, hoffnungsvoll, furchtsam waren im Gebet, sei es im rituell vorgegebenen, sei es im privaten, heimlichen Gebet vor dem Einschlafen oder in Zuständen der unruhigen Schlaflosigkeit. Es gilt heute fast als beschämend, sich einmal tief und unsicher, oder auch geborgen von Gott abhängig gefühlt zu haben. Andererseits ist die ekklesiogene, also durch kirchlichen Glauben erzeugte Neurose ein seit Jahrzehnten bestehender Begriff, und sogar die Kirchen selbst stellen heute Psychotherapeuten für ihren Priesternachwuchs wie für amtierende Priester und Pfarrer an. Sie wollen nicht, daß Neurose, Glauben und Verkündigung oder Seelsorge sich negativ beeinflussen.

Manche Patienten schütteln fast mitleidig den Kopf, wenn ich nach einer religiösen Vorgeschichte frage: sie verdächtigen mich, ich hätte wieder einmal ein neues Forschungsthema oder sei noch immer mit meiner unglücklichen Gottesgeschichte beschäftigt. Doch nach ein paar Wochen oder Monaten stellt sich dann heraus, daß sie ein paar Jahre lang Ministrant waren, daß ein Onkel Priester oder Pfarrer und eine Tante Nonne oder Diakonisse sind, oder daß die eigene Mutter von einer Laufbahn in der Mission träumte oder der Vater vor dem Chemiestudium drei Semester an einer theologischen Fakultät studierte.

Oder es stellt sich heraus, daß in der Pubertät intensive Verhandlungen mit Gott stattfanden über eine Berufung zur Heiligkeit, oder daß es kindliche Gelübde gab, wenn Gott vor einem drohenden Übel befreite, oder daß der frühe Tod eines Freundes plötzlich eine längst vergessene Höllenangst zum Vorschein brachte, und selbst der Erwachsene unsicher wird, ob es das Verworfensein von und vor Gott nicht doch geben könnte.

Man könnte es geradezu als tückisch bezeichnen, daß frühe Gottesbilder tief ins Unbewußte absinken und von dort aus eine nicht kontrollierbare Wirkung ausüben. Das gleiche gilt natürlich auch für kindliche Gottesbilder, die einen Fundus des

Guten, Ermutigenden bilden. Ihre unbewußte Strahlkraft ist dann ein großes Geschenk, sie wird spürbar als Glauben an das Leben und als ein nur schwer erschütterbarer Optimismus.

Die schlimmen Bilder gleichen einer Art zerstörerischer radioaktiver Strahlung, die dauernd signalisiert: Du bist nichts wert, du hast versagt, du schaffst es nie, dich kann man nicht lieben, du bist nicht zu retten, du findest keine Gnade, du bist ein Sünder, du bist verdammt oder verworfen, du kommst in die Hölle, du bist schuld, usw. Wie kann man das therapeutisch angehen?

Die meisten Therapeuten, die mit religiösen Störungen umgehen, nutzen die Möglichkeiten des Rollenspiels. Dies ermöglicht, um einen wichtigen therpeutischen Begriff zu gebrauchen, die Externalisierung von religiösen Inhalten, aber auch von Gottesbildern. Externalisieren bedeutet: nach außen stellen, also etwas im Inneren Verborgenes sichtbar zu machen, indem man ihm außen eine symbolische Präsenz gibt. Man setzt Gott auf den in der Gestalttherapie sogenannten "leeren Stuhl". Die inneren Stimmen und Gestalten erhalten Sichtbarkeit und Stimme. Doch noch einmal zu den Widerständen gegen eine Veränderung des Gottesbildes. Jaschke schreibt:

"Wenn solche selbstquälerischen Vorwürfe den nächsten Schritt, Gott anders zu denken, blockieren, dann steht eine längere Auseinandersetzung mit dem Richtergott an, die zum Ziel hat, die `Götzenhaftigkeit` dieser inneren Instanz deutlicher zu fassen. Meist zeigt sich dann nach und nach, daß dieses Gottesbild stark von den negativen Aspekten der verinnerlichten Elterngestalten geprägt ist und das Neudenken Gottes deswegen unmöglich ist, weil die Eltern noch einen zu starken Einfluß ausüben." (92) Diese inneren Elternbilder können es auch verbieten, am indoktrinierten Gott zu zweifeln oder gar das von den Eltern Vermittelte anzugreifen oder aber hinter die Charaktereigenschaften oder Erziehungs-Prinzipien der Eltern zu schauen. Aber umso wichtiger wird das Externalisieren.

Denn im Externalisieren wird ein Teil der Vorgänge sichtbar, etwas das pädagogische Benutzen eines strengen Gottes durch die Eltern, etwa eines Gottes, der angeblich alles sieht. Die Konfrontation mit einem solchen Gott kann enorme Angst machen, und ich habe es als hilfreich erlebt, dem Patienten symbolische Schutzmauern zu bieten, die ihn vor dem Zorn der Eltern oder dem Zorn Gottes bewahren. In einer späteren Phase schlage ich sogar vor, daß die Patienten in die Rolle Gottes gehen, der auf ihre Qual, Sündhaftigkeit und ihr Verdammungsgefühl schaut. Das erstaunliche ist, das sie es in der Rolle Gottes kaum fassen können, welche Strenge, Unbarmherzigkeit und manchmal sadistische Bereitschaft zum Quälen ihm zugschrieben wird. Es kommt zu einer Trennung von Gottesbildern, von Eltern, Pfarrern und verquälten Ausgestaltungen dessen, was aus verschiedenen Quellen von Unterweisung zusammengekommen ist, um religiöse Angst zu machen. Es ist ein bewegender Moment, wenn der Patient in der Rolle Gottes Partei für den armen Sünder zu ergreifen beginnt und ihm sagt: "So habe ich das nicht gemeint, da sind dir schlimme Dinge über mich erzählt worden, ich bitte dich, mache mir nicht Kummer, indem du angeblich um meinetwillen so leidest. Es ist genug gelitten; du brauchst keine unerfüllbaren Gebote einzuhalten. Ich habe dich nicht geschaffen, damit du verdammt wirst; ich bin ein freundlicher Gott." usw. mit entsprechenden Antworten des leidenden Menschen. Dieser Dialog läßt sich durch wiederholten Rollenwechsel vertiefen.

Die Leidensidentität kann sehr tief sein, ebenso das Gefühl, einer tiefen Täuschung über Gott erlegen zu sein, deren Ausmaß und lange Dauer manchmal eine erschreckende Lebensbilanz bilden. Die Eltern können in die Verhandlungsszene einbezogen werden, wenn sie die Urheber des bedrohlichen Gottesbildes waren. Es ist vielleicht außerdem möglich aufzuzeigen, daß das Gottesbild eine Überformung eines frühen Unglücks war, eine sinnstiftende, wenn auch entsetzliche Interpretation von frühem Kummer oder einer Traumatisierung oder von unbewußten Schuldgefühlen aufgrund von kleinen kindlichen Delikten.

Schwer ist auch der Abschied von der Vorstellung, Gott habe etwas besonderes vorgehabt mit dem Patienten. Denn dann ist das Leid gerechtfertigt worden als Zeichen oder Vorbote einer Erwählung, eines besonderen Auftrags, einer höheren Sinngebung. Geht man hier allzu schnell vor, dann steht der Patient plötzlich vor einen unerträglichen Sinnverlust. Viel wichtiger ist es - auch wenn es angesichts eines manchmal grotesken Erwähltheitsgefühls schwer fällt - diese seelische Schmerzfigur zu würdigen als eine Möglichkeit, viel Leid zu erleben und zu überleben. Das Leben wird sehr viel nüchterner ohne diesen gigantischen Vertrag der Sinngebung, vor allem aber wird es auch realer und die Möglichkeit wächst, Ausschau zu halten nach den konkreten Lebenschancen.

Ich komme zu den positiveren Möglichkeiten eines erhalten gebliebenen kindlichen Glaubens, der weniger mit sichtbaren Gottesbildern zusammenhängt als mit der Fähigkeit zur Andacht, die nicht unbedingt einen sehr persönlichen Gott voraussetzt.

Wir wissen noch wenig über die entwicklungsgeschichtliche Entstehung und Bedeutung von Andacht, aber so viel scheint klar, daß schon die ersten beiden Lebensjahre einen Höhepunkt der sichtbaren und spürbaren Ausformung bedeutet. Mit dieser Formulierung verweise ich zugleich darauf, daß es mir wahrscheinlich scheint, daß leib-seelische Vorformen von Andacht bereits intrauterin angelegt sind; daß die Geburt im Falle katastrophaler Zuspitzungen ihres Verlaufs möglicherweise die Bahnung von "negativer Andacht" einleitet, also die Bereitschaft oder der Zwang, sich von Schreckensvisionen angezogen zu fühlen. Gemeint ist damit alles, was mit der Herrschaft von Angst, Panik und Terror zusammenhängt, hinter denen dämonische Gewalten vermutet oder phantasiert werden. Die familiäre, soziale und geschichtliche Realität wird dann auf der Ebene des frühen Schreckens gedeutet, der aber ebenso illusionäre Erlösungshoffnungen zuläßt. Alle diktatorischen Regime tragen beständig das verräterische Wort von der politischen Neugeburt im Munde.

Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Andacht, dem Erleben eines eigenen Selbst oder dem, was die Säuglingsforscher das Kern-Selbst nennen, und der Wahrnehmung einer nicht zum Selbst gehörigen Außenwelt, sei es die Mutter oder die Natur. Daniel Stern hat eine solche Andachtssituation eines Kleinkindes unnachahmlich in Worte gefaßt, als er in dem Buch "Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt." (München 1990) dessen Faszination angesichts eines Sonnenkringels an der Wand poetisch nachzeichnet. Hier ein kleiner Ausschnitt aus dieser feierlichen Morgenandacht unter der Überschrift "Sonnenstrahl - 7.05 Uhr morgens", die Stern tief in die ersten Lebensmonate legt:

"Joey ist gerade aufgewacht. Er blickt unverwandt auf den Reflex des Sonnenstrahls an der Wand neben seinem Kinderbett.

Ein Stück Raum leuchtet dort drüben.

Ein sanfter Magnet zieht an und hält fest.

Der Raum erwärmt sich und wird lebendig.

In seinem Innern beginnen Kräfte sich langsam tanzend umeinander zu drehen.

Der Tanz kommt näher und näher.

Alles steigt auf, ihm zu begegnen.

Er kommt immer näher. Aber er kommt nie an.

Die Spannung verebbt."

Ohne Zweifel handelt es sich hier um ein Erlebnis, das wir als religiös bezeichnen dürfen. Natürlich ist es wichtig, daß ein solcher langer Augenblick der Andacht in relativer Geborgenheit stattfindet. Dann kann er verknüpft werden mit der Macht der Mutter und ihrer Fähigkeit, später auf Transzendenz zu verweisen.

Wird ein solcher Augenblick in seelischem Schmerz erlebt, so bahnt er den Weg zu kompensatorischer, neurotischer Frömmigkeit, zu einer Erlösungshoffnung außerhalb der menschlichen Solidarität, und verbunden mit einem unerträglichen Gott.

Wie bei allen frühen Affekten positiver oder negativer Andacht handelt es sich um Zustände, bei denen seelisches und leibliches Erleben eng verschlungen sind. Eine entfaltete Andacht ohne körperliche Signale scheint mir undenkbar: man spricht nicht umsonst vom Schauer, vom Überrieselt-Werden, von einem herausgehobenen Gefühl, das Ganzheit erzeugt. Es scheint mir sogar wahrscheinlich, daß Beimengungen von Andacht in jedem starken Gefühl mit enthalten sind, weil Gefühl und Selbsterleben in Verbindung mit etwas Drittem eng verknüpft sind. Das würde bedeuten, daß sowohl im Schrecken wie in der Lust Momente von Andacht enthalten sind, allein durch die Stärke des Gefühls. Anders wäre auch nicht zu erklären, daß sowohl Schrecken wie Geborgenheit, Panik und Freude zum Zentrum von Religionen oder extremen politischen Systemen werden können.

Religiosität muß entstehen v o r einer allzu großen Dominanz des Realitätsprinzip, ja auch vor der Dominanz der Sprache. Denn obwohl Andacht sprachlich faßbar sein kann, scheint sie doch im wesentlichen verknüpft mit frühen Erlebnissen, die sich später in Symbolen und Ritualen konkretisieren oder von ihnen getragen oder durch sie wieder abgerufen werden. Deshalb spreche ich von dem Gefühl eines "feierlichen Zusammenhangs", der das Wesen der Andacht ausmacht, und der am leichtesten durch starke Bilder, Musik oder andere sinnliche Eindrücke ausgedrückt wird. Erst später wird eine Summe erhebender oder bedrohlicher Erlebnisse unter dem Ausdruck Gott zusammen gefaßt. An diesem Punkt wird aber auch verständlich, daß ein Gott der Sünde oder der Schuld geradezu zum Zerstörer von heilsamer Andacht und Spiritualität werden muß, sofern er nicht in einer masochistischen Mystik des Leidens erlebt wird. Es ist sicher nicht falsch zu vermuten, daß in dem christlichen Andachtsbild des Gekreuzigten neben aller Erlösungshoffnung, die der Anblick wecken soll, eben auch eine intensive Neurotisierung nahe liegt, weil das Leiden zum Zentrum des Erlebens gemacht wird.

Wenn der Erlebnishintergrund der relativen Geborgenheit beim kleinen Kind Voraussetzung zu positiver Andacht ist, meine ich, daß es eine Ur-Person für die Entstehung von Andacht für das Kind gibt, nämlich die ausreichend gute Mutter.

Im schlimmen Fall aber muß sich das Kind eine kompensatorische Andachtswelt suchen: dann nämlich, wenn das Erleben mit der Mutter so negativ getönt ist, daß sich zu wenig an ihr dafür eignet, als bergend, heilsam oder heilig symbolisiert und später transzendiert zu werden. Immerhin scheint es so, daß im Katholizismus auch bei relativ schlimmen Erfahrungen ein Zugang offen bleibt zur Mutter Gottes als einer idealisierbaren Schutzfigur.

Sowohl die Kirchen wie die totalitären Regime wollen, im Wissen um die frühe Fundierung von Andacht und Glauben, deshalb das Kind sehr früh erreichen, um seine Fähigkeit zur Andacht, und nicht nur seine wortorientierte Gläubigkeit noch in Besitz zu nehmen. Ist dies gelungen, so sind durch den Grad der ideologischen wie der Großgruppenbindung alle Verbrechen gegen Andersgläubige mit gutem Gewissen denkbar, weil man sozusagen psychosomatisch zur richtigen Gruppe gehört.

Mißbrauchte Andacht oder mißbrauchter Glauben stellen nicht nur eine Katastrophe der Selbstentfremdung dar. Sie stellen auch den Patienten wie den Therapeuten vor ungewöhnliche Aufgaben. Denn Zurückweisung oder Mißbrauch von "heiligen" Gefühlen hinterlassen einen Schmerz und eine Scham, die es heutzutage viel schwieriger machen, über solche Probleme zu sprechen als über Sexualität oder Beziehungsstörungen. Die Verletzung durch die Zurückweisung früher Andachtsgefühle trifft den Kern, dier die seelischen Kraftreserven hinter unserer biologischen und affektiven Ausstattung beschädigt oder zerstört. Also haben wir es, wenn in der Psychotherapie die früh verletzte Andacht sich wieder zeigen will, mit Angst und Widerständen von besonderer Qualität zu tun, die nur zu überwinden sind, wenn wir uns nicht nur auf die reine Professionalität unserer Haltung verlassen, sondern wenn wir uns anrühren lassen von einer bedrohlichen Koppelung von Andacht und Unglück.

Das führt mich auch dazu, über die Verbindung von Körpertherapie und Andacht neu nachzudenken. Es gibt Berührungen, körperliche, aber auch seelische, die ein Kind als "heilig" erlebt, oder als zu heiligen Momenten gehörig. Die Jungianer würden vielleicht sagen: Wenn unsere Seele in Kontakt kommt mit dem Numinosen oder einem Archetypus, der neue Dimensionen erschließt. Dann rücken solche Personen in Vermittlerrollen, auf eine paradoxe Weise: ihre persönlichen Eigenschaften sind wichtig, und trotzdem sind sie Träger von etwas über sie Hinausweisendem. C. G. Jungs Begriff des Numinosen reizte mich oft durch durch das allzu Vage, durch den für mich zu raschen Qualitätssprung von etwas biographisch oder entwicklungsgeschichtlich nicht Faßbaren hin zum Geheimnisvollen oder Religiösen. Für mich bleibt eine enge Verbindung bestehen zwischen wichtigen Entwicklungsschritten des Kleinkindes und seinen mitgebrachten Fähigkeiten zur Andacht und dem Eindringen religiöser oder kultureller Inhalte, mit denen es aktiv und mitgestaltend leben kann. Je mehr Eltern (oder Therapeuten) sich bewußt sind, daß sie Träger von heiligen Momenten sind, desto weniger muß der Inhalt der Andacht abgespalten werden und zu einem tröstlichen oder kompensatorischen Geheimbesitz werden. Desto weniger braucht es aber auch eine sündentheologische Religion, die die Spiritualität des Erlebens quasi aufsaugt in einem dogmatischen Glaubensgebäude.

Bei vielen Patienten gibt es, weil vieles ins Unbewußte abgesunken ist, zuletzt nur noch körpersprachliche Zeichen von frühen Szenen der Suche nach Heiligkeit, Sinn, Geborgenheit und heilender Berührung. Es; gibt Variationen im Sprachklang, und eine averbale Form der Kommunikation, die den Therapieraum immer wieder in einen Andachtsraum zu verwandeln vermag. Wenn der Therapeut "mitspielt", geht von der geteilten Andacht auch etwas Heilsames aus. Dann aber verstärkt sich oft eine gewisser Druck der Inszenierung, und die haltenden Gebärden, die der Therapeut machen soll, und die Art der Selbstüberantwortung der Patienten drängen den Therapeuten in die Rolle einer heiligen Figur, von der ganz real Erlösung erwartet wird. Er ist in er sogenannten Übertragung zu Gott oder Christus oder zu einem frühen Priester geworden. Er ist nicht mehr Mittler, sondern erlebt sich als übergroß, es wird ihm unbehaglich, wenn er die ihm übertragende Rolle weiterspielt, ein leichtes Gefühl von Missbrauch und Entpersönlichung schleicht sich ein. Die unaufgearbeiteten, neurotischen Aspekte der Andacht verdichten sich in der Übertragung, nicht ohne die neurotischen Momente im Therapeuten zu mobilisieren: die Verlockung, mächtiger und heilender zu sein, als er ist. Und ebenso kann eine manchmal spontane und stimmige oder auch viel zu heftige neurotische Gegenwehr gegen die ihm angetragene heilige Macht entstehen. Deshalb wird ja das Rollenspiel von vielen Therapeuten in diesem Bereich bevorzugt, weil sie nicht in den Mittelpunkt einer religiösen Übertragung geraten wollen.

