Tilmann Moser

Das Messias Komplott

Der Glaube an die jungfräuliche Geburt Mariä wie das Dogma von ihrer leiblichen Himmelfahrt haben unzählige andächtige wie unandächtige Zweifler durch die Jahrhunderte der Christenheit beschäftigt.
Tilmann Mosers satirischer Roman spielt die Vorstellung durch, es habe ein einziges Mal einen heimlichen nächtlichen Besuch von Joseph bei Maria gegeben. Ein lüsterner Witz unter Jugendlichen gab ihm Anlass, diesen Gedaken und die Folgen für die Kirchengeschichte durchzuspielen, ebenso wie eine weit verbreitete Scherzpostkarte mit dem Text "Übrigens, Joseph hat alles getanden". Sollte das Paar durch eine Intrige des Hohen Priesters Kaiphas erpresst worden sein, bei der Räuberpistole bis zur Kreuzigung mitzuspielen?
In Monologen und Dialogen wird die Geschichte als dramatische Verstrickung zwischen allen Beteiligten durchgespielt.

Erschienen auf Books on Demand, 2017.

Leseprobe

Einleitung: Jungfräulichkeit und ein schlüpfriger Witz

Fast zwei Jahrtausende hatte der Heilige Petrus an der Himmelpforte den Zugang zum Paradies kontrolliert. Trotz einer irdischen Beichte, Buße und der Absolution, die von den Verblichenen manchmal auch erschlichen war, hatte er viele von sich überzeugte Fromme zurückweisen oder eine Verlänge­rung des Fegefeuers anordnen müssen. Er kannte inzwischen tausend Tricks, mit denen die Ankömmlinge ihn hinters Licht führen wollten, um ins Para­dies zu gelangen. Durch das Anwachsen der Zahl der Christen im Lauf der Menschheitsentwicklung – noch vor dem zahlenmäßigen Niedergang gerade in Deutschland – war er der Aufgabe längst nicht mehr allein gewachsen, im Gegenteil: Die Eingangskontrolle war einer Behörde mit vielen Mitarbei­tern anvertraut worden, auch weil die Täuschungsversuche immer dreister geworden waren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mehr als zwei Prozent der ankommenden Himmelspilger hatten es nicht zu fassen vermocht, dass irdischer Reichtum dort oben einfach nicht einzuführen war, auch wenn sie Petrus umschmeichelten und in der Not anboten, bis zu dreißig Prozent des Wertes ohne Quittung auf ein diskretes Himmelskonto zu überweisen. Da die Wächter auf Petri striktes Verbot hin natürlich auf den Deal nicht eingingen, wurde erbarmungslos alles konfisziert, was sie bei sich hatten. Das Edelme­tall wurde sofort an die Heiligenschein-Gießerei weitergeleitet. Seit viele Sterblichen wegen der unsicheren Finanzlage viel Gold horteten, konnten die Heiligenscheine seit längerer Zeit etwas opulenter gestaltet werden. Im Mittelalter versuchten es besonders Schlaue, ihre Goldvorräte in dreifa­chen Bocksbeuteln zu verstecken, das Gerücht hielt sich lange auf Erden, dass dies eine Möglichkeit sei, die Prüfer zu übertölpeln. Später verfielen manche darauf, das Gold im Körper zu verstecken, Verdächtige wurden aber einige Tage hingehalten, bis sie alles wieder von sich gegeben hatten. Im Zug der Rationalisierung waren, ähnlich wie heute an Flughäfen, Metalldetektoren eingesetzt worden, die auch durch große Körper-Fettschichten durchschauen konnten. Seitdem waren die himmlischen Zoll-Einkünfte stark zurückgegan- gen.

Petrus war amtsmüde geworden, als allmählich klar wurde, dass der ver­suchte Schmuggel von Drogen durch verzweifelte Süchtige sich häufte, die beim Filzen und auf den Bildschirmen kaum sichtbar wurden. Als aber ein Bayer ankam und sich durch eine komische Schrittfolge und Gangart ver­dächtig machte, war Petrus sofort wach und ließ ihn durchsuchen. Er wur­ de fündig, entdeckte ein paar Weißwürste in seiner Unterkleidung, wollte aber den Ertappten nicht einfach zurückschicken, sondern behielt das bis­her unbekannte Schmuggelgut bei sich und vertraute es dem himmlischen Hauptzollamt an. Er wurde vom Heiligen Geist für seine Findigkeit belobigt, was seine Hoffnung verstärkte, in absehbarer Zeit auf einen ehrenvolleren Posten berufen zu werden. Mehrere frühere Eingaben waren immer wieder kommentarlos zurückgegeben worden, die himmlische Regierung hatte ihm noch nicht verziehen, dass er den Heiland im Garten Gethsemane drei Mal verleugnet hatte. Nicht einmal sein Märtyrertod in Rom hatte diesen Makel vollständig beseitigen können.