In der Übertragungsneurose wiederholt sich das Ringen des Kindes um eine Konkretisierung des Ziels aller Andacht: einer Verschmelzung mit Gott oder dem Göttlichen, aber gehalten von einer tragenden Elternbeziehung. Einerseits hat also die Bereitschaft des Therapeuten, Andacht als wichtige Beziehungsform zuzulassen, zur Steigerung der Erwartungen geführt, andererseits erfolgt irgendwann der Umschlag in ein Unbehagen, von dem neue diagnostische Überlegungen ausgehen müssen, wie das leidende Kind inmitten der religiösen Szenerie wieder aufzufinden wäre. Denn dieses ist durch eine Überdehnung von andächtiger Sehnsucht oder Angst in ein religiös-neurotisches Lebensskript geraten. Da Andachts- oder gar Gottesübertragungen den seelischen Raum des Therapeuten einschließlich seiner Gegenübertragungen stark belasten können, ist der Ausweg auch für mich die Inszenierung. Damit ist gemeint: den frühen Interaktionsraum mit Gott oder anderen Andachtsfiguren wiederherzustellen, ohne ihn auf mich zu zentrieren. Der Therapeut tritt also aus dem Mittelpunkt sehr massiver Rollen- oder Stimmungszuschreibungen heraus und wird vom Objekt zum Regisseur der früheren Szenen. Er kann dann leichter das Potential kindlicher und später neurotisch infizierter Andacht und Liebe zu Gott und Hoffnung auf Liebe von Gott würdigen, in dem er zum Dolmetscher zwischen dem Patienten und den Gottesbilder wird, zu denen der Patient so verzweifelt Kontakt suchte. Allerdings scheint es mir zu einfach, Gott einfach auf den sogenannten leeren Stuhl zu setzen. Denn der Stuhl ist gebaut nach menschlichen Dimensionen. Um die außermenschliche Größe Gottes zu symbolisieren, ist es hilfreich, Gegenstände zu wählen, die menschliches Maß übersteigen. Es kann eine leere Wand sein, ein wie zu einem Altar aufgerichteter Tisch oder ein Regal, ein großer Vorhang usw. Dabei ist aber Hilfe nötig bei der Überwindung der Scham, und viele Erklärungen darüber, was die Neu-Inszenierung bedeutet. Denn das Zurückschauen auf kompensatorisch religiöse Lösungen kindlichen Elends ist oft extrem peinlich, sodaß der Patient lieber die Neuinszenierung in Form von Übertragung wählt, als sich erinnernd in die frühere schmerzliche und schambesetzte Lage zu begeben. Nicht nur die Skepsis Freuds gegenüber der Religion, sondern auch die Überlastung des Übertragungsraumes dürfte der Grund sein, warum so viele religiös-neurotische Störungen in klassischen Analysen einfach nicht beachtet oder durch Zurückweisung ausgegrenzt werfen.

Heinz Kohut zitiert in seinem Buch "Die Heilung des Selbst" eine Situation, zu der er in einer Nachanalyse Zugang erhielt, in der der Patient sich einer religiösen Übertragung näherte, der frühere Analytiker aber abweisend sagte: "Ich bin nicht katholisch." Damit war die Ursituation der Andacht erneut verschüttet. Die oft fruchtlose Dauer sehr langer Psychotherapien und Analysen dürfte unter anderem damit zusammenhängen, daß undurchschaute religiöse Übertragungen und Erwartungen und die nicht-thematisierte Hoffnung auf eine Form von Erlösung oder analytischer Heiligkeit im Untergrund zäh bestehen bleiben.

Der Therapeut sollte also einen toleranten Zugang haben zu Situationen der Andacht, mitschwingen, selbst andächtig werden können, und trotzdem wach und strukturierend bleiben, wenn sich in der Gegenübertragung etwas abzeichnet, was sich anfühlt wie Überhöhung, seelischer, Vergewaltigung, Entgrenzung und Entpersönlichung. Er sollte versuchen, mit dem Patienten zur ursprünglichen Situation des Kindes durchzudringen, dessen spirituelle Grundgefühle vielleicht zurückgewiesen, mißbraucht oder in dogmatische Kanäle, also in Moral und Sündenlehre, gelenkt wurden.

Der Titel dieses Vortrags verspricht mehr als ich halten kann. Denn als meine Gottesvergiftung, wie einfangs angedeutet, überwunden war, war kein Glaube mehr übrig. Trotzdem will ich den Patienten ihren Glauben nicht wegnehmen, höchstens entneurotisieren. Was heißt das? Das Gottesbild von schwer erträglichem Leid befreien, von Engengung, Lebensfeindichkeit, niederdrückendem Schuldgefühl. Was bleibt, würde ich im günstigen Fall als ein Gefühl von Geborgenheit und Geführtsein bezeichnen, aber ich gebe zu: davon verstehe ich nichts, deshalb möchte ich diesen Teil der Diskussion überlassen. Vielleicht können wir den neurotischen kindlichen Gottesbildern erwachsene Glaubensformen gegenüberstellen, die inmitten eines noch immer weit verbreiteten religiös-neurotischen Elends mehr Hoffnung und Fröhlichkeit zulassen. Es gibt andererseits ja auch eine heute weitverbreitete Unkenntnis von Gott und seiner Geschichte, und manchmal fragt man sich, ob eine weitgehende Unwissenheit über Gott nicht auch neurotisch sein kann, auch wenn sie eine massenhafte soziale Erscheinung ist.

Kann man über Geilheit unter Gebildeten öffentlich sprechen?

Zur Würdigung eines oft versteckten Gefühls

Darüber schreiben scheint leichter als darüber zu sprechen, man denke an die Fülle des pornographischen Schrifttums, das nur darauf zielt, Geilheit zu wecken und zu näheren. Auch die Filmseite des Pornogeschäfts blüht, und die Stars des öffentlich kopulierenden Gewerbes treten ungeniert in Talkshows auf und plaudern über die notwendigen oder hilfreichen Eigenschaften der Helden und Heldinnen, die aus dem Stand eine glaubhafte Begattung mit Nahaufnahmen der stöhnenden Münder oder der sogenannten Geschlechtswerkzeuge hinkriegen müssen.

Zahllose wirkliche Künstler haben dieser angeblichen Nachtseite ihrer Begabung freien Lauf gelassen, zum Beispiel Klimt, Schüle oder Picasso. Schriftsteller haben sich an der Geilheit versucht: Felix Salten wird verdächtigt, die "Josefine Mutzenbacher" geschrieben zu haben, von John Clelland stammen die "Memoiren der Fanny Hill". Manche haben sich sogar verurteilen lassen, wenn sie nicht nur für private reiche und die Lüsternheit kultivierende Auftraggeber gearbeitet haben, wie etwa Boucher im 18. Jahrhundert. In neuerer Zeit waren, wenn es zur strafrechtlichen Anklage kam, unzählige Kommissionen und Gutachter tätig. Sie haben literarischen oder malerischen Werken, der Pornographie verdächtigt, das Gütesiegel der Kunst verliehen, gelegentlich erfolglos, bei Erfolg sie aber der Verfolgung entziehend. Heute ist fast nichts mehr verboten, es sei denn, es gehe um Gewaltver-herrlichung oder um Kinderpornographie.

Das Wort geil blüht in der Pennäler- und Studentensprache, viele interessante Dinge oder Aktivitäten sind geil oder affengeil oder superaffenobergeil; der Bezug zur ursprünglichen Bedeutung scheint verloren. Dabei war dem Gebrauch des Wortes einmal eine erhebliche Portion Eltern-shocking beigemengt. Aber heute bringen es schon die Fünfjährigen aus dem Kindergarten und die ABC-Schützen aus der Schule mit nachhause, die noch nicht einmal wissen, was damit gemeint sein könnte.

Die Sexualisierung der Werbung wird von jedem anständigen Kulturkritiker verurteilt, von jeder feministischen Initiative in Grund und Boden verdammt. Dabei ist sie eher anzüglich, lüstern, aufreizend, anmachend, aber nicht unbedingt geil. Geilheit gehört zu einer anderen Domäne der Sexualität. Und die Top-Models würden echt giftig, wenn man sie eines geilen Berufes bezichtigen würde, aber anzüglich dürfen ihre Auftritte schon sein. Dagegen weiß man, daß andere Mädels den Agenturen die Bude einrennen und es kaum erwarten könen, bis sie sich ausziehen dürfen und das Blitzlicht ihnen den Glanz im Mutter- oder Vaterauge ersetzt. Mit geilen oder aufgeilenden Posen bezahlen sie dafür, daß sie beachtet werden. Und eine Karriere als Pornosternchen ist der Wunsch vieler junger Damen, die zwischen dem Traum vom Model und dem vom hüllenlosen Paarungsgewerbe noch schwanken. Der Lohn ist, neben dem Geld, das für die Noch-nicht-Stars spärlich fließt, der geile Blick der Kamera, mit dem sich der Kameramann als das stellvertretende Große Auge voll identifiziert, und hinter dem sich die geilen Blicke der Männer verbergen.

Was ist eigentlich Geilheit? Es ist ein dranghaftes Gefühl, das auf sexuelle Entladung drängt, die aber nicht unbedingt gesucht wird. Das ist paradox. Sie kann ersehnt werden, real oder in der Vorstellung. Aber ebenso wichtig ist der Blick, die Neugier, die Erregung über ein Geheimnis. Die Bilder können auch Phantasien sein, die das Begehren wecken. Geilheit überschwemmt das Gehirn, sie scheint in intensiven Stadien zwanghaft, und verharrt doch sehr oft auf der Schwelle zur Realisierung oder ist nur ein Verhikel zur Selbstbefriedigung, um danach wieder für eine Weile in sich zusammenzufallen. Denn wie das sexuelle Begehren ist sie repetitiv, doch es gibt keine wirklich Befriedigung.

Mein Gewährsmann für Geilheit, über die man selbst unter Freunden selten spricht, der Arzt Wolfram W., hat nicht nur die eigenen Abgründe erforscht, sondern sich als Seelenberater von betroffenen jungen Menschen ein Bild machen können, was sich hinter der oft unbeteiligt scheinenden Fassade ihrer eine große Ungerührtheit demonstrierenden Gesichter verbirgt. Er ist zu der Auffassung gelangt, daß Geilheit ein Doppelgesicht besitzt: Einerseits ist sie eine Energie, die die Welt mit am Laufen hält, weil sie, Liebe hin oder her, die Menschen zur Fortpflanzung treibt, obwohl sie keine spezifisch eheliche Kraft zu sein scheint; sie ist sozusagen der Motor im Motor der Sexualität; andererseits gelangt er zu dem Schluß, daß viele Menschen von der Geilheit regelrecht geplagt werden, weil sie nicht zu befriedigen oder zu löschen ist; dies um so mehr, wenn Menschen keinen Zugang zu sexueller Erfüllung finden; aber selbst sexuelle Erfüllung befreit oft nicht von der Fortdauer der Geilheit, und deshalb, so sagte er mir wiederholt, stehe er nicht an, sie als eine Krankheit, mindestens aber ein schwerwiegendes Symptom zu betrachten. Auf deren Erforschung hat er viel Zeit und viele Gespräche verwandt mit den wenigen Menschen, die ihm vorurteilslos genug erschienen, um unbefangen mitreden zu wollen. Ich sah es als eine Ehre an, dieser Gespräche für würdig befunden zu werden, und er verhalf mir dazu, als mein Wille zur Aufrichtigkeit gewachsen war, in einige eigene Abgründe zu schauen, die ich lange vor mir zu verbergen versucht hatte. Gleichzeitig lehrte er mich, milder über diese heimlichen Seiten zu denken.

Fast schonungslos berichtete er mir von den Verstrickungen seiner eigenen Jugend, und was dort fehlte, ergänzte er aus den allerjüngsten Einblicken in die Verwirrungen seines Zöglings Jörg, der, da er sich an Geilheit schwer erkrankt fühlte, bereitwilliger als die meisten seiner Altersgenossen, auf mühsame Bekenntnisse einließ. Durch ihn gewann er auch Einblick in das Innenleben einer Jugendbande, die sich, einige Jahre früher, die Erkundung und das Ausleben von Geilheit zu einem ihrer Ziele gesetzt hatte.

Einige Frauen, denen ich diesen Text zu lesen gab, reagierten mit Wut oder wenigstens Kopfschütteln über die Geilheit, die hier als Männersache dargestellt wird. Die Frauen wären dann nur Objekte und Opfer. Es steht mir nicht zu, Geilheit aus der Sicht der Frauen zu schildern. Ich kann diesen nur vorschlagen, ihre mögliche Wut gegen den lieben Gott zu richten, der die menschliche Natur so eingerichtet hat, daß sich bei vielen Männern die Nüstern blähen und die Pupillen weiten, wenn sie a) bestimmte meist weibliche Bilder sehen, und b) mehr oder minder an diesem nicht immer als Krankheit erlebten Zustand leiden, den man mit der Doppelgesichtigkeit eines Rausches vergleichen könnte. Den Text erlebten sie deshalb kritisch als in den Stilebenen schlingernd. Ich behaupt dagegen, dies gehöre zu meinem Zugang zu dem schwierigen Thema. Fest steht auf jeden Fall: Viele Frauen erleben Geilheit ganz anders als Männer, und manche behaupten, sie kennen dieses Phänomen gar nicht, höchstens in unwillkommenen Träumen, von denen sie sich zu ihrer Beschämung und Befremdung heimgesucht fühlen.

Vieles, was ich im folgenden berichte, werde ich der Einfachheit halber diesem Jörg zuschreiben, dem es, wenn er nur nicht kenntlich wird, einen durchaus prickelnden Spaß bereitet wird, der Held eines literarischen Essays zu werden.

Sprachlich muß ich mir selbst einen rechten Ruck geben und hoffen, daß sich nicht die Zeilen verbiegen oder sich sträuben wollen. Denn natürlich sind mir in meinem sogenannten passiven Wort- und Bilderschatz die meisten Ausdrücke von Geilheit spielend geläufig, manches sogar aus der realen Erfahrung. Will ich sie aber niederschreiben, dann fürchte ich mich durchaus vor dem Urteil des als anständig und tadelsbereit vorgestellten Lesers oder Hörers, der mich selbst eines krankhaften Hanges zum Unanständigen zeihen könnte. Dabei fühle ich mich doch nur wie ein Berichterstatter, der sich freilich mit einem massenhaften Seelenereignis auseinandersetzt, das Menschen oft hinterrücks und überraschend heimsucht und verwirrt, selbst wenn die Reizbilder oft auch gesucht werden. Aber das macht die Sache nicht besser. Schon die Suche nach den Auslösern der Geilheit kann qualvoll und beschämend, aber auch wiederum reizvoll sein, weil hinter der Suche die Verheißung lockt, ja eine Art Erlösung, die aber so viel trügerischer ist als die der zielstrebigen und zielbewußten Sexualität. Oft aber ist nur diffuse Geilheit da, bereitet Unruhe und sucht sich konturierende Bilder. Geilheit und Sexualität können sogar in einen Gegensatz geraten, so wie sie sich manchmal auch unterstützen und steigern.

Soweit die Vorrede, mit der ich mir Mut anzuschreiben versuche.

Mein Gewährsmann Wolfram berichtet mir, daß das Jahrzehnt zwischen seinem vierzehnten und vierundzwanzigsten Lebensjahr qualvoll war wegen der Geilheit, die er als solche nur erlebte, nicht aber sprachlich oder gar begrifflich-psychologisch fassen konnte. Selbst vor dem Ausdruck hatte er Angst, weil er ihn mit drohender und nicht wieder zu korrigierender Verworfenheit gleichsetzte. Er durfte nicht wissen, daß er an Geilheit litt, und daß sein Leiden einen Namen und einen Ursprung hatte, nicht zuletzt im Klima seiner prüden und gleichzeitig von unterschwelliger Lüsternheit durchzogenen Familie. Sexualität war ein Tabu, und Tabus machen, wie man weiß neugierig. Es spielte nicht mit Nachbarskindern, er war in der Schule ein Sonderling, und so kam es, daß er bis zu seinem zweiundzwanzigsten Jahr weder eines weiblichen Genitales noch eines anderen männlichen Patengeschenkes ansichtig geworden war, an dessen Anblick er sich hätte beruhigen können über seine Zweifel an der tauglichen Größe seines.... Penis, nein, ich gebe mir jetzt den Ruck und wiederhole das durchgestrichene Wort Schwanz, weil es so ja auch in seinen Berichten lautet, und weil Jörg als hilfreicher Stichwortgeber ohnehin von nichts anderem redet. Das ohne Zittern in der Stimme ausgesprochene Wort Schwanz, das Wolfram über lange Jahre immer und immer still oder halbslaut oder auf einsamen Spaziergängen auch laut geschrieen wiederholen mußte, habe schließlich sogar eine gewisse Ruhe in den Umgang mit seinem Meister Iste gebracht, wie unser größter Dichter ihn nennt.

Die Geilheit habe ihn oft so überkommen, daß er stundenlang in den frei Haus gelieferten Versandhauskatalogen die Bade- und Unterwäschemoden habe studieren müssen, dabei vorzugsweise die von den jungen Mädchen in den unschuldig-anmutigen Posen, die von Sexualität noch nichts zu wissen schienen. Mit dem Blick habe er versucht, die leichten Hüllen zu durchdringen, um endlich zu erfahren, wie es darunter ausschaue. Dabei habe er geschwankt zwischen ritterlicher Großmut, mit der er bat, ihn nur zu wissenschaftlichen Zwecken kurz das von satanischem Reiz umflorte Allerheiligste inspizieren zu lassen, und bösartiger Gewalttätigkeit, mit der er ihnen die Kleider vom Leib riß. An manchen Tagen zeigte er den Papiermädchen sein pralles Glied, Verzeihung, seinen knochenharten Schwanz, und wiederum war seine aufgeregte Person gespalten: Er gewährte ihnen, wenn sein Selbstbewußtsein aus irgendeiner Richtung einen schweren Schlag erlitten hatte, die "Gnade des Anblicks", um sie zum Staunen zu zwingen, wie er mir gestand; an anderen Tagen wollte er die muntere Schar nur erschrecken, oder aber er wichste im Zorn über ihre Unnahbarkeit auf ihre noch immer nicht erschrockenen Gesichter und schämte sich unendlich und bat um Verzeihung. Er verstrich das Sperma über die Seiten, weil er sie trocknen wollte, um zu prüfen, ob der vergossene Lebenssaft eine besondere Brenn- oder gar Heizkraft hatte. Diese Erforschung seiner Potenz, von der er sich noch nicht vorstellen konnte, daß er mit ihr je eine wirkliche Frau beschmutzen dürfe, verlieh seinem geilen Nachmittag ein angeblich wissenschaftliches Mäntelchen, das einen Teil seines Gewissens und seiner Scham beruhigte. Manchmal bildete er sich sogar ein, einen geheimen Auftrag zu diesem Tun zu haben, und wollte sich für seinen Mut bewundern, mit dem er, zur Anstachelung seiner Aktivität, die Worte Fotze und Möse abwechseln vor sich hin sang. Er verstand jetzt auch, ohne selbst einen solchen schriftstellerischen Graffitti-Mut zu haben, warum viele Knaben mit ähnlichem Leiden an allen möglich Orten, vorwiegend aber in WCs, ähnliche Worte in vielen orthographischen und kalligraphischen Varianten, an die Wände pinselten.

Da die Geilheit, was die Suche nach Reizen angeht, mit einem Radargerät versehen scheint, das auf die Aufdeckung von anzüglichem Material programmiert ist, bekenne ich, daß ich schon bei dem Wort pinseln wieder aufgeregt oder gar erregt werden könnte, wenn mir nicht mein reiferes Alter eine gewisse Gelassenheit beschert hätte.

Mit den vielen Pubertätswitzen, die diese Atmosphäre der Geilheit in Reinkultur enthalten, will ich den Leser verschonen. Sie befriedigen einerseits die pure Lust am aufputschenden Benennen der Geschlechtsteile und ihres Gebrauchs und entzünden also dauernd das Feuer des kleinen Tabubruchs; andererseits betonen die Witze gegenüber denen, die noch keinen Zugangs zur Sexualität haben - vielleicht außer dem der Onanie (vulgo Wichsen oder sich einen herunterreißen oder von der Palme schütteln, das muß doch mal ausgesprochen sein, wenn man über Geilheit schreibt) -, also, sie betonen, daß Sexualität wirklich stattfindet, obwohl man es doch noch nicht so recht glauben kann; sie betonen ebenfalls, daß man die Erwachsenen quasi erwischt hat oder daß man den lüsternen Subtext vieler alltäglicher Äußerungen versteht oder ihn auch erfindet. Kleines, harmloses Beispiel: "Wie heißt der chinesische Gesundheitsminister oder der Polizeipräsident von Peking? - Unwissendes Achselzucken...

Antwort: Swing dei Ding!" Dazu zehn Varianten, die ganzen Ministerien durch, oder das Politbüro, je nach Wahl, oder auch die verschienen Nationen, in deren verballhornte Namen man das Immer-Gleiche verpackt. (Vyk van Voorn/Vyk van Hint, echt niederländisch!)

Was soll daran krankhaft sein? Zunächst noch gar nichts. Es ist eine Frage des Maßes oder des Grades der Unfreiheit. Soll ich verraten, was der Mösenblick ist? Ich schiebe ihn Jörg zu, dem in Geilheit Ertrinkenden. Es ist der Zwang, überall dort, wo der unschuldige oder der gesuchte Zufall einen Blick zwischen die Beine einer Frau oder eines Mädchens erlaubt, und sei sie noch ein Kind, daß diesem Blick gefolgt werden muß. Der Zwang setzt schon ein, wenn nur ein Rock sich leicht hebt, denn das kann elektrisierend verheißungsvolll sein; wenn unter einer Jeans sich der Slip abzeichnet. Der Blick in der Badesanstalt muß erkunden, wie spitz ein Badeanzug zuläuft; mit einiger Anstrengung beobachten, ob Schamhaare sichtbar sind; ob ausrasiert wurde. Das Schwimmbad ist radioaktives Territorium: Der von Geilheit Getriebene spürt, wann sich eine Frau auf der Wiese umziehen wird; er spürt, ob da ein Spiel kleiner Mädchen ergiebig ist; er wittert sich Küssende, die in Selbstvergessenheit versinken werden, sodaß sie seinen Blick nicht spüren; er muß beobachten, ob die Vulva sich abzeichnet unter den dünnen und engen Sommerhosen.

Aber der mit Geilheit Geschlagene muß kein Spanner sein, vielleicht eine Vorform davon, oder eine ganze Variation von Vorformen. Geilheit ist aufgeladen mit jugendlicher Frustration, die weit ins Erwachsenenalter hinüberströmt; mit unerfüllter Neugier, mit sexuellem Drang, vor allem aber mit der frühen Prägung einer sterilen und gleichzeitig hoffnungslosen Aufgeregtheit über das Thema Sexualität, die nicht gelebt werden konnte, sondern die sich in die Sonderformen des Schauens, Hörens, Witterns ausgegossen und sich dort verfestigt hat. Geilheit als Infektion verharrt meist vor der Schwelle zur Perversion, obwohl sie sich dorthin entwickeln kann. Viele, die mit Geilheit geschlagen sind, müssen sich mit der Angst, abnorm zu sein herumschlagen. Sie sind unfrei, weil die Prägungen der Pubertät quasi fixiert geblieben sind. Sie müssen wittern wie die Jagdhunde und sind kaum von der Beute ihres Blickes abzubringen, den sie doch geschickt zu verbergen wissen. Neben dem Mösenblick gibt es den Busenblick, der Achselhöhlenblick, den Arschblick und andere Sonderformen, die oft mit dem Grad der Verhüllung ihres Objektes zu tun haben.

Viele Frauen und Mädchen haben ein Gespür für diese Blicke. Es ist, als ob das Wild eine Gegenwitterung hätte. Fast könnte man es ein Glück nennen, daß bis zu einem gewissen Grad der Impertinenz eines Blickes die Erblickten oder Beobachteten eine Gelassenheit, eine Freude, einen Triumph oder eine Lust aufzubringen vermögen. Sonst wäre der Krieg der Blicke, wogend zwischen Liebkosen und rüdem Entblättern, unerträglich. Die Natur (vom gesellschaftlichen Rollenspiel überformt) absorbiert einiges von der Geilheit und verwandelt sie in Bestätigung. Je nach Temperament und Vorerfahrung und Laune vermögen Frauen einen geilen Blick in einen Flirt-Blick zu verwandeln und ihn damit zu entgeilen; andere aber verwandeln einen Flirtblick in ein freches Betasten und sind empört. Aber die wirklich geilen Blicke sind oft lästig, und es gehört, da sie unvermeidlich sind, viel Sicherheit dazu, sie zu ertragen. Kerle wie Jörg genießen es auch, Frauen und Mädchen aus ihrer gelassenen Ruhe zu bringen: sie sich abwenden oder erröten zu lassen Das spendet männlichen Triumph und ein Machtgefühl, das die Ohnmacht, die oft in der Geilheit steckt, vorübergehend kompensieren kann. Denn Geilheit ist ohnmächtig, auch demütigend. Sie ist gezwungen, der Frau, sogar dem Kind, den Besitz des Geheimnisses, der phantasierten Befriedigung, ja, der Gnade zu lassen. Manch einer merkt gequält, daß er mit hündischen Blick schaut, mit Bettlerblick, mit dem Blick dessen, der in Kindheit und Jugend zu lange gedarbt hat, und der sich dauernd weiden muß, statt essen zu dürfen.

Es ist die Verknüpfung von Sexualität und Geheimnis, verbunden mit tief inneren Zweifeln an der eigenen Tauglchkeit, die Geilheit so zäh, so unstillbar machen. Denn risse der Jugendliche den Katalogschönheiten die Kleider weg, wie er es erträumt, dann wäre er verblüfft, erstaunt, erfreut, entsetzt, aber das Geheimnis wäre plötzlich geheimnislos, und das will er gar nicht. Denn er ist fixiert, oft bis ins hohe Alter, auf das prickelnde Geheimnis, das er einst zu erforschen versuchte, und an das er gekettet ist.

Täuschen wir uns nicht, Geilheit ist weit verbreitet, wuchtig oder in feineren Abstufungen, und sie trennt im Erleben häufig Frauen und Männer, das erfährt man spätestens dann, wenn man mit eine Frau zusammen Zeuge eines geilheitserweckenden Anblickes wird - es sei denn, das Paar hätte Übung in solchen Situationen. Dann driften oder jagen die beiden seelisch auseinander, man ist als Mann geneigt, sich zu schämen oder sich oder den anderen zu verdächtigen, und meistens werfen sich die Männer in die Pose der Korrektheit: Wie peinlich, z. b. kopulierende Hunde.

Die Frauen lieben oft mehr als den geilen Anblick den geilen Blick der Männer, nicht immer freiich, sondern wenn ein gewisser Schutz vor Zudringlichkeit gewährleistet ist.

Die Männer sind die Kundschaft der Peep-shows und der Erotik-Kinos. Sie streunen um Eros-Boutiken herum und drücken sich an den Auslagen entlang, wenn sie die Schwelle nach langem Zaudern einmal überschritten haben. Wolfram erzählte mir die einzelnen Schritte über die Schwelle und die lange und mühsam errungene Übung darin, unbefangen zu erscheinen. Bis er seinen ersten Band mit Nacktfotos erstand, dauerte es Jahre, und dann merkte er, daß es prickelnder war, halbbekleidete als nackte Damen zu betrachten. Der Franzose Boucher beherrschte sein Handwerk, Nacktheit und Drapierung gekonnt zu mischen. Die meisten Jugendlichen entdecken eines Tages die Pornosammlung ihres Vaters und reagieren oft mit Verachtung, die ich noch nicht zu deuten weiß.

Aber genug nun der Männerbeschuldigung. Weder Wolfram noch ich können sich als kundig bezeichnen in Sachen weiblicher Geilheit, sie wird vor Männerohren meist sorgsam verborgen. Ich habe mich schon glücklich gepriesen, daß sich unlängst eine Freundin überhaupt in ein Gespräch darüber einließ, und muß zugeben, daß ich meinen Ohren nicht traute, wie geläufig ihr das Thema war, und wie relativ freimütig sie darüber berichtete, eigene Erfahrungen eingeschlossen. Aber darüber sollte sie selber sprechen. Ich will nur so viel verraten, daß dem männlichen Mösenblick der Schwanz- und Hodenblick entspricht, der mit der gleichen, manchmal obsessiven Neugier die Gestalt und Lage des Gemächts in der Hose zu orten versucht. Natürlich dachte ich, um mir den Fetzen Reinheit zu erhalten, den ich den Frauen immer zugebilligt habe, daß es da statistisch gewaltige Unterschiede geben muß: Auf zehn Mösen- oder Spaltenblicke kann doch höchstens ein geiler Klötenblick kommen, ansonsten fände ich die sittlichen Grundlagen unseres Staates auf gefährliche Weise unterhöhlt.

Aber just um diese Zeit informierte mich mein Gewährsmann über eine spätes Geständnis seiner hochbetagten Tante, die ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, daß ihre lebenslange Leidenschaft für Kirchen nicht zuletzt damit zusammenhing, daß sie "wie zwanghaft", aber doch in spürbarer Erregung, immer wieder versuchen mußte, dem Gekreuzigten unter das Lendentuch zu schauen. Und da dies meist unmöglich war, mußte sie, scheinbar in einer Kirchenbank ins Gebet vertieft, phantasieren, was sich darunter verberge. Sie war sich des gotteslästerlichen Charakters ihres Forscherdrangs durchaus bewußt und auch bereit zuzugeben, daß ebendies ihre nach außen unerkennbare Geilheit erhöhe.

Als ich vor Jahrzehnten einmal in erregter Neugier "Die sexuellen Phantasien der Frauen" von Nancy Friday las, konnte ich noch nicht glauben, daß dieses Buch auch für deutsche Frauen Gültigkeit haben sollte. Mit ähnlichen Gedanken wurden ja auch die Bücher von Masters und Johnson in den sechziger Jahren als für Europa ungültig um ihren Aussagewert gebracht.

Die Geilheit, meist optischer Art, lebt von der Brisanz des Geschlechtsunterschiedes, die dieser in bestimmten Zeiten, wenn auch mit großer Streubreite, für Kinder und Jugendliche hat. Je mehr Verborgenheit einer zu erleiden hatte, desto wütender will die Neugier ein späte Erfüllung. Da kann einer längst verheiratet sein oder sich mit vielen Freundinnen verlustiert haben: Die Fixierung auf das damals ungelöste oder erschütternde oder aufwühlende oder infrage stellende oder erschreckende Geheimnis bleibt und muß immer neu umkreist werden. Der Forscherblick ist schier unbezwinglich und nie zu beruhigen. Es kann einem in einem Schwimmbad geschehen, daß man sieht, wie eine Reihe von Männerköpfen sich im Schrittakt einer leicht geschürzten Dame bewegt; aber sichersten passiert es aus einer Perspektive von unten, etwa wenn die Männer im Becken stehen und die Halbgöttin des Geheimnisses ihre unsichtbare Möse wie eine Monstranz vor sich her schiebt. Dies ist ein typischer Männersatz, ich gebe es zu; wie ihn eine Frau formulieren würde, weiß ich noch nicht.

Die Männer scheinen vom aufregenden Geheimnis des Geschlechtsunterschiedes mindestens an der Oberfläche oder auf der Verhaltensebene tiefer heimgesucht als die Frauen. Ja freilich, wie konnte ich es vergessen: Sie haben die Kastration immer noch v o r sich und müssen zwanghaft herausfinden, wie es sich ohne Schwanz lebt, und können es nicht fassen, daß Frauen mit einer solchen Anmut danach weiterexistieren. Die Männer müssen also nicht nur das Rätsel des Geschechtsunterschiedes lösen, sondern auch dieses: Wie man, unten ohne, mit solcher Nonchalance leben und damit auch noch eine solche Anziehungskraft enfalten kann, ja eine sanfte Gewalt des lockenden und verwirrenden Übergriffs ohne jede Berührung, die manchmal einem Besatzungsregime gleicht. Denn die Geilheit wird oft als eine Art Fernsteuerung erlebt, wie es eine ungarische Seelenforscherin einmal dargelegt hat.

Männliche Geilheit hat also auch mit Verblüffung zu tun, mit der Herausforderung des Es-nicht-fassen-Könnens. Dagegen hülfe nur Abwendung und Blickaskese, aber wer bringt schon diese Seelenstärke auf. Manchmal hilft die Aggressivierung des Blicks, sozusagen die Rache für die Erregung in Form einer Vergewaltigung auf der Netzhaut, oder wenigstens eines genüßlichen Ausziehens oder eines Anstarrens. Dieses macht dem übeltäterischen Opfer deutlich, daß es für wenige Augenblicke nur Objekt ist, dem man es heimzahlt, daß sie ein Weib ist und wenn nicht schon oben, so doch unten ohne lebt. Und dieses verdammte Ohne ist auch noch das Zentrum der Neugier und der Sehnsucht und ein Rätsel, das man, einmal zur Geilheit verdammt, auch dann nicht löst, wenn man immer wieder ganz real die Nase hineinsteckt.

Gibt es ein Fazit für solch krause Gedanken? Geilheit als prickelndes Gewürz der Sexualität ist ein Geschenk der Natur; Geilheit als Plage kann eine Last sein, für Männlein wie für Weiblein, vor allem, wenn sie sich gegenseitig damit plagen. Die Frauen reklamieren meist die Unschuld für sich, partiell vielleicht sogar zu Recht.

Geilheit ist eine Lust und eine Seelenkrankheit, wenn sie zur Heimsuchung geworden ist. Sie ist früh angelegt ist, wenn das Kind den Geheimnissen der Sexualität hilflos und von Verboten eingeschüchtert ausgeliefert ist. Aber die heutige erotische und sexuelle Überreizung kann das gleiche Ergebnis haben: ebenfalls eine frühe Prägung auf Erregung, die um die Geschlechterdifferenz kreist.

Zum Schluß eine Beobachtung, die mich als Mann spüren ließ, was Frauen erleben, wenn sie gleich von mehreren Männern geil taxiert werden: Zwei halbwüchsige Mädchen saßen bis zum Hals im Wasser des Termalbades. Als ich die Treppe herunter ging und an ihnen vorbei wollte, hörte ich die eine kichernd sagen: "Guck doch mal, was der in der Hose hat." In meinem Körper zog sich alles zusammen, ich wäre gern unsichtbar gewesen. Die blonde Brut rückte noch näher zusammen und bereitete sich auf den nächsten Ankömmling vor, der sich ihnen, sozusagen von unten besehen, offenbaren mußte. Sie kicherten weiter und neigten sich einander in fröhlicher Intimität und Verschworenheit zu. Da ich inzwischen selbst bequem und geschützt im warmen Pfühle lag, fand ich meine Gelassenheit wieder und ergötzte mich an dem Schauspiel, das die meisten Opfer gar nicht bemerkten, wenigstens nicht bewußt. Aber ich glaubte kleine Gebärden des Unbehagens zu beobachten: Einige beschleunigten plötzlich den Schritt, und um die rasch wechselnde Gruppe schwebte eine kleine Wolke intimer Feindschaft, die schnell ihre Umrisse veränderte. Fast wurde ich geil über ihrer Geilheit und empfand meinen Blick, kurzzeitig meinem wieder jugendlichen Gewissen ausgesetzt, als einen verbotenen Blick auf eine verbotene Szene. Er war verbunden mit dem Impuls, die Opfer zu warnen, so wie ich als junger Ritter manchmal Frauen hatte retten wollen, wenn die bedenkenloseren Altersgenossen ihre, wie mir damals schien, verdammungswürdigen Witze über sie rissen.

Im warmen Wasser, das schon die Römer umspülte, fiel mir ein anderes Erlebnis aus scheinbar unschuldiger Kinderzeit ein, das ich später immer verband mit dem Bild der Mänaden, obwohl ich damals noch nicht Sänger und auch vom Tode noch weit entfernt war. Auch will ich nicht den Eindruck erwecken, ich betrachtete mich vom Typ her als Opfer von Frauengeilheit. Ich will nur die einseitige Last der Beschuldigung von meinen schmalen Männerschultern wälzen und ein wenig davon abgeben. Glaubt man denn wirklich, die Jahre der Pubertät von Mädchen seien frei von geilen Phantasien (vorausgesetzt, sie sperren sie nicht weg in den Käfig der Träume), nur weil sie nicht Wände beschmieren und lauthals Witze reißen? Sie haben vielleicht ein größeres Verdrängungspotential, und der Trieb drängt sie weniger stark, von seiner Einbettung in tragfähige Beziehungen abzusehen. Also mag es weiter dabei bleiben, daß Geilheit als regelrechte Erkrankung oder Heimsuchung mehr die Männer als die Frauen erfaßt und vielleicht auch mehr Unheil anrichtet, wenn in manchen Situationen wie Krieg und Eroberung alle Hemmungen fallen.

Also zu der versprochenen Episode: Erneut sind zwei halbwüchsige Mädchen beteiligt: Sie hatten mich als etwa sechsjähigen Jungen zu hüten. Sie waren in der Stimmung, Sexualforschung zu betreiben, bogen mich, kichernd erregt, nach rückwärts so über ihre Knie, daß sie in meine lockeren Spielhosen tiefen Einblick nehmen konnten. Ihr Erregung muss mich angesteckt haben, ich konnte eine Bubenerektion nicht vermeiden, was sie zu dem Ausruf veranlaßte: "Guck mal, was der schon für eine Maschine hat!" Ich schämte mich in meinem Festgehalten sein, war aber auch maßlos zornig und schrie sie an als "Schweine!" Sie ließen los, und wir verliefen uns wieder, unterschiedlich erregt oder beschämt oder empört, in dem großen Garten. Beim Abendessen waren sie scheu und still, als fürchteten sie Anzeige und Bestrafung. Aber was hätte ich sagen sollen, mir fehlten die Worte und der Mut, und sie hätten mich sicher der frechen Lüge geziehen. Und die Feriengastfamilie hätte sich vielleicht über meine verdorbenen Phantasien aufgehalten oder übe meine Neigung zu petzen oder zur Lüge.

Zweites Fazit: Geilheit kann ein segensreiches Naturphänomen sein, und in der priaapischen Steigerung eine seelische Krankheit. Mein therapeutischer Gewährsmann meint, er brauche manchmal sehr lange, bis er bei betroffenen Klienten zu deren Ursprüngen gelange, weil selbst bei abgebrühten Geilen die Geständnisscham riesig sein kann. Das Fernsehen und das Kino und die Pornographie binden wohl eine Menge Geilheit, aber sie stachelt sie eben auch auf. Deshalb ist ein Urteil so schwer, ähnlich wie bei den Gewaltfilmen. Man kann von einer Industrie sprechen, die die Geilheits-Sucht bedient, und sie liefert genug Stoff für moralisierende Predigten und besorgte Kulturkritik. Wenn ein Tier brünstig wird, verengt sich seine Welt und seine Instinkte auf Partnersuche, die oft nur wenig von Beziehung enthält. Die elementare Wucht des Triebs ist häufig beeindruckend. Möglicherweise sitzen in der Geilheit der Menschen ganz archaische Abläufe, auch wenn sie durch viele biographische und situative Faktoren überformt werden. Was die Geilheit als abgrenzbares Phänomen gelegentlich beunruhigend macht, ist ihre mögliche Ablösung von Partnersuche, Fortpflanzung, Festigung von Beziehungen, Kultivierung des Daseins, usw. Sie scheint schwer kultivierbar. Wo sie in der Kunst glückt, sind wir dankbar, daß wir sozusagen frei von Schuld hinschauen oder hinhören dürfen. In der Regel enthält sie einen bedrohlicher Aspekt von Einsamkeit, auch wenn sie in Banden von Jugendlichen zum Kitt ihrer Beziehung werden kann.

Ferien auf dem Bauernhof, Begegnung mit dem Tod

Acht Tage Ferien mit meinem achtjährigen Sohn auf meinem Bauernhof, der einmal ihm gehören wird. Was für ein merkwürdiger Gedanken: er ist so sehr mein, daß mir der Gedanke daran vorkommt, als würde ich bald schon den Löffel abgeben müssen. Dabei möchte ich ihn ja noch weiter ausbauen. Ich will nicht ans Vererben denken. Aber der Gedanke ist da. Und je mehr er ihn liebt und sich heimisch fühlt, desto wirklicher wird diese schmerzliche, vorauszusehende Abtretung. Dann bin ich wütend, weil ich meine, auf dem Hof noch nicht genug gelebt zu haben. Und was mußte ich arbeiten, um das Geld dafür zusammen zu kriegen! Er wird einfach erben. Ich beneide ihn und mißgönne ihm in unguten Stunden sein Glück. Noch haben wir genug zusammen zu tun, und er fühlt sich als geliebter Gast auf dem Gelände. Ich bin stolz, daß ich ihm viel zeigen kann, etwa beim Bau eines Baumhauses: Haselstämme absägen, entasten, sie in die Äste eines alten Apfelbaums einpassen, sie annageln oder mit Schnüren befestigen, eine Dachkonstruktion erfinden, eine Leiter zum Aufstieg bauen. Von oben überblickt er das Gelände und fühlt sich als der Wächter auf dem Turm.