Doch zur Prüfung des jeweiligen Schmuggelgutes durfte er die gewun­dene Straße vom Tor bis zum Vorsaal, wo die Prüfung der unbekannten Gegenstände stattfinden sollte, hochgehen, was ihm angesichts seines Alters recht beschwerlich war. Einen ihm angebotenen Esel als Reittier lehnte er ab: Das erinnere ihn zu sehr an den Einzug Christi in Jerusalem. Um allen Verdacht auf zu große Nähe zu Christus zu vermeiden, hatte er schon bei seiner Kreuzigung in Rom auf ein anderes Verfahren gepocht, nämlich das Kreuz umzudrehen und also kopfüber zu sterben, um zu viel Ähnlichkeit mit dem Kreuzestod des Heiland auszuschließen.

Nun stand er also in einer hinteren Reihe bei dem öffentlichen Prüfungs­schauspiel, versuchte durch eine Lücke zwischen den vielen Köpfen hindurch zu spähen, erhaschte aber nur für kurze Momente einen Durchblick auf Mariens Gesicht noch vor ihrer Krönung zur Himmelskönigin, dessen Ver­färbungen er aber wahrnahm. Sie war ob der ungewohnten paradiesischen Helle vorübergehend fast erblindet und musste infolgedessen als frühere Hausfrau die Eigenschaften des Gegenstandes ertasten. Er verstand jedoch ihr Zögern vor der Antwort nicht und fragte etwas hektisch Umstehende, was die allge­meine Unruhe bedeute. Aber keiner antwortete, weil jeder inmitten der sich anbahnenden Panik mit sich selbst beschäftigt war und den aufdringlichen Frager abwies. Er wurde mehrfach angerempelt, fiel zu Boden, war froh, dem Getrampel, das über ihn hinweg ging, zuletzt zu entkommen, und weinte in der plötzlich einsetzenden Dunkelheit still vor sich hin. Mit leiser und verle­gener Stimme hatte Maria nämlich geäußert, der zu prüfende Gegenstand fühle sich an wie der Heilige Geist. Eine ausführlichere Darstellung der Szene findet sich am Schluss des Buches.

Der Engel mit der heiligen Botschaft

Wenn man die tausenden von Bildern „Verkündigung“ oder „Der Engel der Verkündigung“ oder „Mariä Verkündigung“ betrachtet, so fällt auf, dass Maria nur auf den wenigsten Gemälden das Antlitz hebt, um den Boten Gottes näher zu betrachten. Meist schaut sie in demütiger Ergriffenheit zu Boden, beugt dennoch in vorauseilendem Gehorsam ihren Leib dem Engel entgegen. Sie zeigt entweder vollendete Unschuld, oder aber sie ist als Lesende dargestellt, die im Alten Testament etwas vom kommenden Messias liest. Ihr Herz und ihr damals noch schmaler Verstand sind also von wundersamen Prophezeiungen angefüllt. In ihren mädchenhaften Phantasien malte sie sich aus, wie viele Kinder sie einmal mit ihrem Verlobten Joseph haben wird, und ob eines darunter sein könnte, dem man eine hohe oder höchste Berufung zutrauen möchte.

Dieser ihr Verlobter, der spätere Heilige Joseph, schilt sie gelegentlich, wenn sie abweisend auf ihn reagiert und traumverloren nicht auf seinen Gruß antwortet, wenn er müde aus seiner Werkstatt heimkehrt, ja, manchmal sei­ne kleinen Geschenke unbeachtet lässt. Gelegentlich hat es sogar schweren Streit gegeben, wenn sie ihn ungebildet, ungehobelt, aufdringlich und „oh­ne seelische Feinheit“ nennt. Er war freilich von Anfang an fasziniert von ihrer durchgeistigt wirkenden Feingliedrigkeit. Ihre depressiven Verstimmun­gen hatte er für vorübergehende Eigenarten gehalten, die zu mildern ihm manchmal gelang durch zarte Berührungen oder durch lustigen Schabernack, der sie zum Lachen brachte. Beide wünschten sich Kinder, waren aber als gläubig-fromme Menschen vor ihrer Hochzeit noch weit davon entfernt, sich einander geschlechtlich zu nähern. Er war durch seine Freunde eini­germaßen aufgeklärt über die angeblichen Tätigkeiten des Storches, dessen Geschichte man auch ihm als Kind aufgetischt hatte, vielleicht waren es auch durchziehende Flamingos oder Kraniche. Aber Maria war ahnungslos, sie hatte leichtfertig plaudernde Freundinnen immer gemieden, und ihre Eltern hielten Aufklärungsgespräche für gottlos, vorausgesetzt, sie wären überhaupt fähig gewesen, darüber scheue Worte zu verlieren.