Von den zwanzig Schafen, die zum Hof gehören, lag eines Morgens eines tot am Hang der Senke, durch die der kleine Bach murmelt, der am Haus vorbeifließt. Alfred der Freund, der den Hof führt, ist weit weg am Atlantik in Ferien, wir beide, Jan und ich, sind für eine Woche für Schafe und Katzen verantwortlich. Es stirbt fast jedes Jahr ein Schaf, oder besser ein starkes Lamm, es ist wie der plötzliche Kindstod, meist beim Übergang von der Heufütterung im Stall zum ersten Gras im Freien. Es ist, als ob eines sich beim Fressen nicht zurückhalten könnte. Alfred fährt jedes tote Schaf gewissenhaft zur tierärztlichen Begutachtungsstelle, dann kriegt er eine Diagnose, und wir sind auch nicht schlauer. Die sagen dort: das kommt halt vor.

Würde ich in seinem Sinne handeln, dann wickelte ich das starke Lamm in eine Plastikfolie ein und führe es eine halbe Stunde im Kofferraum an den Rand der Stadt ins Labor. Wenn ich den leicht manirierten Konjunktiv wähle - führe - will ich damit auch andeuten, daß es sich um einen conjunctivus irrealis handelt. Denn dieses Schaf auf der Wiese, ganz nah ein einem Haselnußgehölz, soll nicht in einem Labor entsorgt werden - ob verbrannt oder zu Tiermehl verarbeitet - sondern auf seinem Heimatboden sich auflösen. Jan hat noch keine Begegnungen mit dem Tod gehabt. Am meisten beeindrucken ihn die gebrochenen Augen, der Blick, der ins Leere geht. Es ist nicht der Zeitpunkt für einen plötzlichen Schafstod, dafür ist das Jahr zu weit fortgeschritten. Wir vermuten, daß es sich um eine Folge der Impfung gegen die Moderhinke handelt. Wir hatten sie seit zehn Jahren unter Kontrolle durch sorgfältige Koppelweide mit regelmäßigem Wechsel der eingezäunten Weideflächen. Der Tierarzt verwies auf die Risiken und Nebenwirkungen: es sei ein sehr starkes Medikament, bei einzelnen könnten offene Flanken auftreten. Mir erschien das absurd, aber Alfred bestätigte mir, bei zweien hätten sich starke Wunden an der Seite geöffnet, die er angemessen mit Salbe behandle. Ich wollte in dieser Woche nichts mit Tieren mit offenen Flanken zu tun haben, außerdem schien es, wenn ich die Tiere aus etwas 50 Metern beobachtete, wenn sie herunterkamen vom Berg, um sich an der Leckschale zu balgen oder um das Fallobst, daß keine offene Wunden mehr zu sehen seien. Um so rätselhafter der Tod. Als wir uns dem Schaf näherten, wußten wir noch nicht, daß es tot war. Wir hofften noch, daß es aufspränge und uns sozusagen zum Narren hielt. Aber es blieb regungslos liegen. Ich wollte es der Natur überlassen, dachte an die Füchse und anderes Getier der Nacht. Am nächsten Tag hatte es, als wir den Berg zu ihm hinaufstiegen, seine Position verändern. Wir dachten, daß müßte der Fuchs bewerkstelligt haben. Aber was wir vorfanden, nachdem am ersten Tag in der Hitze die goldgrün glänzenden Fliegen das Tier, aggressiv summend, umschwärmt hatten, war ein Fell, das sich zum Teil schon gelöst hatte, und darauf einen ungeheuren wabbelnden Hügel von Larven, die verzweifelt um einen Zugang zu den fleischigen Teilen kämpften. Schon bei der Annäherung war ein penetranter Aasgeruch die Senke heruntergeströmt, getragen von dem leichten Fallwind, der immer den kleinen Bach begleitet. Was zu sehen war, war nicht mehr so sehr ein totes Tier als vielmehr Verwesung und die Arbeit der Maden, aber in einem grauenhaften Ausmaß, so daß ich spürte, ich hatte selbst von der Entsorgung durch die Natur ein idyllisches Bild gehabt. Sie hätten das Schaf von innen aufgefressen, aber nicht dieser vielschichtige, wabernde Kampf um einen Freßplatz.

Jan schien mir ziemlich nüchtern, aber er fand den Tod "schade", vor allem ein solches Hinübergehen als Madenfraß in dieser unendlichen Häßlichkeit. Er fragte aber immer wieder, wie wohl die anderen Schafe auf den Tod ihres Kameraden reagierten. Denn sie grasten friedlich und fast demonstrativ unbeteiligt oberhalb des entsetzlichen kleinen Friedhofs, und ich wußte nur zu sagen, daß sie es vielleicht bemerkten als dumpfes Gefühl, aber ohne Bewußtsein, und die Stelle mieden. In meiner Phantasie fragte er mich, wie man sich bei einem menschlichen Todesfall verhielte, und ich, der ich ihn in manchen Dingen in die Kunst des Lebens einführen kann, sagte, wieder in der Phantasie: "Man denkt an den Toten und an den Tod, macht ein ernstes Gesicht bei der Beerdigung, darf sich aber heimlich auch schon freuen auf den Leichenschmaus." Dies alles gilt natürlich nur bei einem nicht allzu nahen Angehörigen oder Freunden. Wenn die eigenen Eltern oder ein Geschwister oder ein Parner stirbt, kann man nur schwer voraussagen, wie man sich verhält. Bei aller Trauer gelten auch dort gewisse Regeln. Ihn wird zunächst wohl der Tod seiner Großmutter treffen, mit der ihn halbjährliche Besuche und die Freude über ihre Geschenke zwischen den Besuchen verbinden.

Während ich dies niederschreibe, besteht er darauf, daß er sich neben dem schnurrenden Computer auf dem Schreibtisch ein Lager bereitet, denn er will mir nahe sein und hat gleichzeitig Mühe, sich überhaupt allein zu beschäftigen. Er hat gelobt, mich nicht zu oft zu stören und bemüht sich sehr darum. Noch einmal befragt, ob er dem Tod nicht doch schon irgendwo begegnet sei, erwähnt er beiläufig tote Bienen und Würmer und überfahrene Schnecken, aber dann fällt ihm ein aus unseren Anfangsgründen des Schachspiels, das ich ihm beibringe, daß sein König von mir einmal getötet worden sei, und das war wie Sterben. Er ist beim Schach nicht für die japanische Variante des Königs, der eine vorwiegend zeremonielle Rolle spielt, sondern der König muß der erste Kämpfer bleiben, und am liebsten wäre er vorwiegend mit ihm herumgerannt und hätte die störende Figuren in seiner Umgebung niedergemetzelt. So kam der Tod nicht im Reisfeld, sondern auf dem Schachbrett, und er muß sich tief mit dem König identifiziert haben, ist ja auch richtig, und sein Ende in Ohnmacht als sein Ableben aufgefaßt haben. Einmal hat er gegen mich gewonnen - ich bin nicht sehr gut und habe auch nicht aufgepaßt - seine Mutter hat es gleich der Nachbarin und den Freundinnen erzählt. In jeder Mutter kann es für einige Augenblicke hochschießen, daß sie ein Wunderkind oder ein Genie geboren hat. Das wäre doch nicht schlecht: Jan schlägt Papa nach nur zwei Tagen Übung, ein ödipales Mirakel, das in die Stadtgeschichte eingehen wird. A propos, er will dauernd größer, klüger, höher, schneller, besser, ausdauernder und schwerer sein als ich und ist dann doch wieder froh, wenn er sich anlehnen kann und ich ihn noch zu tragen oder beim auf mir Herumklettern zu halten vermag. Wenn wir dann zusammen ins gleiche Becken oder in den gleichen Busch pinkeln und unsere Strahle sich kreuzen, herrscht ohnehin eitel Sonnenschein , und seine kleine Unterlänge kann er wieder fast ertragen.

Der Tod umschleicht uns, wenn auch manchmal in winzigen Konfigurationen. Wir schlagen Bremsen tot; wir sehen, wie eine Libelle im Bauch auf dem Rücken im Wasser treibt und mit ungeheurer Willens- oder Instinktanstrengung versucht, wieder hochzukommen und es doch nicht schafft und langsam ermattet, wir müssen sie ihrem sicheren Tod überlassen; wir sehen, wie einzelne Ameisen andere, tote Ameisen fortschaffen, kein Mensch weiß wohin; wir sehen auf der Straße ein platt gefahrenes Einhörnchen, briefmarkenflach, aber immer noch erkennbar an dem buschig ausgefahrenen Schwanz; wir hören in den Nachrichten im Auto vom drohenden oder eingetretenen Tod der über hundert russischen Seeleute, die wahrscheinlich in ihrem Atom-U-Boot Kursk erstickt sind; und ich führe ihn vorbei an mehreren Gruppen von orangenen und schwarzen Nacktschnecken, die sich über eine tote andere Schnecke hermachen und mit ihren Kreissägezähnen anfangen, sie zu verzehren. Zynisch denke ich, das Recykling geht etwas zu rasch vor sich für mein immerhin vorhandenes Pietätsbedürfnis; ausgerechnet diese Bilder versuche ich ihm zu ersparen, obwohl sie ausgezeichnete Gelegenheit böten für pädagogische Diskurse. Er soll nicht zu schnell zu viel Wirklichkeit ertragen müssen, das würde mich auch eifersüchtig machen, wenn er so viel mehr erklärt kriegte, selbst über den Tod, als ich von meinem Vater. Der traute sich kaum, Erklärungen abzugeben, der Nachhall der NS-Zeit hatte zu einem starken Abfall von wahrgenommener Kompetenz geführt.

Dem Leben dient unsere Marmeladenkocherei. Wir schwärmen aus zu den kratzbürstigen Brombeersträuchern, er liebt es, die aggressiven Kampftriebe mit der Heckenschere abzuschneiden, mit Lauten wie "Zack" oder "Hat ihn" oder "Du zerkratzst mir nicht mehr die Knie". Wir sind dann ein Team, er der Jäger, ich der Sammler, es fehlt nur noch die Machete und der Gesang zum Partner-Fangen. Er fragt, ob Löwen auch auf Bäume klettern können, und ich meine mich zu erinnern an Grzimeks Serengetifilme, wo stolze Löwinnen träge in Astgabeln hingen, nachdem sie zwei Gnus verspeist hatten. Aber ich bin nicht ganz sicher, ob es eben nicht doch Panther war. Die Naturkunde in unseren Nachkriegsbüchern war, was Afrika angeht, noch ziemlich dürftig, wir Schüler ab 1944 unterhielten uns darüber, wie man, Tod inbegriffen, am besten Frösche zu Kugeln aufbläst, und welche Strohhalme dafür am besten geeignet wären. Klar war nur, daß man es übers Arschloch machen müßte.

Dort fahren auch die Winde heraus, die Jan mit größtem Vergnügen am laufenden Meter produziert, mein literarisches Ich gibt zu, daß ich auch gern furze, und es scheint sogar pädagogisch günstig, wenn wir es zusammen tun, unisono oder mit Echoeffekt, wegen der wechselseitigen Identifikation. Er bringt mir folgendes Spiel bei: Streckt mir den Zeigefinger hin, ich ziehe, er läßt einen fahren und bedankt sich für die Hilfestellung. So wird Furzen zu einer männerverbindenden, solidarischen und von Hilfsbereitschaft getragenen Aktivität, die fast den ganzen Tag über Spaß macht.

Die Szene kann verfeinert werden, wenn der Gezogene eine verquältes Gesicht zieht, als ob die Zugkraft noch nicht ausreiche, um das Gasgeschoß freizugeben. Dann ist, bei endlichem Erfolg, auch ein aufatmendes Stöhnen angängig, das dem Helfer die Erlösung meldet. Soeben hat er mir noch eine Fernsteuerungstechnik fürs Furzen erklärt: Er baute aus Holzteilen und Nägeln ein Steuerpult, wie es die Kranführer, aber auch die Modellflieger benutzten. Ich mußte, nachdem er das Kabel vom Pult zum Hosengürtel geführt hatte, eine Dreierkombinatin von Knöpfen drücken, erst dann war der Furzknopf freigegeben, und als ich ihn drückte, taten die notwendigen Dezibel kund, wie wohl er sich fühlte. Der Mechanismus mit dem gezogenen Finger galt fortan nur noch als "Nothebel".

Zurück zur Marmelade. Sie zu kochen, kann einen Umgang mit exakten Daten, Gewichten, Kochzeiten bedeuten, und viele Hausfrauen schwören auf die Stellen hinter dem Komma, weil nur sie die Perfektion des Gelees garantieren. Ich bin keine Hausfrau und außerdem trotzig gegenüber allen Rezepten. Wenn ich nur schon lese, man hacke 125 Gramm Zimtstangen klein und wiege 75 Gramm Vanillezucker aus! Elfeinhalb Kichererbsen zur Zier obendrauf! Also gut, ich lasse ihn die Eimerchen mit den Beeren in den großen Topf schütten. Damit es ausreicht für erneute vier Gläser, schnetzeln wir drei Bananen rein, und Nektarinen, die zu hart zum Essen sind. Jan darf rühren, er faßt den Kochlöffel mit zwei Fäusten, reißt fast den Topf vom Herd, wir lassen es brodeln, er staunt über das Schaumabschöpfen, dann schüttet er den Gelierzucker, nach der groben und aufmüpfigen Schätzung des "Fruchtgutes" (Dr. Oetcker) und nach grober Abschätzung der Zuckermenge durch mich, hinein und staunt erneut, mit welche Schlieren und Spiralnebeln der sich in der roten Flut auflöst. Gegen Dr. Oetcker bin ich besonders trotzig, weil das Ganze sechzig Sekunden mit Zucker noch am Feuer brodeln sollte. Nie habe ich eine Stoppuhr zur Hand, eher bin ich versucht, mir für eine lange Minute an den Kopf zu fassen. Dabei sind höchst philosophische Fragen angeschnitten, oder rechtstheoretische: Was ist die Bedeutung des Gesetzes (des Rezepts) oder sein Gültigkeitsgrad? Muß man ihm gehorchen oder darf experimentiert werden? Die Strafe wäre, daß man einmal keine Marmelade, sondern nur Kompott erzielt. Ist Gehorsam gegenüber dem Rezept demütigend oder erhebend? Liegt Sittlichkeit darin, sodaß der Schmerz des Gehorsam aufgehoben wäre in höherer Belohnung, etwa durch Steifigkeit der Marmelade und Selbstachtung des Herstellers?

Mangels geeignetem Trichter schaufle ich den heißen Brei mit einer Schöpfkelle in die Gläser, was es nötig macht, daß ich mit jedem heißen Glas zum Wasserhahn renne und es abspüle, weil sonst die übergelaufene Marmelade sich fast für ewige Zeiten außen am Glas aufhält und die Beschenkten ärgert, wenn sie sie aufmachen müssen. Denn meine Marmeladen-Zufallsrezepte mit Beigaben von Ingwer, Zimt, Pfeffer, Curry, Rum, Rosmarin, Minze usw. sind nicht jedermanns oder gar jederfrau Sache. In den späteren Dankesbezeigungen wird aber meist die Phantasie und die Kreativität gerühmt. Jan, dem einiges von mir schmeckt, fleht aber stets: "Bitte kein Curry!", und dann lasse ich es auch.

Wir beschriften zusammen die Aufkleber, er malt Obst drauf, ich übernehme mehr den schriftstellerischen Teil, aber er will doch wissen, wie man Sherry schreibt, den ich bei obigem Gewürzverzeichnis vergessen habe. Neunzehn Gläser in vier Tagen, dabei natürlich einige Winzlinge von Mövenpick und stehengebliebenen Babynahrungscontainern, in die man fast jede Brombeere einzeln hineindrücken muß, sind unsere stolze Leistung.

Noch einmal zum Tod, weil es grad so süß hergeht: Jan könnte mein Enkel sein, und er lebt in eine Lebens-Zeit hinein, die mir fast unheimlich ist in ihrer Länge und ihrem unbekannten Inhalt. Er wird meinen Tod erleben, vielleicht noch ehe ich sein erstes Kind gesehen habe. Uns hilft nur intensiv gelebte Gegenwart. Von meiner Vorgeschichte und Vergangenheit ahnt er nichts, will er nichts wissen, noch nicht, es scheint ihm unheimlich, so viel gelebte Zeit, bevor es ihn gab. Aber er fragte neulich, wer der Mann auf dem Board über meinem Schreibtisch ist, der einem kleinen Jungen die Hand auf den Kopf legt. Es ist mein Vater mit seinen angeknickten steifen Beinen, aber strahlend, und ich darf wohl sagen, strahlend über mich, und geknipst haben muß uns wohl die Mutter, sie hat das Strahlen auch gesehen und es ihm gegönnt. Den kleinen Bruder daneben, der auch nach dem Besenstiehl greifen will, den ich stolz halte, und der mir überhaupt viel Kummer gemacht hat, muß ich ja auch erwähnen. Jan hat keine Geschwister, aber dafür viele Freunde und Freundinnen, und oft, wenn ich etwas mit ihm unternehmen will, fragt er: darf der X oder der Y mit, und dann muß verhandelt werden. Denn ich mache gerne Sachen mit ihm allein, aber beim letzten, eben diesem Aufenthalt, der in die Geschichte als der mit dem toten Schaf eingehen wird, war für zwei Tage auch Freund Z dabei, den ich gut ertragen habe, sympathisch, hilfsbereit, und dankbar für die Abenteuer, die man so auf Lager hat; und nicht so wie bei X, der ausstrahlt, wie überflüssig Erwachsene sind. Ich habe keine Lust, überflüssig zu sein. Einmal, bei einem Halbtagsausflug, wurde ich richtig depressiv: die beiden hatten eine Wunde berührt, indem sie auch noch Geheimsprache sprachen.

Das war auch schon ein bißchen wie Tod. Bei Jan sehen die meisten Handlungen, Gesten, Gedanken und Gefühle wie gelebt aus, außer, wenn er sich langweilt, das ist seine Form von Beinahe-Tod. Dann schlurft er um mich herum und fragt: "Was können wir jetzt machen?", und ich weiß, daß er diesen Horror vor der Langeweile und vor Zeiten, in denen ihm nicht zu spielen einfällt, von mir geerbt hat. Denn ich konnte Mutter oder Großmutter regelrecht piesacken mit der Frage: "Was soll ich jetzt spielen?" Deshalb muß ich mit ihm ja Kompromisse finden, damit er mich ab und zu eine halbe Stunde schreiben läßt. Er lebt in der Epoche zwischen Vorlesen und selber lesen, und ich bin stolz, daß er hier auf dem Hof, der an sich kein sehr intellektuelles Gelände ist, sich kapitelweise an ein Abenteuerbuch macht. Mehr als tausend Seiten Harry Potter hat ihm die Mama noch vorgelesen, er schlief schon, da las sie noch immer laut und versank in der phantastischen Welt. Ihr, mit der ich nicht zusammenlebe, sei hier ein Denkmal gesetzt, weil sie seine Beziehung zu mir und meine zu ihm so liebevoll fördert.

Weiter vom Tod, das aber auch gelebtes Leben ist: Mit acht kann er mich manchmal schon im Schwimmen schlagen, im Rennen sind wir noch gleich; mit ein wenig Nachhilfe gelang er schon ins Internet, während ich noch nicht weiß, was da ist. Beim Erkennen von Autotypen haben wir so unsere Spezialgebiete: Er beherrscht alle Porsche-Typen, die Formel-Eins-Wagen und deren Fahrer, soweit sie schon einem von der Pool-position aus gestartet sind. Ich bin eher konservativ, kennen die Modell mit dem weiß-blauen Kreis und die mit dem Stern; bei den Japanern ergänzen wir uns, er jubelt bei einem Smart, ich bei einen Jaguar, weil wir beide nicht nur als Autos, sondern auch als Kunstwerke bewundern können. Bei einer amerikanischen Corvette, diesem plattgedrückten Prunkphallus, tippen wir uns an die Stirn, wahrscheinlich aus leicht verschiedenen Gründen, aber doch einig. Einigkeit ist phasenweise ein hohes Gut, bis wieder Themen kommen, bei denen wir streiten, oder wo er mich grober Unkenntnis überführt.

Er ist froh, daß ein Mann auch kochen und bei einem nächtlichen Unglück auch Bettwäsche auswaschen kann, dann ist das Reich der Frauen und der Männer nicht so tief gespalten und auseinanderdriftend; darauf achtet auch seine Mama, die es sogar gerne sähe, wenn er Pfeil und Bogen oder die Wasser-Maschinenpistole ab und zu weglegen würde, um eine Barbie-Puppe zu herzen (leicht als Ironie zu erkennen). Eine Katze, die er knuddelt und füttert, tut es aber auch.

Wir sägen dünne Bäume und dicke Äste ab, fahren den überflüssigen Schafmist in eine kleine Senke, wo er zu Erde verrotten soll; prüfen die Äpfel und verziehen die Gesichter, es ist ja noch nicht Oktober. Heizen im August zur Probe den eisernen Ofen an, weil man durch die Scheiben die Flammen so schön sieht; verbrennen viel Altpapier auf dem von viel Stroh durchsetzten trockenen Mist und wundern uns, daß ein qualmender Schwelbrand entsteht, schleppen Einer mit Wasser herbei und freuen uns, wenn es untermistig zischt wie in einem Köhlerhaufen. Schleppen grüne Falläpfel eimerweise auf die Schafweide, damit die sich die Zähne ausbeißen könne, was sie auch gerne tun.

Mein Leben wird in Spuren weiser, aber weniger vital. Jan kann sich oft kaum halten vor Sprunggier und Lauf- und Rauflust. Er kann schon länger kicken als ich mich konzentriere aufs Schreiben oder Korrigieren. Er erhöht mein Leben, während es leise abnimmt. Vielleicht schaffe ich es doch, mich ohne Einbuße von innerem Gleichmut von ihm im Schach öfter schlagen zu lassen, und zwar echt, ohne absichtsvolles Übersehen der Fallen, die er mir stellt. Noch einmal zum Tod: Ich liebe das Momento Mori, das er mir bietet durch seine Lebendigkeit. Nicht daß ich melancholisch würde, sondern er hilft mir, an die verrinnende Zeit zu denken: Nicht einfach wie immer weitermachen, sondern mich auf Veränderung und Wandel einlassen, vorsichtig mit der Aufgabe der Bilanz umgehen, immer öfter mal fragen: Was will ich noch; manchmal sogar schon: Abschied nehmen. Denn wie oft werden ich noch Berlin sehen oder die Toskana? Ich war nie in Südamerika. Das Fernweh erwacht. Sollte ich dort gewesen sein? Oder in Rußland? Was von diesen noch anstehenden Reise könnte ich mit ihm machen, einem wachen Augenzeugen, dem ich so gerne etwas erkläre, solange er dankbar lauscht? Aber auch das Streiten ist schön, weil es von viel Liebe getragen ist. Vorsicht, bleib diesseits des Kitsches. Den verzeiht St. Marcel, der Literatur-Rhabbii nicht. Und ich mag den Kitsch auch nicht, könnte aber schon mal weggetragen werden von ihm.

Etwas gereinigt von einigen weniger angenehmen Eigenschaften, und etwas idealisiert in seinem Urteilvermögen und Kenntnisreichtum, sogar seinen nationalliterarischen pädagogischen Absichten, könnte ich ihn in mein schreibendes Gewissen einbauen, um tapfer zu werden, wenn der Stilwille erlahmen will. Was ich am schlechtesten vertrage, ist sein stürmisch oder mißmutig oder besserwisserisch oder gar schimpfend geschüttelter Zeigefinder. Da tauchen die urigsten Schreckensbilder aus früher Kindheit auf, nicht im Elternhaus, sondern ein drohender und prügelnder Lehrer, mit Ach und Krach der Entnazifizierung entkommen und sofort wieder auf die Dorfjugend losgelassen, und keifende Alte, von denen man nicht wußte, wie gefährlich sie waren. Kann ich etwas für meine Kindheitserinnerungen und -ängste, die er wecken kann?

Sollte ich sie unter Verschluß halten, weil Marcel ein Jude ist? Ich sage doch, ich könnte ihm gut und gerne Einlaß geben ins schreibende Ichideal. Von ihm könnte ich Belehrung, aber nicht Bevormundung ertragen. Natürlich hat er sich geirrt, als er Walser und Grass erziehen wollte. Bei Siegfried Lenz ist es ihm geglückt, aber der war schon erzogen in seinem Sinn. Man darf sich ja auch einen Erziehungsversuch wünschen. Schwererziehbar bin ich allemal.

Jan hat mich bisher noch nie gefragt, was ein Jude ist, was mich zunächst dankbar stimmt, weil ich dann auf eine gründliche, wenn auch einfache Weise nachdenken müßte. Dabei hört er ja zwangsläufig oft genüg den Ausdruck. Aber ich wachse der Frage entgegen, und vielleicht würde ich Gewinn aus dem Ringen um eine aktuelle, zeitgeschichtliche, historische und biblische Frage ziehen. Er, Bruder Marcel, ist erfolgreich, längst eine Figur der Zeitgeschichte, und braucht meiner Schonung nicht, schon gar nicht einer Schonung, die den Holocaust als Notbremse gegen unmittelbare Eindrücke verwendet. Es macht etwas mit mir, wenn er schwankt zwischen einem deutschen Juden, einem jüdischen Deutschen, einem Juden in Deutschland. Ich wünsche ihm mir als jüdischen Deutschen, von dem man sagen darf, daß er Jude ist, ohne schon gleich wieder Schuldgefühle zu bekommen oder befangen zu werden..

Ich bin sehr wohl noch bei Jan und seiner bisher nicht gestellten Frage. Ich fürchte und hoffe, daß er sie stellt, und daß das tote Schaf mit seinem unsäglichen Tod ihr hilfreich vorausgeht und mich nötigt, in meiner Seele Ordnung zu schaffen, so daß ich einen Weg finde zwischen dem Wissen, den vielfältigen Emotionen, und der eigenen kindlichen Seelenvergiftung aus den letzten Jahren der Hitlerzeit. Jan kann sehr gut dosieren, was er an sich heran läßt. Das setzt auch seiner Neugier Grenzen. Da fordert er mich zu wenig, aber es geht ja nicht um meine Bedürfnisse. Aber Wünsche, auch solche der Anregung zum Reifen, wird man ja noch haben dürfen.

Brief an meinen Feind Augustinus

Kann man wütend sein oder sogar von Haß erfüllt gegen einen Mann, der seit mehr als sechzehn Jahrhunderten tot ist? Hat er mir etwas getan, oder anderen, die mir wieder etwas antaten? Er soll Weltliteratur geschrieben haben, hörte ich, die aber nur Theologen lesen. Ich habe ihn in manchen Kirchen und Museen gesehen, in leuchtendem Ornat, ein Kirchenvater, die Bibel im Arm oder das von Gottes Liebespfeil durchbohrte Herz in der Hand. Im Ornat wirkt er abschreckend, weil oft allzu demonstrativ "zur Ehre der Altäre" erhoben, ein Glaubenszeuge, der aber nicht mehr ringt, sondern lehrt und weitergibt und repräsentiert; ein Feind des Irdischen und der Fleischeslust, Exponent der triumphierenden Kirche, von der Gegenreformation erneut auf einen unsichtbaren, nein, sehr sichtbaren Schild erhoben, in der vom Kardinal Borromini aus Mailand vorgeschriebenen Ikonographie der unter dem Kreuz und unter der himmelwärts strebenden Maria versammelten religiösen Granden. Sie stehen wie eine Barriere zwischen der Masse der Gläubigen und den Heilspersonen. Sie sind die Mittler zur Mittlerin, die inzwischen zur Himmelskönigin avanciert ist.

Icherzähler, alter ego, geliehenes Ich und dunkler Schatten

Ein Ruf geht ihm voraus, als ich in der Jugendstrafanstalt hospitiere: man hat ihn aufgegeben, die Vollzugs-Beamten wagen sich nicht mehr in seine Zelle, er gilt als Bestie, so viel Wut, wie in dem kocht, habe man sein Lebtag nicht gesehen, und das will etwas heißen in einem Jugendknast. Die Braven dürfen hinaus, zum Freigang, und den Beamten die Gärten umgraben. Die anderen montieren kleine Teile zusammen, Halbfertigzeugs für auswärtige Firmen, die sich derer billigen Gefangenenarbeit bedienen, und für deren Ausbeutungsangebot man doch dankbar ist. Viel Kleinkorruption ist im Gang unter den Gefangenen, denn es gibt Vorzugsposten, die mit erheblichen Vorteilen verbunden sind; Bestechung vielleicht auch mit dem einen oder anderen Bediensteten, alle paar Jahre fliegt einer auf, oder ein Anwalt wird angezeigt, weil er verbotene Briefe mit hinaus genommen oder herein gebracht hat.

Jürgen O. hat nicht einmal gemeinsamen Hofgang, er sitzt in seiner Zelle und will niemanden sehen. "Der verbrennt noch in seiner Wut", sagt der Fürsorger. Die Beamten schütteln den Kopf, als ich mit meinem Bücherpaket, aus dem ich leselustige Jugendliche leihweise bediene, zu ihm in die Zelle will. "Bleiben Sie unter der offenen Tür stehen! Gehen Sie nicht rein in die Zelle, Sie brauchen einen Fluchtweg! Und ich werde ein Auge auf die Tür haben", sagt der diensttuende Beamte. Mein

Berufsziel, freudianischer Heiler zu werden, steht zwar fest, aber ich bin noch weit davon entfernt, die Anfangshürden der charakterlichen Begutachtung meiner prospektiven Tauglichkeit absolviert zu haben. Der Icherzähler versucht sich jetzt loszureißen von meinem aktuellen Ich, denn manches ist in der Rückschau etwas peinlich. Allerdings habe ich in den letzten Tagen fünfunddreißig Jahre nach seiner damaligen zweiten Entlassung Jürgen O. wieder getroffen, und das mit ihm Durchlebte und mit seiner Hilfe Verstandene ist nicht zum Schämen. Aus einer hoch neurotische Verstrickung zwischen einem protestantischen Jüngling auf Helfertrip und einem in der bürgerlichen Gesellschaft nahezu verlorenen Hurensohn ist eine erstaunliche Beziehung geworden, auch wenn immer wieder Jahre zwischen den Begegnungen liegen. Er war für einige Jahre mein Schatten, mein alter ego: Ich, verklemmt und eingeengt, lebensängstlich und richtungslos in oft leerer Instrospektion schwimmend; schwer von Untätigkeit im realen Leben, aber berauscht durch das Geflimmere und Gewispere im Kopf, von dem ich, wenn die Wirklichkeistsprüfung Ausgang hatte, annehmen wollte, daß es etwas mit den leisen Geräuschen des Weltgeistes zu tun hatte.

In Adornos Kopf wisperte schließlich auch der Weltgeist, und den hatte ich mir schließlich einige Semester lang angehört.

Ich (dichterisches Ich) fühlte mich getragen von einer Sendung und hatte keine Angst, nur Herzklopfen, aber mehr von der Erregung vor einer wichtigen Begegnung. Bevor man eine Zelle betritt, schaut man in der Regel durch den Spion. Die Gefangenen hören das feine Geräusch, mit dem die kleinen Klappe vor dem Guckloch beiseitegeschoben wird. Man kann sie kaum täuschen, auch wenn manche Beamten immer wieder versuchten, die Gefangenen zu überlisten. Da ich längst mit meinem Herzen auf der Seite der Schächer, Mörder, Zöllner und anderer abseitiger biblischer Existenzen war, die sich hier noch einmal versammelt hatten, um mir die Chance zu jesuanischer Wohltätigkeit zu geben, verzichtete ich auf den Spion und tat etwas, was im Knast nicht üblich war: Ich klopfte an. Ich war zu jener Zeit längst nicht mehr gläubig, aber eine der Erkenntnisse aus der Beziehung zu Jürgen O. war die: die Denk- und Fühlfiguren frommer Zeiten können sich unbeschädigt erhalten, auch wenn der Geist des Hauses, also Gott, daraus entwichen ist oder verabschiedet wurde. Daß man (ich) einmal heiligmäßige Taten verbringen wollte, wird nicht dadurch hinfällig, daß man dem ursprünglichen Anstifter zu solchen Dingen nicht mehr so recht traut oder nicht weiß, ob es ihn gibt. Die innere Bereitschaft überdauert, und aus dem himmlischen Lohn wird der irdische des vor Behagen brummenden Gewissens, das man sonst nur als ächzend kennt, in meinem Fall, was die Jugend angeht, meist unter eingebildeten Sünden. Würde ich also den hoffnungslosen Fall Jürgen O. auf die rechte Bahn zurückführen und auch sonst ein Licht in seine finstere Seele bringen können, dann würde ein Teil meiner fast angeborenen Erdenschwere sich vielleicht leichter tragen lassen. Denn seinem Seelendunkel entsprach ein Hautdunkel, indem nämlich ein maghrebinischer (im Gegensatz zum cherubinischen) Wandersmann und entlassener Krieger aus dem Dienst der französischen Besatzungsarmee, der mit nordafrikanischem Tand, aber auch kostbareren Metallgefäßen und Einlegearbeiten plus Lapislazulibroschen handelte, die bereits erwähnte deutsche Dirne schwängerte und sie nach seinem Ehrenkodex heiratete. Ein "ungünstiges Aussehen", wie ich es in einigen Gerichtsakten ausgedrückt fand, ist sicher eine wohlwollende Form der Umschreibung, und ich glaubte fast zu spüren, wie der Staatsanwalt oder der Richter mit erheblicher Anstrengung rassistische Anwandlungen niederkämpften. Wäre Jürgen O.s verderbter Charakter tatsächlich auf rassische Einflüsse zurückzuführen gewesen, sagen wir einmal mit hinlänglicher oder ausreichender Kausalität, so wäre allen Beteiligten eine genauere Untersuchung seine lebensgeschichtlichen Belastungen erspart geblieben. Im besten Fall galt J. O. als "armer Tropf", den das Schicksal gleich mehrfach geschlagen hatte, nicht zuletzt eben durch ein Gesicht, das ich selbst zurückhaltend als furchteinflößend häßlich bezeichnen würde, wenigstens unter den Umständen, unter denen ich ihn kennenlernte, also in der Hochphase seines Hasses auf die Anstalt und die Welt, wobei hinter dem Haß ein tiefer Gram sichtbar wurde, so daß die Wut ihn eher verschönte. Sie verlieh seinem Gesicht einen ungeheuerliche Charakter, an den ich später dachte, wenn ich in Berlin einige der Schinkelschen Kriegerköpfe betrachtete, in denen sich ebenfalls, neben anderen Affekten, die Mischung aus Gram und Wut studieren läßt.

Ich klopfte also mit meinem Schlüssel (immerhin, der Finger wäre ziviler gewesen) und hörte von drinnen zunächst NICHTS, intensiv nichts, wobei sich das Nichts langsam anfüllte mit dem Pochen meines Herzens. Dann ein mehrfach gebrülltes "raus, raus raus!", und dann wieder nichts. Darauf ein rohes "Wer ist da?", worauf ich, wahrheitsgemäß, sagte: "Der neue Praktikant!" Meine normale Berufsbezeichnung wäre gewesen "Doktorand in Soziologie", dazu noch in Sachen Jugendkriminalität, aber die durch die mehrere Zentimeter dicke Holztür zu posaunen wäre mir idiotisch vorgekommen. Meinem Ausspruch folgte eine höhnisch grobe Lache, die mir mitzuteilen schien: "Solche Weicheier (damals ein noch nicht üblicher Ausdruck) sind mir schon mehrere untergekommen, verpiß dich!" Und nun entfaltete sich durch die noch geschlossene Tür schon ein Monolog, der mir bewies, daß er schulisch nicht über die sechste Klasse hinausgekommen war, aber über subkulturelle Sprachschätze verfügte, die mich tief beeindruckten. Noch wußte ich wenig von seinem Herkunftsmilieu, sondern schrieb alles seiner eigenständigen Originalität zu, was bereits Zeugnis ablegt für meine beginnende Idealisierung J. O.s als eines hochbegabten Gesellschaftsfeindes, dem die Dumpfheit unserer pädagogischen Institutionen nicht erlaubt hatte, sich schulisch und beruflich zu profilieren. "Verpiß dich, du schwule Sau, laß dich vom Anstaltsleiter arschficken, dann weißt du, wo dein Praktikantenverstand herkommt. Was mußt du deine geile Nase hier in diesen Puff stecken, du weißt ja sowieso nicht, wer hier mit wem herum vögelt. Du Seelenspanner, wenn du hier reinkommst, reiß ich dir die Eier ab, dann kannst du im Kirchenchor den Sopran singen. Ich hab schon gehört, daß ein neuer kastrierter Brillenstenz hier rumläuft." Ich war echt beeindruckt, neugierig, ja hörgierig, und ein wenig enttäuscht, als die Rede abbrach. Wieder längeres Schweigen. So wie ich immer neugieriger geworden war, so er wohl auch, denn er rief: "Komm rein!" und beäugte mich aus einem Gesicht, das durch eine einglasige Brille und die fruchtlose Anstrengung, nicht zu schielen, noch mehr entstellt war. Er hatte sie nach dem Beamten geworfen, dabei war ein Glas zerbrochen, und zu Strafe kriegte er für einige Wochen keine neue. Er saß vor einer Zeichnung, Zeichnen war seine Leidenschaft, Arbeit verweigerte er, der Anstaltspfarrer hatte ihm schon vor längerer Zeit einen Block und Stifte gebracht. Er fragte: "Was willst du?" Das wußte ich nicht zu formulieren, es wäre auch ungehörig gewesen, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte: "Einen jugendlichen Delinquenten kennenlernen, den die Anstalt aufgegeben hatte." Damit wäre ich der Seelenspanner gewesen, den er fluchend in mir vermutete. Es hätte mehr gestimmt, als ich später ein paar jugendliche Mörder kennenlernte. Die waren zwar für den tatgehemmten Jüngling mit ebenso viel dünnflüssiger, aber eben nur in den Adern kreisender Wut gruseliger. Aber dafür schob sich das wissenschaftliche Interesse zwischen uns, und ich fragte die verurteilten Jugendlichen, weit distanzierter, ab nach einem halboffenen Interview-Schema, das sich, wenn es gut ging, für eine Dissertation eignen würde.