Wir wissen wenig von den unbewussten Ahnungen Marias über die irdi­schen Tatsachen des Lebens. Wenn sie gelegentlich mit ihrer Mutter auf der Weide mit ihren Geißen und Schafen weilte, versuchte diese ihren neugieri­gen Kindskopf abzuwenden, wenn die Böcke ihre Schafe besprangen; und wenn Maria sie doch heimlich beobachtete, so schalt sie die Böcke flüsternd grobe Gesellen, vor denen man die Misshandelten hätte in Schutz nehmen sollen.

Sie lernte Sticken, das half, neben der Lektüre, gegen die Langeweile, denn wegen ihrer Zartheit war sie sowohl von der Feld- wie von grober Hausarbeit entlastet worden. Als es nun eines Tages fast stürmisch an ihre Tür klopfte, geriet sie in Angst, weil außer ihr niemand zuhause war. Sie wollte aber nicht unhöflich sein, und wie ihrer Familie galt auch ihr Gastfreundschaft als heilig. Sie öffnete und erwiderte also den Gruß, der ihr ein wenig gestelzt, um nicht zu sagen feierlich vorkam, wagte aber nicht gleich zu fragen, was das Begehren des kostbar gekleideten Gastes sei, sondern fragte, ob sie ihm etwas anbieten dürfe. Der aber winkte dankend ab, meinte er sei im Dienst und wollte schnell zur Sache kommen. Sein Drängen überraschte sie auf jeden Fall, sie brachte es aber mit den aufgeregten Zeitläufen in Zusammenhang, von denen sie auch in der stillen Ruhe des Dorfes andeutungsweise gehört hatte.

Der hohe Rat der Tempelpriester, der ihn zu ihr sende, so begann er seine Ansprache, sei seit langem beunruhigt, dass sich die verheißene Ankunft des Messias seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden und auch in den letzten Jahren so sehr verzögere, dass sich unter den Gläubigen Ungeduld und Zweifel breit machten, zumal es in der Gegend immer mehr falsche Wanderprediger gebe, die sich, leicht durchschaubar, als Messias oder dessen Vorboten ausgäben. Es herrschte damals eine aufgeregte Endzeitstimmung um die kommende Jahrtausendwende, doch dies ist ein Begriff der neueren christlichen Zeit­rechnung, an die noch niemand dachte. Auch die römische Besatzungsmacht habe deshalb bereits Unruhe gezeigt, vermehrte ihre öffentliche Präsenz und Sichtbarkeit, weil feindselige, aufrührerische Zusammenrottungen und Auf­stände noch nicht lange zurück lagen, und weil das Militär um die religiöse Verführbarkeit des niederen Volkes wusste und manche der größenwahnsinni­gen angeblichen Propheten auch politisch aufrührerische Reden hielten. Der als „Landpfleger“ von Rom eingesetzte Feldherr Pontius Pilatus stand unter strenger Beobachtung des Königs Herodes, der einen guten Draht zum weit entfernten Kaiser hatte, und der des Pilatus’ Karriere schnell hätte beenden können.

Von dem verheißenen Messias ging für die Römer noch keine große Gefahr aus, sie pflegten den Juden in Angelegenheiten der Religion nicht hineinzu­regieren, Gefahr drohte erst von einer eventuellen stürmischen Politisierung der Predigten und Weissagungen, mit vom römischen Geheimdienst kaum noch zu kontrollierenden Verbindungen zu aufrührerischen, ja terroristischen Gruppen.

In dieser Lage geriet auch der eitle und ehrgeizige Hohe Priester Kaiphas zusammen mit dem Hohen Rat in eine gewisse Bedrängnis. Die herrschende jüdische Elite begann die Endzeitstimmung zu fürchten, deren oft verworrene Träger, aber auch ernst zu nehmende eifernde Splittergruppen die immer wütender herbei geredete Ankunft des seit Jahrtausenden versprochenen, ja mehrfach biblisch verheißenen Messias forderten oder sogar als bevorstehend ankündigten. Kaiphas, politisch und theologisch durchtrieben, heckte in seiner wachsenden Not einen fast teuflisch zu nennenden Plan aus. Ihn selbst trieb Ungeduld, ja Panik, weil er sich der uns heute fast irrwitzig erscheinen­den Hoffnung hingab, das Ereignis noch zu seinen Lebzeiten feiern und groß inszenieren zu können. Da er den Hohen Rat weitgehend auf seiner Seite wusste, fiel es ihm nicht allzu schwer, eine so verschwörerische wie größen­wahnsinnige Stimmung zu erzeugen, sodass bereits konkrete Initiativen ins Auge gefasst werden konnten. Auch der enge Kreis der voll eingeweihten Mitglieder war zur Umgehung von Bräuchen und Gesetzen bereit, auch wenn sie die kriminelle Energie des Hohen Priesters noch nicht ganz durchschau­ten. Dem war nämlich zu Ohren gekommen, dass es in Nazareth eine bis dahin unbescholtene junge Frau gebe, die heimlich schwanger geworden war, und der, wie ihrem Verlobten, die schlimmsten Strafen drohten. Es klingt abenteuerlich, aber es gab eine Seite seiner Persönlichkeit, mit der er glaubte, göttliche Kräfte und Vollmachten zu besitzen. Er wusste also, dass das ge­fallene Mädchen erpressbar war, wenn er sie aus ihrem tödlich drohenden Schicksal zu befreien versprach. Er verbrachte von da an Tage und Nächte mit finsteren Grübeleien, wie die Maria genannte Frau zum Mitspielen bei der letztlich auch für ihn möglicherweise bedrohlichen Intrige – ein viel zu schwaches Wort für den Plan – gewonnen werden könnte.

Aber wie nähert man sich einer jungen naiven Frau, mit der man einen destruktiven und hinterhältigen Zweck verfolgt? Der Sekretär des Rates drängte sich vor, er hielt sich nicht nur für unwiderstehlich, sondern hoffte, im Rahmen der kleinen Stadt und des Umlandes, sein Verhandlungsgeschick und seine, wie er meinte, wachsende diplomatische Begabung unter Beweis stellen zu können. Dazu gehörte für seine eitle Selbsteinschätzung eine gewählte Sprache, die er mit einigen städtischen Floskeln anreichern wollte, die er von einer kleinen Ferienreise nach Jerusalem mitgebracht hatte.

Das Maria in ihrer Einsamkeit erschreckende Klopfen stammte also von ihm. In anfangs noch relativ einfachen und eingängigen Worten schilderte er der erstaunt lauschenden Maria die Nöte der um ihre Zukunft besorgten Hohen Priesterschaft. Ein wenig kunstpausierend näherte er sich seinem An­liegen: Der Rat suche eine unbescholtene Jungfrau. Dass dem nicht mehr so war, wusste sie selbst noch nicht genau, nur Mutter Anna vermutete es, und ein Teil des Hohen Rates von einer ahnungsvollen und klatschsüch­tigen Nachbarin, die sich, wie das derbe Sprichwort lautet, über die lange Verlobung und die abendlichen Essensbesuche durch Josef bei der künftigen Schwiegermutter und ihrem etwas einfältigen Gatten das Maul zerriss. Sie hatte gegen ein stattliches Trinkgeld bei Kaiphas, dem das vorzeitige Gerücht auch schon zu Ohren gekommen war, versichert, dass sie sich noch selten getäuscht habe bei der Diagnose der Folgen von leichtsinnigen Fehltritten. Er könne sicher sein und anfangen zu überlegen, wie er das weitgehend un­schuldige Lamm, über deren drohendem Schicksal bereits das mütterliche Herz blutete, vor dem sicheren Verderben retten könne. Denn dass der Ho­hepriester nicht aufs Geratewohl Sippenforschung betrieb und angeblichen moralischen Verfehlungen nachging, war ihr sofort so klar, dass sie, gerissen wie sie war, ein anzügliches Lächeln riskierte, wofür sie Hochwürden, um seine Ehre zu retten, augenblicklich ohrfeigte. Dies tat ihm wieder leid tat, denn er wollte sie sich auf jeden Fall mit ihren durchtriebenen Fähigkeiten gewogen halten.