Mir fiel keine rechte Antwort ein auf seine Frage, was ich wolle, und ich wußte auch nicht, wie man mit einem solchen Wesen ein Gespräch beginnt. Also schwiegen wir, betrachteten uns, maßen uns, und es tat sich viel. Es war für beide eine neue Form von Beziehung: das reine Anschauen und nicht Wissen, wie viel der andere sieht. Zwei schräge Vögel aus ganz verschiedenen Nestern und Bäumen. Ich leuchtete ein wenig vor Gutwilligkeit, aber das schien er als Maske zu nehmen, hinter die er zu blicken versuchte. Gutmenschen hatte er genug verbraucht, er zog sie ja an, weil er so ein armer Tropf war, in dem lohnende Eigenschaften zu wohnen schienen, die nach Erlösung schrien: Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Sonderschullehrer, Heimpädagogen, Werkstattleiter, Fürsorger, Gerichtshelfer, Bewährungshelfer, Polizisten, Anwälte, Staatsanwälte, Richter, Jugendarrestlehrer, Strafvollzugsleiter und noch ein paar, die ich vergessen habe. All dies wurde in ihm wach, ich fühlte mich geprüft, und langsam schmolz etwas in ihm, er spürte wohl, wie naiv ich war im Vergleich zu ihm, aber nicht ohne zugewandten Hintergrund, den ich schwer benennen kann. Zwischen uns flossen Eigenschaften hin und her. Er muß meine Idealisierung gespürt haben, meine unprofessionelle Unbeholfenheit, meine Bereitschaft, seine Person für etwas Wertvolles zu halten, die durch ihre gefährliche Andersartigkeit einen Sog ausübte auf mein Gemüt. Und in der Tat, meine Scham über mein ereignisloses, ohne äußeres Risiko verlaufendes Leben gab der Seele einen Schub, ihn als einen fast beneideten Bruder anzuerkennen, ja zu adoptieren. Er lebte in Bereichen, in die ich mich nie hineintrauen würde, bezahlte natürlich einen erheblichen Preis, aber der schien mir damals gar nicht tragisch, denn mein eigenes Gefängnis der Depression und des Selbstzweifels schien mir viel geschlossener: Er würde im Lauf von Monaten oder Jahren freikommen; ob ich je freikäme vonihr, war ungewiß. Obwohl er in einer engen Zelle saß, war er für mich der Freie, so verdreht dachte, nein fühlte ich damals. Denken kann ich erst heute klarer, nicht zuletzt, weil ich ihn erst vor kurzer Zeit getroffen habe und mein Mut größer geworden ist, unseren emotionalen Austausch besser zu verstehen.

Unsere Augen ruhten ineinander, und es war, als hätten sich in einem Menschenzoo hinter Gittern zwei einander fremde Tiere getroffen, die langsam, sehr langsam entdeckten, daß sie vielleicht einer verwandten Spezies angehört. Seine Augen wurden feucht, und mir war klar, daß ich eine Verantwortung übernahm: ihn nicht zu enttäuschen, wie sehr er auch mich enttäuschen würde. Und das tat er später mit einer Wucht, die mich wanken ließ, und die mir den Spott der Fachleute eintrug.

Meine ersten Worte waren: "Ich bring dir Bücher, wenn du willst." "Bücher kannst du dir unter die Vorhaut klatschen!"

"Wieso, kannst du nicht lesen?" Er verdreht, nachdem er die Kränkung weggesteckt hat, die Augen voll bitterer Enttäuschung ob meiner Unwissenheit über seine Geistesgaben: "Lesen konnte ich schon im Kindergarten." Das war die erste Kostprobe seiner Größenphantasien, mit denen er sich in vielen Situationen über Wasser hielt, aber auch riesige Abstürze riskierte. "Probier doch mal dies hier", sage ich, und reiche ihm aus meinem Köfferchen Salingers "Fänger im Roggen" hin. Dann verzog ich mich. Der Beamte staunte, daß ich unverletzt entkommen war.

Nach zwei Tagen ließ er mich über den Kapo, der das Essen durch die Luke schob, rufen, mit den Worten: "Sag ihm einen schönen Gruß von Tigerfresse!, und "Der neue Dachdeckerarsch soll mal vorbeischleichen!" Ich war dem Psychologen zugeordnet, der der Dachdecker hieß im Jargon, ein Ausdruck, der die meisten Gefangenen, wenn sie zum Gespräch geladen wurden, ausreichend immunisierte gegen alle Versuchungen, aufrichtig zu sein. Es wurden die Gerüchte gepflegt, daß jener ebenfalls an einer akademischen Arbeit säße und in den "Gesprächen, die er einem aufdrängelt, nur absahnen will."

Tigerfresse wollte einige Wochen lang nichts gefragt werden über sein Leben; schon gar keine Fragen zur Ursachenforschung über sein an Übel- und Schandtaten reiches Leben.

Dem Salinger verdanke ich es, daß er annahm, ich hätte das Buch gezielt für ihn (was ja zum Teil auch stimmte) ausgesucht. Er fand darin einen Seelenverwandten, und mit dem Buch hatte ich auch ihn erkannt, ohne daß es vieler Worte bedurfte.

Ich weidete mein frommes Herz an seiner zynisch-witzigen, abenteuerlich dreckigen Sprache, und er weidete sich an meinem Interesse dafür. Er hatte schon vielen Menschen packende "stories" aus seinem Leben erzählt, so daß er unerschöpflich aus einem Strom von skurrilen, gefährlichen, präpotenten, aber auch demütigenden Anektdoten erzählen konnte, ohne seinen Affekthaushalt zu strapazieren. Sein Ich blähte sich ein wenig auf, was von meinem armen Ich genährt wurde, indem ich mich, des delinquenten Milieus und Jargons noch weitgehend unkundig, gleichsam zum Gefäß machte, in das er allmählich sein zerhacktes Leben in vielen Einzelteilen wie in ein großes Gefäß hineinfließen ließ, in einem Sprachreichtum, hinter dem ich die Armut noch nicht spürte, der mich fast lüstern andächtig machte.

Ich hatte mich immer schon interessiert für die Pysychologie, die Erlebnisse der jüngsten Matrosen, der im Mastkorb großer Segelschiffe Aussschau halten mußten entweder nach neuen Gestaden oder gar Kontinenten, oder nach dem Feind auf hoher See. Tigerfresse weihte mich nun ein in eine andere Form des Daseins im Mastkorb. Seine Mutter betrieb nämlich ihr uraltes Gewerbe in ihrer Einzimmerwohnung. Wenn nun ein Freier kam, so ließ ihn die Mutter erst noch wenige Minuten vor der Türe warten, bis sie den Jungen vorübergehend entsorgt hatte. Sie setzte ihn in einen Karton hoch auf ihrem einzigen Schrank. Dort solle er verborgen bleiben, bis der Besuch wieder verschwunden war. Eigentlich hätte er sich sogar in den Karton ducken sollen, um ganz und gar unsichtbar zu sein. Aber das ließ seine Neugier nicht zu, und so streckte er seinen dunklen Wuschelkopf immer wieder über den Rand und blickte hinunter und sah zu, wie seine Mama unter meist schwarzen Männern verschwand, denn sei lebte später am Rande einer amerikanischen Garnison. Er wußte lange nicht so recht, wie ihr geschah, weil sie zugunsten des Geschäfts merkwürdige Laute von sich gab, erst recht die Klientel. Mit der Zeit wurde er kecker und winkte ihr zu, da sie den Kopf ja meist frei hatte. Die Freier staunten, wie sie abwechselnd drohte oder unkontrolliert lachte oder mit einer Hand winkende oder scheuchende Bewegungen machte. Er wußte, daß sie in diesen Zuständen relativ wehrlos war, wußte aber auch, daß es in den Zwischenzeiten Dresche geben würde, was er aber in Kauf nahm, weil das Gaukelspiel einfach zu aufregend war.

Diese regelmäßigen Prügel haben ihn, so betont er, für sein ganzes Leben abgehärtet. Das kann ich ihm nur glauben, ich zucke schon zusammen, wenn jemand in meiner Nähe die Hand hebt, egal zu welchem Zweck, und die Backe tut mir schon weh lange vor dem Schlag, der dann meist gar nicht kommt. An den Prügeln, die er in seinem Leben bezogen hat, wäre ich mehrfach gestorben, weil ich mich ab einer bestimmten Schmerzgrenze einfach verlöschen lassen will. Auch hier war er also ein vollkommenes Gegenbild, der Antibruder, dem es anscheinend nichts ausmacht, daß er längst keine Vorderzähne mehr hat. Als ich ihn neulich zum Essen einlud, merkte ich, daß er ein weichgebratenes Hühnchen zwar bewältigen konnte, nicht aber ein knusprig gebackens Brötchen, das er dezent liegen ließ. Da die Mutter aufgrund ihrer Gewissensresten mit ihrem Gewerbe nicht einverstanden war, sie also auch ihrem Sprößling gegenüber Schuldgefühle hatte, bildete sich über das leicht verdiente Geld eine Art Abzahlungskonvention heraus. Der Knirps hatte immer so viel Geld, daß ihm alle Stundenlöhne, die ihm je angeboten wurden, einfach lächerlich vorkamen. Die Mutter war eine sprudelnde Quelle von Prügeln und Geld, und so organisierte er später seine Existenz, eben so, daß das Leben im ganzen, oder die Gesellschaft, ein Abbild dieser allumfassenden Mutterfigur wurde, pendelnd zwischen grober Härte und schwer vorhersehbaren Schüben von Verwöhnung, durch andere oder auch via Selbstverwöhnung, durch Diebstal, Einbruch, Hehlerei, Dealeni, Erpressung und anderes.

Der Vater hatte sich früh wieder in den Maghreb aufgemacht, er blieb ein mythischer Mann von unklarer Kontur, der eben keinerlei Grenzen setzte oder keinerlei Bericht vom wirklichen Leben gab, so daß sich Jürgen O. eben nur in seiner delinquenten Welt oder im Hurenmilieu auskannte. Obwohl das Leben in der Welt der Kriminellen hart ist, brauchte er unendlich lange, um sie zu verlassen.

Er diskutierte viel mit mir, seltsamerweise aus einer Sicht des Überlegenen, und ich war fasziniert, so viel durch wenig reale Kenntnisse der ihm nicht zugänglichen Welt getrübten Zynismus zu erleben. Übrigens stimmt die Behauptung "durch wenig reale Kenntnis getrübt" nicht ganz: Er hatte ja viele soziale Situationen erlebt und durchlebt; der Zynismus bezog sich auf die Psychologie und die Motivation all derer, die sich mit ihm pädagogisch oder juristisch befaßt hatten, und er breitete sich aus auf die übrige Welt: es waren alles egozentrische Narzissten, selbstverliebt, heimtückisch und trickreich; darunter einige, denen er gute Absichten zubilligte, aber das waren die Naiven, die Gutmenschen, und es war spürbar, daß er gelegentlich darunter litt, wenn ihre Künste durch vorzeitige Ermattung und Resignation an ihm zuschanden wurden. An der Bitterkeit konnte ich erkennen, daß jedes Mal ein Stück Hoffnung zu Bruch ging. Aber die Prüfungen, denen er seine Betreuer unterzog, waren zu schwer. Seine Fähigkeit zu vertrauen war zu tief beschädigt, und die Welt, in die sie ihn locken, ziehen oder zerren wollten, war gar nicht verlockend für ihn, weil sein angeschlagenes Selbstwertgefühl das Ausmaß von sozialer Inkompetenz nicht ertragen wollte, in das er dort verfallen wäre. Da er das wußte, setzte er den Erziehungsversuchen instinktiven Widerstand entgegen, wollte aber der Zuwendung doch nicht entraten und spielte also immer wieder, vom frühen Kindesalter bis zum Knast, das Resozialisierungsspiel mit (manchmal fragte er mich höhnisch, ob ich ihn auch resozialisieren wolle), und bereitete den hilfreich sein wollenden Personen desto schwerere Niederlagen, für die sich nicht wenige von ihnen auch rächten. Das festigte nur sein mißtrauensvolles Bild, und er wußte, daß er immer inmitten aktueller oder potentieller menschlicher Katastrophen lebte.

Ich wollte ihn doch resozialisieren, weil er längst mein Bruder war. Sozialisieren wäre besser. Er war selektiv hochintelligent, aber in die Intelligenz war Gift eingebaut, und aller Wunsch zu Reifung und berufstauglichem Lernen war von tiefer Resgination unterminiert. Das wollte ich nicht wahrhaben und startete pädagogische und therapeutische Versuche, über die ich mich heute ein wenig schäme. Ich stand der Welt trotz langer Studien ziemlich ahnungslos gegenüber; er hatte zu viel Ahnung von Subkulturen und übersetzte deren Mechanismen bruchlos auf die ganze Gesellschaft, die demnach korrupt, verlogen, egoistisch, machtgeil war. Ich geriet unter Beweisnot und wollte ihm ein Entrée über den Weg der Kunst ebnen, weil ich manches an seinem Bildern für hoffnungsvoll genialisch, wenn auch ungeübt hielt. In manchen Fragmenten seine Seele hielt ich ihn für überlegen, aber eben auf seine verderbte Weise. Er träumte vom Leben eines Fotographen, und ich kaufte ihm eine Fotoausrüstung, als er entlassen wurde. Er lief mit der Kamera, die er an einem langen Riemen in Hüfthöhe trug wie ein phallisches Diadem, durch die nahe gelegene Stadt, knipste wie wild, nahm die professionellen Posen eines Reporters ein, die aber etwas skurril wirkten. Seine Bilder waren nicht zu gebrauchen. Ich wußte nicht, daß er dem Vorbild eines entfernten Verwandten nachjagte, ohne die Mittel und die Motivation zu haben, die nötigen Lernschritte zu gehen. Einige Jahre später, als er in Spanien für drei Jahre einsaß wegen Autodiebstals und Dealen und anderen Delikten, zu Beispiel jahrelanges, riskantes und abenteuerliches Fahren ohne Führerschein, produzierte er in der Zelle schlüpfrige Zeichnungen und Ölgemälde, und der dortige Direktor des offensichtlich nicht allzu strengen Knasts verkaufte sie an einen Händler auf dem Touristenmarkt, wobei die kaufwillige Kundschaft mehrheitlich eher aus damals mit Schlüpfrigkeiten eher noch unterversorgten frommen Spaniern bestand.

Ich glaubte lange an seine Kunst und hoffte auf den Übergang vom kriminellen Milieu ins Überleben in der halbseidenen Bohème. Das schien wiederum in einem italienischen Sommer zu gelingen, als er sich bis zum Einbruch eines kühlen Herbstes als Pflastermaler durchschlug. Die Revierkämpfe um die besten oder ergiebigsten Malplätze kosteten ihn wieder Brille und einige Zähne. Dies gehört zu seinem Bild: die Kurzsichtigkeit, weil die Brille in Scherben ging. Das führte wohl auch dazu, daß er eher weniger ein Schlagender als ein Geschlagener war, jedenfalls konnten die hundert Arten der Selbstschädigung schmerzen.

Aber ich bin vorausgeeilt. Noch sind wir in der Jugendstrafanstalt, und noch ringe ich heimlich um seine Resozialisierung, sprich Sozialisierung. An diesem Punkt war ich nicht ganz aufrichtig, ein wenig wollte ich ihn doch auf meine Seite des Lebens ziehen, um selbst ein wenig weiter in seine Bereiche vorzudringen. Ein Austausch von Anteilen unserer Persönlichkeiten, um sie sozusagen neu zu mischen. Kriminell wollte ich nicht werden, aber wenigstens in Ansätzen zu einer ähnlichen Freiheit von Konventionen kommen. Sicher habe ich manches aufgenommen, freilich meist nur passiv. Doch unkonventionell bin ich trotzdem nur im Denken und Schreiben geworden. Und bis er ein wenig auf meine Seite des Lebens kam, dauerte es vom Zeitpunkt der erste Begegnung noch dreißig Jahre.

Er führte in der Anstalt ein lebhaftes Sexualleben, das ich nur mit Faszination und Grausen anstaunen konnte, das mir aber damals noch, von der Seite des verklemmten Gewissens aus betrachtet, unnatürlich und vor allem seinem moralischen Wachstum entgegenstehend erschien. Er schaffte es nämlich, mit einem als Lustknaben bekannten jungen Häftling D. in eine Zweierzelle gelegt zu werden. Da diese Verhältnisse in der Anstalt mehr oder weniger bekannt waren, kann ich nur vermuten, daß die Beamten mehrere Augen zudrückten oder die Liaison sogar förderten, weil sie sich mehr Ruhe und weniger Aufsäßigkeit versprachen. Ich hatte mir nun das absurde Ziel gesetzt, Jürgen O. durch geduldige Gespräche aus den Fängen dieser unmoralischen Verhältnisse zu befreien, um seine Seele aufnahmebereit zu machen für ethisches Wachstum und allgemeinbildendes Lernen. Ich lag im Bann der psychoanalytischen Sublimationstheorie, die besagt, daß die rohen Triebe, mindstens partiell, durch Verzicht und Verfeinerung zu den höchsten Kulturleistungen die Schubkraft erbringen könnten. Jürgen ließ sich auf langwährende Verhandlungen mit mir ein, gab halbe Zusagen, versuchte Vergünstigungen auf anderen Ebene herauszuholen. Bei diesen Verhandlungen fühlte ich mich, ohne dies so zu spüren und benennen zu können, wie ein Missionar bei den Heiden, denen er ihre lasterhaften Götter auszureden versucht zugunsten einer frommen Selbstkasteiung und dem Studium der Gebrauchsanweisung für einen monotheistischen Gott, wessen Wert ihnen zunächst nicht im geringsten einleuchtete. Aber im Lauf der Zeit merkten sie, daß die Missionare auch ein Füllhorn von Vorteile zu bieten hatten, und so kam es bei vielen Stämmen zu einem regelrechten Tauschgeschäft. Selbst dem Lustknaben versuchte ich, wenngleich angewidert, insofern Moral beizubringen, als ich ihm die Sorge um die bürgerliche Zukunft von Jürgen ans Herz legen wollte. Daß das ganze etwas mit meiner eigenen windungsreichen, gefürchteten untergründigenTeil-Homosexualität zu tun haben könnte, steckte ich in eine Seitentasche meines Unbewußten und beließ es dort. Nur ab und zu durchzuckten mich Phantasieblitze, in denen ich mir die Lustbarkeiten der beiden vorstellen mußte, und stellte verschämt fest, daß ich neidisch war auf diese Knastehe, die ja durchaus ihren eigenen ethischen Wert hatte, indem es ein Fürsorge- und Schutzverhältnis war. Denn der Knabe, den ich jetzt nicht mehr Lustknabe nennen kann, sondern einen anmutigen und auch verschlagenen Underdog, fühlte sich von vielen Seiten bedroht, bezog viel Prügel, und es drohten ihm immer wieder Vergewaltigungen. Im Schutz von J. O. aber blühte er auf und fühlte sich als ein geachtetes Mitglied einer kleinen Subkultur. Wenn es um ihn ging, konnte Jürgen zum Schläger werden und verschaffte sich Respekt selbst bei den Stärksten im Haus, die den Ton angaben in den Werkstätten und auf den Fluren. Was die von mir angestrebte Scheidung der beiden anging, so folgte der Versuch dem Muster vieler Erziehungsversuche: Jürgen spielte eine Weile mit, weil er mein Engagement spürte und weil in ihm auch Sympathie für mich wuchs, und weil es einen Teil in ihm gab, der sich vielleicht überzeugen lassen wollte. Er war beeindruckt von meiner Art Vision für ihn, von der er mich ergriffen sah.

Und so geschah es auch, daß ich, als ich mehr von ihm wußte und von seinem zynischen Witz noch immer beeindruckt war, zu phantasieren begann, er schriebe seine Biographie auf. Um ihn nicht in eine Niederlage zu verleiten, behielt ich die Idee zunächst für mich, aber dann wurde es zunehmend üblich, etwa im Gefolge von Ulrike Meinhof in ihrer vorrevolutionären Zeit, die Biographien von Außenseitern, etwa Fürsorgezöglingen für interessant zu halten, und dann gab Martin Walser eine solche Biographie heraus, die ich oft im Knast verliehen habe. Das Kursbuch verkündete den Tod der Literatur und Martin Walser prophezeite Ähnliches und schwor auf das Dokumentarische, und ich setzte ihm den Floh ins Ohr und der Floh biß zu und Jürgen, es kann auch ein paar Jahre später gewesen sein, schrieb dreihundert krakelige Seiten auf, und ich war traurig und entsetzt, wie unbrauchbar sie waren. Dann überlegte ich, ob ich selbst seinen Lebenslauf aufschreiben sollte, fing sogar an, Notiven zu machen, spürte aber dann, daß dies Mißbrauch wäre, und daß er sich vermutlich ausgebeutet fühlen würde, wenn eine größere Verstimmung unsere Beziehung trüben würde. Ich wollte ihn nicht benutzen, um ein interessantes Buch zu schreiben. Was ich jetzt tue, ist mehr ein Bericht über mich anhand von Begegnungen, in denen merkwürdigen Seiten meiner Person zum Vorschein kamen.