Der Bote und Dorfdiplomat spürte schon an der Tür, dass er Maria nicht weitersprechend überrumpeln konnte, sondern ihr eine Erholungs- und Denkpause einräumen musste, was sie dankbar annahm, und so meldete er sich für den übernächsten Tag wieder an, um das, wie er lobend hervorhob, bereits fruchtbar begonnene Gespräch fortzusetzen. Obwohl Maria nicht verstand, was an dem kurzen Gespräch fruchtbar gewesen sein sollte – sie war eher verwirrt und versuchte ihr klopfendes Herz zu beruhigen –, stimm­te sie erleichtert zu, und der geübte Schönredner, das Wort Süßholzraspler oder gar Schleimer war damals noch nicht gang und gäbe, verabschiedete sich mit einem einstudiert scheinenden, für mit städtischen Gewohnheiten vertrautere Menschen lächerlich erscheinenden Kratzfuß mit mehrmaliger Verbeugung. Er schien aber zu ahnen, dass er es in Zukunft mit einer zwar naiven, aber vielleicht doch bedeutungsvollen Person zu tun haben würde.

Anna, heutzutage auch als Heilige verehrt, damals noch eine lebenskluge Hausfrau, doch inzwischen ebenfalls aus angeblich sündenfreier Zeugung stammend und auf berühmten Bildern der berühmtesten Maler in trauter Dreisamkeit, also selbdritt mit Mutter und Tochter und dem kleinen Jesus vereint dargestellt. Aber weil Marias Sohn, schon als Knirps auf den einschlä­gigen Bildern oft bereits mit einem Heiligenschein versehen, so gerne mit dem kleinen Johannes lustige Knabenspiele spielt, müsste man eigentlich sagen, in fröhlicher Viersamkeit. Anna wächst zur wichtigsten Beraterin und Beichtmutter ihrer Tochter auf ihrem schwierigen Lebensweg heran. Sie wun­dert sich täglich mehr über die seltsamen Essgewohnheiten ihrer Tochter, bis es ihr zur Gewissheit wird, dass es einen Lebensmakel geben muss an der später in christlicher Zeit eigentlich zur Virgo immaculata verdammten Tochter. Und sie hörte sich aus einem Nebenraum mit fliegendem Atem die Geschichte vom Besuch des servil tönenden Stadtdiplomaten an. Sie ahnte bald einige Zusammenhänge zwischen der Initiative des Kaiphas und dem Zustand ihrer Tochter und erschrak, zischte einige palästinensische Flüche in das trauliche Abenddunkel, wie sie sich für eine gesittete Frau nicht geziemen. Aber schreiben wir sie dem Schock zu, in den sich schon ein Aufmerken auf möglicherweise atemberaubende Perspektiven in naher Zukunft mischen. Heute würde man sagen: Sie beginnt sehr schnell Maria zu beraten, und dies bereits schon für die nächste Begegnung mit dem ihr wenig sympathischen Sekretär. Sie warnt Maria vor vorschneller Zustimmung, rät ihr, sich alles Ge­plante haarklein erzählen zu lassen, und schreibt ihr sogar einige Fragen auf einen Zettel, die sie stellen und sich lieber einen dritten Termin erbitten soll, bevor „die Kleine“, in Unschuld erzogen, sich möglicherweise übertölpeln lässt.

Der Sekretär hatte sich gut auf die unerfahrene und arglose Frau einge­stellt und redet zum ersten Mal konkreter über Marias künftige Aufgaben. Es ist von umfassender Hilfe bei der kommenden Rolle die Rede, von der Notwendigkeit vorläufiger Geheimhaltung, von absolut notwendigem kor­rektem Lebenswandel, der ihr eigentlich selbstverständlich sei, auch von gottgefälligem Gebaren an der Öffentlichkeit, kurz von absolut unverdächti­gen Verhaltensweisen – sie verstehe schon –, meinte er beinahe lüstern. Aber Maria versteht nur die Hälfte, würde am liebsten Anna herbeirufen, doch der Schmeichler, sehr gerissen, lehnt mütterliche Beratung ab und sagt, sie sei doch selbst erwachsen und brauche keine wohl nur schädlichen Einflüster­ungen. „Aber besprechen darf ich das alles mit Mama?“, fragt Maria ängstlich, und der Sekretär spürt, dass er ihr das nicht verwehren kann, also wird er in Bälde auch bei Anna vorsprechen müssen, um für Maria unverständliche Details, Geldzuwendungen und Ausstattungsfragen zu diskutieren.

Bei Anna in deren gastlicher Küche wird schon mehr Klartext geredet, auch über konkrete Erziehungsziele der kommenden Monate, über psycholo­gischen Beistand aus der Stadt, wie er ihn nur Anna gegenüber angedeutet hatte; weiter über würdige und noch einzuübende Gesten und den Um­gang mit später fälligen Pilgerbesuchen und Gaffern ums Haus. Maria, so schmeichelt er der durchaus empfänglicher werdenden Mutter, habe eine unschuldige, aber wirksame Würde auszustrahlen, und auch der Hohe Rat sei inzwischen zuversichtlich hin­sichtlich des ungeheuren religionspolitischen Unternehmens.