Als er entlassen wurde und vor dem dem Nichts stand, oder vielmehr vor der sofortigen Rückkehr in seine frühere Welt, nahm ich ihn in meiner Studentenbude mit auf und suchte mit ihm Arbeitsplätze. Aber er hatte nichts vorzuweisen, das zu einem Arbeitsplatz hätte führen können. Also arbeitete er tageweise als Träger im Großmarkt, aber das kam ihm im Grunde unwürdig vor; also hielt ich ihn aus, und um sein Selbstbewußtsein zu heben, kam ich auf immer neue Ideen, was er tun könne. Zuletzt setzte sich ein Freund des Haupt-Bühnenbildners am Theater für ihn ein, er bekam einen Termin, um sich vorzustellen bei den Kulissen-Malen, aber er kam zurück mit hängendem Gesicht und meinte, das sei dort doch kein Arbeitsklima, das sei kein Platz für ihn, ich war bedrückt, wollte den Kulissen-Chef anrufen, was los sei, aber Jürgen verbot es mir. Ich nehme an, er ist exolodiert oder frech geworden, als der Beinahe-Mäzen ihn nach seiner Vorbildung befragte.

Das Zimmer wurde mir gekündigt, und ich wollte im Sommerurlaub verreisen oder einen Ferienkurs besuchen. Jürgen wäre auf der Straße gestanden, die Lockungen früherer Ganovenfreunde waren eindeutig und dringlich, diesmal mit besserer Planung neue Dinge zu drehen, und ich wollte ihn von diesem Sog wegziehen. Ich brachte ihn in der wohl ausgestatteten Wohnung eines befreundeten Paares unter und fuhr weg. Aber es erreicht mich, als sie wiederkamen, ein Anruf des Entsetzens: die Wohnung war in einem unerträglichen Zustand, J. O. hatte seine Kumpane eingeladen zum Saufen und vielleicht zum Plündern; er hatte sich gerächt für mein Verschwinden, da war der Faden gerissen, der Faden war dünn, der ihn an mich band, und mein Wegfahren war wie Verrat, aber er war nicht nur dünn, sondern ein dickes Sicherheitsseil mit vorhersehbaren Bruchstellen, solange ich anwesend war. Heute weiß ich, daß eine einzige personale Bindung wenig Gegengewicht bietet gegen eine ganze Subkultur mit sichernden und bergenden und herausfordernden thrill bietenden Aspekten. Indem ich ihn ein Stück weit in meine Lebensbereiche herüberziehen wollte, lag mir auch daran, zu prüfen, ob meine eingeschränkte Existenz für ihn überhaupt lebenswert war. Ich hatte einen ähnlichen halbtherapeutischen Größenwahn in Bezug auf ihn wie er auf mich: ob er mich zu Fall bringen könne, trotz aller verzweifelten Hoffnung, oder ob ich stand hielt.

Nun erhielt ich einen Denkzettel, der einige Jahre schmerzte. Die Wohnung der Freunde war eine Morgengabe an die Bande. Ich hörte lange nichts mehr von ihm. Die Freundschaft mit dem Paar war für lange Jahre getrübt, ja auf Eis gelegt. Bis mich aus einem italienischen Knast krakelige Kartengrüße und eine gewundene Entschuldigung erreichten, die aber doch keine sein sollte, denn das wäre unter seiner Würde gewesen zu bedauern. In seinem Innern tobten oft unerträgliche Spannungen. Wenn er sich in Gefahr begab, waren sie weniger zu spüren, und die ganze Seele richtete ihre Überlebensfähigkeiten auf die akute, selbst gesuchte Not. An einem bestimmten Punkt nach seiner Entlassung aus der Jugendstrafantsalt versuchte ich eine Freundin einzubeziehen in mein Rettungswerk. Es begann, mir zu schwer zu werden. Er verliebte sich sofort in sie und führt am Strand eines Baggersees, um ihre Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erzielen, wilde Indianertänze auf. Als es darum ging, wie wir uns auf der ausgebreiteten Decke gruppieren würden, brach der ältere Bruder in mir durch, und ich legte mich so, daß ich zwischen die beiden zu liegen kam, er also vom direkten Kontakt zu Margarete ausgeschlossen war. Ich spüre, wie es in ihm wogte und wütete, er sagte aber nichts, ich dachte nur: das könnte das Ende sein, man hat ja manchmal ein animalisches Gespür für archaische Affekte. Ich hatte Angst, er bräche die Beziehung ab oder würde mich schlagen, ich wollte ihm die Freundin nicht zur Berührung überlassen, ich fühlte mich wie das Leittier einer kleinen Horde, bereit zuzubeißen oder zu kämpfen, ich war rein körperlich vielleicht stärker, aber ohne hilfreiche Heimtücke im Kämpfen aufgewachsen. Auch hätte mich die Angst gelähmt, wirklich beschädigt zu werden, oder die Angst, ich hätte ihn töten müssen, um mich seiner zu erwehren, oder er hätte mir die Arme ausgekugelt oder mich so in die Eier getreten, daß ich ko gegangen wäre.. So dicht und angespannt war die Atmosphäre.

Auf dem Heimweg durch den Wald fiel mir ein versöhnliches Spiel ein: Ees standen abgestorbene mittelgroße Bäume zwischen den gesunden grünen. Jürgen und ich, mit Margarete als staunendem Publikum zu unserer anfeuernden Hilfe bereit, drückten nun die kahlen Bäume in die eine und rasch in die entgegengesetzte Seite, mit immer schnellerem Schwung, bis der eine oder andere unter großem eigenem Getöse und unserem Triumphgeschrei umbrach und stürzend auf die Erde schlug. Dies verband unsere Seelen und Körper wieder, ersetzte zum Teil den an sich notwendigen Ringkampf - aber ich ringe eben nicht gerne - und erlaubte einen friedlichen Heimgang. Margarete schwankte, wie sie mir später sagte, zwischen Dankbarkeit, daß ich sie vor der direkten Berührung geschützt hatte, und dem leisen Groll, daß sie die Haut des jungen Wilden nicht an ihrer eigenen hatte spüren können. Während die Probleme der Anordnung auf der Liegedecke uns fast tödlich entzweit hatten, einte uns zwischen den Bäumen der gemeinsame Kampf mit den vermutlich für ihn väterlichen toten Baumstämmen. Aber die langen geraden Waldwege ließen den alten Konflikt doch wieder hochschießen, denn wenn man zu dritt nebeneinander hergeht, entstehen die alten Fragen: wer geht neben wem, wer darf in die Mitte, wer führt die Dame und wer muß regredieren und wird in die böse Übertragung gezwungen? Der Konflikt war latent so angespannt, daß ich dauernd phantasieren mußte, wie ich nachher mit ihr schliefe, während er sich mit billigem Rotwein zudröhnen würde. Er war der jüngere Bruder, der mir meinen Platz bei ihr streitig machen wollte, und da begann ich ganz kainhaft an Mord zu denken. Ich war wohl einer der vielen Freier, die ihm regelmäßig die Mutter wegnahmen, oder auch der mythische Vater, der, wiedergekehrt und brutal seinen Besitz beanspruchte. Margarete war so hin und her gerissen zwischen den bedrohlichen Magnetfeldern, daß sie es viel zu anstrengend fand, von uns zwei Kerlen gleichzeitig begehrt zu werden, und sich noch am gleichen Tag von der als gemeinsam gedachten Resozialisierungsarbeit verabschiedete. Primäre Rivalität sitzt tief im Körper: in der Kehle, in den Augen, und in der Schlagbereitschaft der Muskeln, aber auch in der Bereitschaft, sich sofort weg zu ducken, wenn der erste Schlag käme.

Ein paar Monate früher hatte ich ihn, der ich inzwischen eine Zweizimmerwohnung bewohnte, in der er Quartier finden konnte, wenn ihm das Innenstadt-Pflaster zu heiß wurde, oder wenn ihn die Fotografiererei ermattet hatte, bei einem Heimatbesuch mitgenommen zu meinen Eltern. Er war noch nie in einer braven kleinbürgerlichen Familie mit Kulturanspruch gewesen: immerhin stand ein Klavier herum und es hingen Dürers Apostel großmächtig an der Wand. Er fürchtete natürlich dauernd, sich falsch zu benehmen, aber ich konnte ihm gut über die Klippen helfen. Meine Mutter sprach mit christlicher Anerkennung von einer besonderen Form von Seelsorge, die ich betrieb, und fand so die Kraft, manche Unflätigkeiten zu überhören. Um die Ohnmacht in seinem Inneren nicht überhand nehmen zu lassen, verlegte er sich darauf, mich scharf zu beobachten, und teilte mir triumphierend mit, wie angepaßt und brav und brafsohnhaft er mich fand und war wiederum hin und hergerissen zwischen Rührung, Mitleid, Staunen und Verachtung.

Der Kampf um das Weib, so nehme ich an, wenn ich über die Ursachen der Fernwirkung einer Kränkung nachdenke, mochte in ihm einen leicht aufzubewahrenden und aktivierbaren Groll hinterlassen haben. Er hatte mir nämlich in meinem Eltrnhaus geholfen, den Speicher aufzuräumen. Dabei stießen wir auf alte Kinderbücher, von denen eins oder zwei mitnehmen konnte. Ins Auge stach ihm aber eine vielleicht bedeutende Briefmarkensammlung von einem Großvater, an die sich mein Vater nie zum Verkauf herangemacht hatte, weil er a) überzeugt war, daß sie besondere Schätze enthielt und b), daß er von einem Briefmarkenhändler, dem er sie zum Verkauf ja anbieten mußte, bitter übers Ohr gehauen würde, wenn er sie ihm anvertraute.

Eines Tages, viele Monate später, fehlte die Briefmarkensammlung im Speicher meines Heimatdorfes, das über dreihundert Kilometer von unseremr unseligen Franfurt entfernt liegt. Der Verlust war lange nicht bemerkt worden. Danach trauten sich meine Eltern lange nicht, mir den Verlust, der mit einem in den Speicher verbunden war, mitzuteilen. Sie waren sich natürlich auch nicht sicher und verdächtigten zunächst den Taugenichts von Sohn unserer unmittelbaren Nachbarn. Mir schwante aber rasch anderes, doch war ich auch unfrei dem mitverdächtigten Jürgen gegenüber, weil wir gut ein Jahr kaum etwa voneinander gehört hatten. Schließlich sagte ich es ihm doch in einem Brief "aufs Gesicht" zu, was ja nicht stimmt, denn sein Gesicht war nicht dabei. Also konnte ich sein Gesicht nicht beobachten, erhielt aber einige Tage später einen Anruf, in dem er bei allen Heiligen und Unheiligen seines Gewerbes schwor, nicht in jenen Dorfspeicher eingebrochen zu haben. Ich glaubte es ihm und er hatte zu drei Vierteln recht, so zu schwören. Denn wieder einige Jahre später kam heraus, daß er in einem Anfall von Zorn, in dem er immer Gegenallianzen schmieden mußte, zwei mit ihm "befreundeten" Ganoven eine Skizze jenes Speichers anvertraut hatten, nach der sie in der Tat präzise arbeiten konnten. Da niemandem klar war, was die Sammlung an Werten enthielt, schmerzte ihr Verlust nicht viele Menschen, höchstens einen Bruder, der Phantasie von Reichtum mit jener Schachtel verband, und das ist durchaus möglich, weil dieser Großvater ein weltläufiger Mann mit einer international geführter Korrespondenz war. Deshalb konnte man ihm, von seinen Missionsvettern in Afrika und Überseeländern beliefert und angereichert, durchaus den Besitz einiger Sammlerjuwelen zutrauen, von deren Wert Großvater aber vielleicht selbst nichts wußte. Er schnibbelte einfach aus, was ihm gefiel, und nach der blauen Mauritius gefragt, hätte er vielleicht geantwortet: "Sie dürfen wühlen!"

Manchmal vergaß ich Jürgen für Jahre, doch verwahrte seine Post in schwer zugänglichen Mappen. Ich wußte oft nicht mehr, ob die Beziehung für ihn noch bestand. Eine sanfte Verzweiflung war oft mein Gefühl, wenn ich hörte, daß seine Bewährung wieder einmal widerrufen war. Gelegentlich sprach er mit Achtung von einem Bewährungshelfer oder einmal auch von einer Frau in der gleichen Funktion. Ich entnahm einem mehr gelallten als gesprochenen Telefonat, daß sie ihn möge und ihm vertrauen wolle. Dann vernahm ich, daß er in den Dunstkreis eines evangelischen Jugendzentrums geraten war und dort als Helfer beim Essenholen in einer weit entfernten Sozialküche beschäftigt wurde. Ein paar Monate später bediente er in einer wohltätigen Teestuben für abgebrannte Fixer. Dann wieder lebte er einen Sommer lang unter den Brücken. Den Winter verbrachte er in einer Gartenlaube, wurde aber empfindlich durch Einbrecher gestört, die nebst Reichtümern einen Unterschlupf suchen. Dann lieh ihm das Jugendzentrum, nachdem ein schwerer und ihm tödlich erscheinender Streit derselben vergessen war, einen ausrangierten Wohnwagen, und schon wieder war ein Winter überstanden.

Seit einigen Jahren ruft er mich und kündigte seinen Besuch in meiner neuen Stadt an, die von seiner gut 300 km entfernt liegt. Als endlich nach Jahren ein Datum festlegte, sagte er vier Stunden nach Beginn seiner Autostop-Abreise um die Mittagszeit an: Er sei nur bis X gekommen, 50 km von meiner Stadt entfernt, und kehre bei sinkender Nacht jetzt um.

Zuvor aber ist zu vermelden, daß die Bahnen enger wurden, in denen er, Unterkunft und Nahrung suchend um kirchliche Einrichtungen kreiste. Derzeit sammelt und sortiert er gebrauchte Kleidung und Kinderspielzeug für das Kosovo und begleitet die Transporte, wenn die Lastwagen voll gepackt sind, als Beifahrer an ihren Bestimmungsort. Er verfügt über ein Handy, um immer erreichbar für die wohltätigen Aktionen zu sein. Er fühlt sich gebraucht, in Maßen kompetent, und er zieht, wie er sagt, Trost aus dem Elend im alten Jugoslawien, wo die Menschen leben wie er es nicht möchte: in unvorstellbarer Armut, in Provisorien, auch im Dreck, in der Unsicherheit von Tag zu Tag. "Ich war immer ein Flüchtiger", sagte er, aber dort gibt es Flüchtlinge, die es vielleicht für immer bleiben werden. Und niemals mehr in einer Heimat." Diese Aussagen stammen von einem Besuch in allerjüngster Zeit. Es hat tatsächlich geklappt mit einem Besuch bei mir, nach Jahren der Pause, mit einem der verbilligten Wochenendfahrkarten, bei denen nur die Bummelzüge benutzen darf. Die Fahrzeit also im doppelt so lang wie mit dem IC oder gar ICE.

Vier Stunden nach der ursprünglich vorgesehenen ungefähren Ankunftszeit wartete ich am Bahnsteig, und mich überfiel sofort wieder die Rührung einem behinderten jüngeren Bruder gegenüber. Er wirkte verschüchtert, desorientiert, erkannte mich nicht und glaubte auch nicht daran, daß ich ihn am Bahnsteig erwarten würde Ich sehe ihn aussteigen, rufe seinen Namen, trete auf ihn zu, und was geschieht: Er fällt mir um den Hals, und ich bin froh, daß aus meinen feuchten Augen noch keine Tränen kullern. Er ist verschwitzt und müde, seine Sprache ein wenig lallend, sodaß ich gleich vermute, er habe eine mehr als einlitrige Flasche Wein bei sich gehabt. Übrigens quillt nicht nur er aus dem Zug, sondern ein Rudel von nach ihren Vereinsfarben verkleideteten Fußballfans, singend und noch deutlicher angetrunken als Jürgen, der Straßenbahn entgegentaumelnd, die sie zum Ort ihrer Schande fahren wird.

Jürgen ist befangen und redet drauflos, ich selbst strebe zum stadtnahen Baggersee und will bei dem Wetter auch schwimmen, wenn es geht. Ist das schon Mißbrauch? Ihn am Ufer sitzen lassen, während ich meinen sportlichen Zwecken nachgehe? Vor mehr als dreißig Jahren, mit Margrete am Baggersee, da hat er noch gebadet, das fühlte sich regelrecht zivil an. Aber badet ein wachechter Mafioso, wenn die fünfzig überschritten sind? Ich war sicher, daß J. nicht baden würde, dreiundzwanzig Grad bedeuten für seine zur Hälfte nordafrikanische Haut glatt Unterkühlung. Wir saßen im Schatten eines Baumes, nachdem er sein weiches Huhn am Strandlokal verspeist hatte. Jeder hatte einen halben Liter Bier getrunken, ich nahm noch eine Halbe für ihn ins Grüne mit, er hatte aber rasch den Verdacht, daß ich nur für mich und nicht für ihn gesorgt hätte. Es machte mir aber Spaß, für ihn zu sorgen, wohl wissend, daß die Summe meiner Gesten begrenzt bleiben würde durch die abendliche Abreise, von der er noch nichts wußte. Er hatte meine Möglichkeiten zur Fürsorglichkeit wahrlich überstrapaziert, mehrere Male, aber ich fühle keinen Groll mehr in mir, und ich wollte ihm das auch zeigen. Auf der Fahrt zum Bahnhof sagte er später, seine verdammte Schwitzerei hinge nur mit mir, nicht mit der Hitze zusammen, er sei unheimlich aufgeregt über die Wiederbegegnung: ob ich so freundlich bliebe oder ruppig würde, man wisse ja nie. Mir fiel aber nichts arg Ruppiges ein wie damals, als er nach ein paar Wochen die Fotoausrüstung versetzte, weil er nichts mehr zu saufen hatte. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, einen Alkoholiker auszuhalten, im doppelten Wortsinn, und ich wußte damals noch nicht, daß selbst eine Verringerung seines Konsums außerhalb der Reichweite seines Willens lag. Man fühlt sich betrogen, denn der Alkohol zerstört ja auch die Beziehung, die man eigentlich genießen möchte, weil der Klient gedieh, vielleicht Jahre oder Jahrzehnte unter unserer Rettungsanstrengung, oder weil man es mit einem sympathischen, witzigen, verdreht warmherzigen Menschen zu tun hat.

Jetzt fällt mir auch ein, warum wir die Beziehung wiederaufgenommen haben. Vielmehr ging die Inititative von ihm aus: Er war mit einer akuten Alkoholvergiftung in ein Krankenhaus eingeliefert worden und wie so oft nahm sich eine Helferperson, diesmal eine Ärztin, seiner an. Er war regrediert, sah sein verlorenes Leben ein, faßte gute Vorsätze und war einige Zeit noch schockiert über die Tatsache, daß er vielleicht nur durch die Einweisung überlebt hatte. Denn die Herbstkälte mit erstem Schneefall hatte es für Leute, die, wenn ihnen der Wohnwagen wieder einmal zertrümmert wurde, unter Brücken schlafen, nicht gut gemeint. Er hatte das Leben im Schlafsack unter Brücken gründlich satt. Da neben seinem Klinikbett ein Telefon stand, das er auch benutzen durfte, rief er immer wieder an, um mir lallend mitzuteilen, wann er entlassen würde. Die Medikamente erlaubten es jetzt noch nicht zu kommen, so lautete die tägliche Botschaft. Die Ärztin, so vermute ich, spielte ein wenig Theater, weil sie Angst hatte, eine rasche Entlassung bedeute einen raschen Rückfall. Aber in jenen regredierten Krankentagen, wo ich ihn dann etwas später auf den Kliniksfluren herumschlurfen und mit mir telefonieren hörte, ist wohl eine innere Wende eingetreten. Ich war froh, daß er telefonierte, ärgerte mich aber über das abgehackte, heisere Geraune, das schwer verständlich war. Es klang betrunken, dabei betrieb man dort eine Rapidausnüchterung mit Schnellentzug und mit offensichtlich erheblicher Seelenmassage, für die er offensichtlich empfänglich war, weil ihm gleichzeitig eine Art Frau-Doktor-Gesprächs- Muttermilch eingeflößt wurde. Seither, so sagte er später, trinke er zum ersten Mal in seinem Leben seit Monaten mit Maßen.