Auch wirksame Werbung und nötige Propaganda sowie die historische Einbettung in die alten Schriften und Verheißungen sei garantiert, sodass die Geburt des Messias glaubhaft anzukündigen sei. Seine Worte hörten sich freilich viel gewählter an. So wurde verständlich, dass Maria den Plan nicht gleich ausreichend begriff. Sie spürte zuerst nur, dass sie zu etwas Außerge­wöhnlichem auserwählt sein sollte, erneut wurde Stillschweigen angemahnt, es war von einem angemessenen Entgelt die Rede, auch wolle man ihr helfen, die vorgesehene Rolle angemessen zu spielen. Schon die Worte Rolle und Entgelt waren der jungen Frau unbekannt, sie spürte immer noch ein Befrem­den, ja Misstrauen dem Gast gegenüber. Aber der wusste sie zu beruhigen, verwies auf das vor ihr aufgeschlagene Buch mit dem entsprechenden Kapitel des weissagenden Propheten und der vor langen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden aufgezeichneten Ankündigung eines Erlösers, und er wusste die Mischung aus Verblüffung, Angst und Neugier zu mildern. Der Gast stand sichtlich unter Druck, als ob er sich der Kühnheit, ja Verwegenheit seines Anliegens bewusst wäre. Es war in der langen Berufsgeschichte seines Angestelltenlebens der zweifellos weitreichendste Auftrag, den er auszufüh­ren hatte, und ihm winkten entweder Schande oder ein sprunghafter Aufstieg in der Lokalpolitik oder gar in der gesamten Region. Der Auftrag war ihm zugesprochen worden, weil man seine Loyalität, seine Diskretion wie seine vermittelnden Fähigkeiten hoch einschätzte. Kurzum, in seinen werbenden Sprachklang drängte sich, selbst bei Anna, auch Aufregung und absolutes Bewährungsstreben, obwohl er nicht im Entferntesten ahnen konnte, wie viel vom Gelingen seiner Unternehmung welthistorisch abhängen konnte.

Gönnen wir uns eine Pause des Nachdenkens. Mir als Kind und auch dem späteren Erwachsenen wurde über dieses Ereignis eine ganz andere, erstaunli­che Geschichte erzählt, wie sie dann in mehreren Variationen im so genannten „Neuen Testament“ berichtet und in hunderten von Übersetzungen in al­le Welt verbreitet wurde. Gott schickte einen wohlgekleideten, demütigen Engelsboten, manchmal tritt er auf den herrlichen Bildern still ins Gemach der lesenden Jungfrau, manchmal hat er es eilig und naht im Sturzflug, das Gesicht noch gerötet von der Weltraumkühle, die er durchqueren musste. Die Botschaft, die er bringt, ist so wuchtig, dass sie den Körper Marias zu durchdringen, in Wallung zu bringen scheint. Auf anderen Bildern sieht man sie unterwürfig erstarrt, und trotzdem bleibt sie geistesgegenwärtig und sagt sofort, es gebe ja keinen Mann in ihrer Umgebung („da ich von keinem Man­ne weiß“). Da erscheint schon klar, dass Joseph nicht einfach ein zeugender Mann ist, sondern der kommende keusche Hausmann.

An der Heilsgeschichte Zweifelnden und Ungläubigen wurden später Höllen- und Todesstrafen angedroht, letztere auch massenhaft verhängt und vollstreckt. Über kleine Varianten der Geschichte mit hoher theologischer Bedeutung wurden Kriege geführt, aber im Großen und Ganzen wurde die „biblische Wahrheit“ in Etappen durchgesetzt und es entstand aus geringen Anfängen mit der katholischen Kirche eine grandiose und weltumspannende Institution, die sich der Bewahrung, Reinhaltung und Verkündigung der Botschaft auf prunkvolle Weise verschrieb. Die zunächst einfache Verkündi­gungsgeschichte mit dem tausendfach gemalten Engel, der verdutzten oder erwartungsvoll überraschten Maria und den millionenfachen Lob- und Dank­predigten wurde durch die Jahrhunderte unendlich oft ausgelegt, anger­eichert, besungen und bedichtet, ja sie wurde, da sich Millionen Menschen in den Dienst ihrer Propagierung und seelischen Vertiefung stellten, ein Ur­grund der abendländischen Kulturentwicklung, die sich sowohl so glanzvoll entfaltete wie sie von Ängsten und Schuldgefühlen durchzogen war. Denn das Ende der Weihnachtsgeschichte war, wie wir wissen, bitter, der lang ersehnte Heiland brachte zunächst kein Glück. Er wurde wegen Aufruhr, Anmaßung und Gotteslästerung gefoltert und hingerichtet, und wir Menschen sollten fortan alle ihm und dem gütigen Vater für dieses grausame Sterben danken. Es wurde das Sterben am Kreuz als Opfertod für unsere Sünden erklärt, deren Ka­talog in der Theologie später ständig wuchs zu ganz unhandlichen Folianten, Pflichtlektüre für alle jungen Priester, die auch Beichtväter werden sollten. Maria wusste bald nicht mehr so recht, wie ihr zumute war. Ein Gefühl von Fremdheit dem Gast gegenüber überkam sie, ja sie wurde immer misstraui­scher, versuchte es aber zu unterdrücken. Schließlich, so meinte sie zögernd, kam ihr eine für den Augenblick rettend erscheinende Idee. „Ich muss das mit Joseph besprechen“, sagte sie, erleichtert über ihren Einfall. Doch der Gast schien darauf vorbereitet, er zog die Stirne kraus, schüttelte lange den Kopf, überprüfte seine längst vorbereiteten Worte und merkte, dass er sie nicht überfordern durfte durch ein allzu rasches Nein zu ihrer Ausflucht. „Die Sache ist heikel. Nichts darf vorzeitig bekannt werden. Der Hohe Rat besteht vorerst auf strikter Geheimhaltung. Selbst Josef darf nichts erfahren. Auch er wird seine Rolle spielen müssen, er wird rechtzeitig kontaktiert und informiert werden. Ich nehme an, Geheimnisse zu haben war für ein Mäd­chen wie Sie bisher auf kleinste Geschehnisse begrenzt, wenn Sie überhaupt je in der Situation waren, dicht halten zu müssen. Wie steht es damit?“ Maria überkam ein Gefühl absoluter Einsamkeit. Sie war es gewohnt, Josef an allem, was sie fühlte und dachte, teilhaben zu lassen. Das ihr abverlang­te Schweigegebot erschien ihr übermächtig. „Ich bin fast noch ein Kind“, murmelte sie, sodass der Gast nachfragen musste, was sie geäußert habe. „Ich konnte nicht einmal vor meiner Mutter Geheimnisse haben, sie hätte es mir sofort angesehen.“

Dem Boten wurde es unbehaglich, er ließ sich aber nichts anmerken, dachte nur im Stillen: „Die Kleine ist überfordert, die wird sich irgendwann verplap­pern.“ Trotzdem stellte er mit ruhiger Stimme weitere Fragen, entschuldigte sich sogar für die Indiskretion seiner besonderen Frage, ein Begriff, den die junge Frau auch noch nie gehört hatte. „Trotzdem müssen wir wissen, wie es um Ihre Unschuld steht.“ Wieder reagiert Maria verständnislos. „Ich lasse die Frage fallen“, meinte er resigniert, machte aber auf einer Liste, die er mittler­weile aus einer feinen Lammledertasche gezogen hatte, heftig einen Strich. Auf die Frage nach ihrem Alter erhielt er eine nur annähernd brauchbare Antwort, als ungefähre Geburtszeit nannte sie das Jahr der großen Dürre, der Bote versuchte sich zu erinnern und rechnete und kam auf ein Alter von etwa vierzehn Jahren. „Wie lange seid ihr schon verlobt?“, hakte er nach. „Fünf Vollmonde zurück“, war ihre ungenaue Antwort, „es wurde bis in die Nacht hinein gefeiert und Dattelwein getrunken, deshalb weiß ich es.“

Verzweifelt bemühte er sich, Maria beizubringen, was eine „Erwählung“ sei, und dass das Los auf sie gefallen sei, weil man ihre Wohlanständigkeit kannte und auch ihre Familie einen guten Ruf hatte. Es war eine dreiste Lüge, mit einer infamen Zweideutigkeit, der sie wiederum nicht gewachsen war. So schwierig hatte er sich die Einfädelung dieses Plans oder besser Komplotts nicht vorgestellt. Maria war keine Spur einer schulischen Unterweisung zu­gutegekommen. Ihre Mutter Anna hatte zuhause erfolgreich versucht, ihr das Lesen beizubringen. Seither hatte sie immer ein Buch bei sich, kam aber selten über eine oder zwei Seiten am Tag hinaus.