Aus diesen Tagen stammte das Gelübde, mich wieder einmal zu besuchen. Auch mir hatten einige Terminvorschläge nicht gepaßt, vor allem, wenn sie kurzfristig von ihm angesetzt wurden. Diese Technik, die ich naiverweise nur seiner Unkoordiniertheit zuschrieb, hatte vielleicht mehr Methode, als ich zuerst dachte. Bei diesen raschen Spontanterminen konnte er fast sicher sein, daß ich es war, der absagen mußte. So geriet ich allmählich in seine Schuld und schlug ihm endlich einen Termin vor, der ihm ebenfalls paßte. Wir gingen an einen nahe gelegenen, fast innerstädtischen Badesee. Ausreichend tätowiert wäre J. O. für diesen Ort, so daß er, wenn ich mich recht erinnere, nackt fast, regelrecht bekleidet, aussah. Aber er lehnte sich an den Platanenbaum und schloß huldvoll die Augen, wünschte mir, daß ich ersaufe und bald wiederkomme. Es war, wie wenn ich den jüngeren Bruder, der noch nicht schwimmen kann, aber Ufer zurück liesse, ein symbolisches Bild, das fiel über unsere Beziehung aussagt, aber wie bereits erwähnt, habe ich ihn anfangs ja auch um viele raffinierte geistige und kriminelle Kunststücke beneidet. Wußte ich etwa, wie man Autos knackt? Verschlossene Türen aushebelt? Kundschaft findet für gestohlene Kunstgegenstände? Sich vorsichtig an Drogen-Kunden heranmacht?

Als ich abgekühlt vom Schwimmen zurückkam, erzählte mir das zurückliegende Leben der letzten Jahre. Am Bahnhof später gestand er mir, daß er nach einer Stunde gemerkt habe, er brauche nicht zu lügen. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, hatte wir doch auch Zeiten gekannt, wo ich völlig am Schwimmen war mit seinen aufschchneiderischen Berichten. Lügen war ihm Lebensmotwendigkeit, Sport und Spaß zugleich für ihn, mit unterschiedlichem Schwergewicht, je nach Lebenssituation. Wenn man nicht darauf aus ist, die Wahrheit zu ermitteln, dann kann diese Flunkerei amüsant sein, man kann der Satzmelodie folgen und überlegen, ob es starker Geisteskräfte bedarf für diese Mischung aus Wirklichkeit und Fabuliererei. Ich musste diese Mischung erst mühsam lernen lernen, während er sie aus der Kindheit mitbrachte und später gar nicht mehr anders konnte als sie zu verbreiten. Mancher Sozialarbeiter und Erzieher, Richter und Staatsanwalt, der von diesen Zusammenhängen nichts wußte oder sie strikt moralisch betrachtete, geriet in Rage und wollt an charakterlich zurechenbare Bosheit und Durchtriebenheit glauben. Das tat ich eines Tages nicht mehr, aber das ist mir erst möglich gewesen, als ich ihn nicht mehr erziehen wollte, und als es mir egal war, wo die Wahrheit aufhörte und das Reich der Fabel begann. Aber sein jüngstes Bekenntnis, daß er nach einer Stunde Gesprächs erkannt habe, daß er nicht mehr zu lügen brauchte, setzt ja vieles voraus: a) muß ich real und befreit von Übertragungen in seinen Augen eine andere Gestalt angenommen haben, sagen wir als Person von mittlerer Vertrauenswürdigkeit, umstrahlt vom Geist lang ergrobter Freundschaft, und b) muß in seiner Seele eine Art Klärung, um nicht zu sagen Reinigung stattgefunden haben, so daß er Wahrheit und Lüge unterscheiden konnte. Ich wünschte mir, er würde dies jener halbwegs seelenkundlichen Muttermilch-Ärztin in der Klinik verdankte Dem widerspräche auch nicht, wenn er die neue Wahrhaftigkeit im Dienste seiner christlichen Altkleidersammler gelernt hätte, weil sie die Voraussetzung gewesen wäre, um nach dem Kosovo mitgenommen zu werden.

Wir saßen also in Sichtweite des Sees, rauchten eine Schachtel Marlboro zusammen, ich war halbnackt in seiner bekleideten Nähe, und daß dies nicht störte, zeigt schon, wie stabil die Brücke zwischen uns war. Ich prüfte mich laufend, ob mein genaues Hinhören, meine Anteilnahme an seinen Erlebnissen echt war, kurz, das, was man als das Angebot von Interesse und Empathie bezeichnen könnte

Es war wirklich ein brüderliches Gefühl, wenn auch eng umrissen, auf einen Nachmittag begrenzt, aber mit einer (fast) sicheren Zukunft, indem ich ihm nämlich vorschlug, im Frühjahr wiederzukommen und dann mit mir den Bauernhof zu besuchen, auf dem er fast f zwei Jahrzehnte früher fruchtbar-hitzige Monate zugebracht hatte. Denn er hätte, so war mein Kalkül gewesen, inmitten einer kleinen Gruppe von ausgeflippten Studenten, mit deren Hilfe ich meinen Hof ausbaute, menschliches Zusammenleben und halbwegs regelmäßig Arbeit der verschiedensten Art lernen können. Aber a) arbeitete er nur in den ersten Wochen etwas, solange es ihm Spaß machte, und b) ertrug er es nicht, daß meine Aufmerksamkeit auch anderen Menschen zugewandt war. Er zog sich dann in die ehemalige Räucherkammer zurück, hing ein Schild an die Tür, auf dem stand das italienische Wort CRISI geschrieben, das bedeutete "Krise und Hochspannung", Lebensgefahr bei Eintritt in die Bude, wie damals in der Zelle. Nur ich hatte noch Zugang zu ihm, aber sein provozierender Rückzug oder das ebenso provozierenden Rumgestrolche, während die anderen arbeiteten, war ihm wie uns schwer erträglich. Zwar war ein Spezialist in der in wütender und entfesselter Brennesselbekämpfung geworden, und auch den Hund hatte er auf seine Person umdressiert, aber sein Arbeitswille war so selektiv, daß er aus der Gruppe herausfiel. Seine Hauptrivale Berthold, ein für den Ausbau unverzichtbarer Universalhandwerker, stellte uns vor die Alterntive: Er oder ich!, und damit war Jürgens Schicksal auf dem Hof besiegelt. Denn es war nicht nur Berthold, den er zur Weißglut brachte (eine massive Bruderübertragung, wenn ausnahmsweise ein Wort aus dem üblen Jargon der Psychoanalyse erlaubt ist), sondern es gelang ihm auch, die Anderen so unter Spannung setzen, daß sie nicht mehr wußten, wo ihnen der Kopf stand. In diesen schwer erträglichen Magnetfeldern verlor ich auch das gelassene gruppendynamische Steuer aus dem Hand, und meine begrenzte Fähigkeit zur Empathie neben dem Hausbau schwand. Ich war am Ende.

Jürgen hinterließ mit ein Gemälde als Geschenk, das das örtliche Wallfahrtsmünster zeigte, und zwar durchaus als gelungenes Abkonterfei mit düsterem Wolken und Waldhintergrund, so als habe sein gottloses Herz durch das Kirchenportrait einen Jenseitsschimmer erblickt und uns hinterlassen als Hinweis, daß seine Seele nicht nur finster sei. Ich war tief gerührt und glaubte wieder an seine Zukunft als Maler und schaute immer in die Schaufenster von Rahmenhandlungen, die die jeweils röhrenden Hirsche oder blinkenden Seen mit Birken aus der näheren Umgebung in Öl gebannt vorrätig hatten. Da er zum Serienmaler taugte, wäre hier durchaus ein Überleben vorstellbar gewesen. Es sollte nicht sein. Er schrieb mir wieder aus einem italisenischen Knast, der diesmal aber viel strenger war, und wo niemand seine Bilder in einer malerischen Touristengasse verkaufte. All dies fiel mir ein (und mutmaßlich auch ihm, wenn auch in anderer Tönung), als wir über den Frühjahrsplan sprachen, den Hof zu besuchen. Er glaubte, die Trauer und die aufkommende Wut besiegen und die Exkursion als einen Ausflug zu einer wichtigen Lebensstation sehen zu können. Denn, und das machte mich dankbar, er schien unsere so tief mißglückten Phasen des Umgangs miteinander doch als Stufen eines unendlich langsamen Aufstiegs oder Abstiegs zu einer allmählichen Beruhigung seiner Lebenskurve sehen zu können. Wir saßen also da und hatte mindestens zehn elende Niederlagen hinter uns gebracht, einander verflucht und innerlich aufgegeben, und nun fügte es die Regression in einem Mutter-Milch-Bett, daß er sich meiner als einer schützenden Person entsann und mich, um den merkwürdigen Ausdruck zu gebrauchen, nach mehreren Jahren erneut kontaktierte.

Kann bei einem solchen Ausmaß an Unterschieden, jenseits der Analogien und Sehnsuchts-Ähnlichkeiten unserer ersten Tage in seiner Zelle, Brüderlichkeit entstehen? Sie kann. Wir saßen etwa zwanzig Meter vom den See umrundenden Hauptweg entfernt, und je nachdem, wo man hinschauen wollte, sah man eben Volk in verschiedensten Ausprägungen, vom Babys bis greise Rollstuhlfahrer, von Schmerbäuchen bis Jogging-Athleten, von Lolitas bis zu sehr viel reiferen Nixen, und ähnliche Unterschiede gab es bei den mitgeführten Hunderassen. Dieses Schauen auf Mensch und Tier aus geruhsamer Distanz verband uns, ohne das es formuliert werden mußte. Ich hatte solches bisher nur mit Frauen erlebt, und wirklich nicht in dieser fast biblischen Ausprägung: Als schritte Gottes Volk aus ins gelobte Land, und unser Kanaan war entweder die Seegaststätte oder eine der Weinstuben in der Nähe.

Und dann ließ sich in noch größerer Nähe ein mit bekannter Psychologiestudent nieder, der uns, obwohl sei Blick verloren abgewandt wirkte, so intensiv zuhörte, daß ich in folgendes Dilemma geriet: Soll ich Jürgen warnen und ihm eine Verlagerung auf einen anderen Rasen vorschlagen, oder sollte ich den neugierigen Fremdling lauschen lassen, als merkte ich nicht, wie er Jürgens wohlklingende, wenn auch noch manchmal schlingernde Stimme aufsog und sich wohl wunderte, was für Einblicke in ein Lebensschicksal sich an diesem Sommertag ergaben. Ich war stolz, daß ich den Weg des "Das juckt mich ja gar nicht" wählte, denn das Urteil von Nachbarn, so war es mir beigebracht worden, zählte fast so viel wie das Gewissen des innengeleiteten Menschen, den wir nach außen darzustellen hatten. Ich schämte mich also des Jürgen, des zahnlosen, des übermäßig hageren, des noch immer leicht lallend sprechenden Jürgen nicht, und ich wurde durch diese Erhöhung meiner sozialen Toleranz belohnt, als hätte er meinen inneren Sieg über meine Bereitschaft zur Scham bemerkt. Er schenke mir immer mehr Vertrauen, und ich verstand schließlich das mäandernde Leben seiner letzten Jahre.

Es gab Menschen auch andere Menschen, die nach bitteren Zerwürfnissen, in denen sie ihn als absolut unerträglich erlebten, wieder auf ihn zugingen, oder ihn nicht wegjagten, wenn er wieder kam. So wie er mich ein Stück Leben lehrte, so fand er in dem Jugendhaus, genauer in der Teestube, einen kaum über zwanzigjährigen Sozialarbeiter-Praktikanten, von dem er sagte, daß er, Jürgen, ihn regelrecht großgezogen habe. "Er hätte ja mein Sohn sein können." Mich hätte er sicher auch nicht zum Mafioso erziehen können, es faszinierte ihn nur, wie mich seine Welt und seine Weise, das Leben anzuschauen, wiederum faszinierten. Wir lebten also eine Spiegelfasziniation miteinander. Das gibt es vorwiegend unter Verliebten, beiderlei Geschlechts natürlich, wenn einer sich begeistert an der Begeisterung des andern, über ihn/sie oder etwas Drittes; und irgendwie bedeutet das eine Steigerung des Lebens, fast ein kontinuierliches Fest. Eine solche ruhige Festlichkeit lag über uns auf der Wiese, gewährt durch die Freuden und das Leid der Rückschau.

Wir hatten nichts vereinbart, was die Rückreise angeht. Ich mutmaßte, daß er sich auch ein Wochenende in meiner Stadt vorstellen konnte, aber es wäre mir, und wahrscheinlich auch ihm, zu viel gewesen. Deshalb sagte ich nach etwa zwei Stunden des Gesprächs, ich möchte ihn, es war vier Uhr, um sechs Uhr an die Bahn bringen. Ob er einverstanden sei. Er war einverstanden, und ich konnte, trotz schärfster atmosphärischer Wachsamkeit, keine Trübung in seinem Benehmen oder seiner Ausstrahlung feststellen. Aber einige Sekunden lang hatte ich mich vor einer seiner tiefen Kränkungen gefürchtet, die mich sicher genau so schachmatt gesetzt hätten wie ihn. Es stand dabei wieder fast alles auf dem Spiel, und ich glaube sogar, daß er wegen einer drohenden Kränkung über den einseitig von mir festgesetzten Termin einen ähnlichen Sieg über sich errungen hat wie ich in der Geschichte mit dem lauschenden Nachbarn. Abfahrt 18 Uhr bedeutete sicher mit den Bummel- und Regionalexpress-Zügen, die er mit seinem Spartickett benutzen durfte, noch einmal fünf Stunden Nachhausefahrt. Er hatte also viel auf sich genommen, um mich zu treffen. Im Bahnhof wollte ich ihm die Umsteigezeiten ausdrucken lassen. Das kannte er nicht, hätte sich wohl auch nicht allein getraut, danach zu fragen. Während wir in einer Schlange am Schalter warteten, meinte er: "Da hätte ich schon lange die Flucht ergriffen." Aber als wir das Papier erhalten hatten, war er froh und schwenkte es kurz in der Luft. Ankunft in seiner Stadt, laut Fahrplan 24h10. Aber da hieß es schon fast DB-routinemäßig auf dem Bahnsteig, daß der fünf Minuten früher in die gleiche Richtung fahrende IC 25 Minuten Verspätung hätte, und der Regionalexpress mußte warten, stand geduldig auf dem anderen Bahnsteig und fuhr nicht ab. Wenn also dadurch der nächste Anschluß nicht klappte, konnte es sein, daß aus den sieben fünf Stunden neun wurden, und ich fürchtete, daß die lange Reise in den zum Teil heruntergekommenen Bummelzügen vieles von unserem guten Sich-Wiederfinden zerstören könnte. Denn über vierzehn Stunden Bahnfahrt für vier Stunden Gespräche sind viel. Dies fiel mir fast schmerzhaft ein, nachdem ich ihn zum Abschied umarmt hatte. Dabei rief ich ihn ja zurück, als er sich wegdrehte zum Zug: "Halt, fast hätte ich ess vergessen", und gab ihm 200 Mark mit den Worten: "Für die Vorhänge!". Denn er hatte zum ersten Mal eine eigene Wohnung vom Sozialamt, lebte auch von Sozialhilfe, und seine nächste größere Anschaffung würden Vorhänge sein, weil die Fenster nachts gähnend dunkle Löcher waren, zu denen tags wie nachts die neugierigen Nachbarn aus den umliegenden Sozialwohnblöcken hereinschauten.

Dieser Moment der Geldübergabe, die in sich richtig war, tat dennoch kurz brennend weh, weil in die Verzauberung des Nachmittags die harte Wirklichkeit seiner Bedürftigkeit hereinschlug,. Denn Geld hatte ich ihm immer wieder einmal gegeben, und es war jedesmal unvermeidlich, dabei in die Rolle der aus Schuldgefühl spendablen Mutter zu geraten. Leicht beschämt, aber im ganzen heiter verließ ich den Bahnhof. Das bedeutet nicht, daß ich nicht auch Trauer empfand, daß unserer Wege sich so spät und sicher auch für begrenzter Zeit zusammen fanden. Denn angesichts vieler Gefühle, vor allem immer wiederkehrender Hoffnungen auf sein bürgerliches oder halbbürgerliches oder bohemehaftes Gedeihen war es immer wieder enttäuschend, daß `meine Helferbeziehung, in die so viel eigene Neurose einging, sich nicht in eine auf wirklichem Austausch begründete Freundschaft verwandeln ließ. Er hatte eine hohe, aber hochgradig fragmentierte Einfühlung in mich; manchmal eine maßlose Bewunderung, die mir einen kurzen Schwindel verursachte, und dann wieder, und in engstem zeitlichen Abstand, eine Geringschätzung, die mich niedergeschlagen machen konnte.

Jürgen O., ich verlasse dich jetzt schreibend, in der Annahme, daß ich wieder von dir höre, wenn ich dir meine außer Dienst gestellte alte Schreibmaschine geschickt haben werde. Du hast dich gefreut, als ich dir dies anbot. Und du fühltest dich bestärkt, als ich dir Tips gab, wie du Stichworte anordnen könntest über deinen Aufenthalt und die Fahrt zum Kosovo, weil deine Mitarbeiter, nach dem ersten gelungenen Kurzvortrag, darauf zählten, daß du weitere kleine werbende Referate über das Elend der Menschen dort halten würdest, um die Spendenfreudigkeit der Gemeinden wach zu halten. Bin ich immer noch ein Lehrer, der Anregungen gibt, die nur in Niederlagen führen? Du sagtest, es wäre dein sehnlichster Wunsch gewesen, in einem großen "Schlitten", sprich Auto zu mir zu fahren, um mir zu imponieren. Ich sagte, mir imponiere deine gegenwärtige Tätigkeit und deine Zuverlässigkeit dabei, und daß die Anderen deutlich machten, daß sie dich bräuchten in deinem anhaltendem Fleiß und deiner Übersicht. Und da meintest du, daß dich das stark mache, wenn ich so etwa sagte. Ich selbst habe mich nämlich noch nicht getraut, in den Kosovo oder nach Bosnien zu fahren, wohl aber eine Patientin von mir, die dort Traumatherapeuten ausbildet.

Aber inzwischen bis du schon seit langen Jahren tot, dem unkontrollierbarem Suff erleben, in der Klini der ehemals barmherzigen Ärztin.

Drucknachweise

  1. Deutschlandfunk, Studiozeit, gesendet am 11. 12. 1998
  2. Vortrag bei der Jahrestagung des DGPT 1994 in Lindau (16. - 18. 9 1994), abgedruckt in "Psychoanalyse im Wandel", hrsg. von Karin Bell und Kurt Höhfeld, Gießen 1995, S. 56-68
  3. Vortragsmanuskript
  4. Das Plateau, Nr. 66, Radius-Verlag, Stuttgart 2001, S. 4-21
  5. Unveröffentlicht
  6. Vortragsmauskript, abgedruckt in"Couch oder Kirche. Psychotherapie und Religion - zwei mögliche Wege auf der Suche nach Sinn.", hrsg. von Lothar Riedel, Riehen 2001
  7. Vortragsmanuskript, abgedruckt in "Über den Körper zu Sexualität finden", hrsg. von Peter Geißler, Gießen 2001
  8. Unveröffentlicht
  9. Unveröffentlicht