Sie war noch immer unfähig, und blieb es teilweise bis zum bitteren Ende, die Dimension des Anliegens zu verstehen. „Ich werde noch mehrmals wie­derkommen“, versprach der Gast, und in Marias Ohr klang es fast wie eine Drohung. An wen sollte sie sich wenden in ihrer Not? Mit Gott verkehrte sie in vorgefertigten, kurzen Gebeten, an ein Ausschütten ihres nun gequälten Herzens vor ihm war nicht zu denken. Sie fühlte sich wirr im Kopf, ahnte nur, dass ihr etwas Ungeheuerliches zugemutet werden sollte, und doch fand sie in sich die erste Spur einer Bereitschaft, mitzumachen bei einem Unternehmen, das ihre Fassungskraft doch weit überstieg.

Es stand noch die Frömmigkeitsprüfung an. Durch vorsichtige Umfra­gen des Hohen Rats in ihrer Nachbarschaft stellte sich heraus, dass sie an keinem Feiertag den Gang in den Tempel versäumt hatte. Sie wurde oft, ins Gebet versunken, aufgefunden und war aus ihrer Andacht nur schwer her­aus zu holen. Manchmal hatte sie rasch wieder verschwindende traumartige Gesichte, denen sie lange nachhing, und sie war verzweifelt, dass sich ihr der Sinn dieser Botschaften nicht erschließen wollte. Und trotzdem begann sie zu glauben, dass Gott etwas Besonderes mit ihr vorhaben könnte. Doch sie schwieg darüber, und da sie viel allein war, griffen diese Gedanken nach ihr und wurden durch kein einfühlsames Gespräch in ihrer Bedeutung auf ein überhitztes jugendliches Gemüt auf einen festen Boden der Vernunft zurückgeführt.

Der Hohe Rat fing trotz vieler Bedenken an, an Marias Brauchbarkeit für sein Vorhaben zu glauben. Es gab längst eine Welle von Austritten aus der Ge­meinde von unzufrieden auf den Messias Wartenden, die sich den seltsamsten Sektenpredigern zuwandten. Eine nie gekannte Welle von Selbstgeißelungen breitete sich aus, Eremiten strömten in die Wüste, Bußprediger hatten Zulauf und forderten Umkehr, die Radikalsten unter ihnen glaubten das Weltende nahe. Der Hohe Rat geriet unter Druck, ein Wunder, ein rettendes Wunder zu produzieren. [...]

 

Josefs Schulung

Josef war ein nüchterner Mann, er dachte in handwerklichen Kategorien, und da er in seinem Beruf als Zimmermann einen gewissen Ruf erlangt hatte, war es ihm nicht ganz fremd, dass man mit öffentlichen Bau- und Reparaturaufträgen an ihn herantrat. [...]

Er verstand nur widerwillig, dass er in nächster Zeit nie im angrenzenden Raum bei Maria schlafen sollte, er wollte trotzig werden, weil er den höheren Zweck nicht verstand, aber als Maria sich sogar erleichtert zeigte, weil er unmäßig, aber keusch schnarchte, willigte er ein. Die Versuchung, sich ihr eines Tages erregt zu nähern, drohte ohnehin übermächtig zu werden. [...]

Warum sein Lehrer, denn er erhielt regelmäßig neue Unterweisungen, so­viel Gewicht auf den Ruf der Keuschheit legte, wunderte ihn, aber es kam seinen Prinzipien entgegen, obwohl er immer häufiger von erotischen Phanta­sien heimgesucht wurde. Denn Maria erblühte unter ihrer Erwählung zu einer anziehenden jungen Frau. Ihre charakterliche Verwandlung fiel auf, sie legte einen Teil ihrer früheren Scheu ab und achtete mehr auf ihre Kleidung. Jeder im Dorf spürte, dass mit dem Paar etwas Besonderes vorging, Josefs Aufträge wurden einträglicher, seine Zweifel, ob er jemals eine Familie ernähren könne, nahmen ab. Er stellte Hilfskräfte ein, behielt aber sein bescheidenes Wesen bei, was seine Beliebtheit erhöhte.

Eines Nachts besuchte er gegen alle Verabredungen und Gelübde doch seine nebenan im Haus schlafende Frau, seine Komplimente und sein hei­ßer Atem betörten die Braut, sie gab sich ihm halb schlafend hin und nun trugen sie beide ein verbotenes Geheimnis mit sich, das nur sie kannten. Sie hatten am nächsten Tag Mühe, sich in die Augen zu sehen, und Maria schien über die Maßen verwirrt und in ihren einfachen Tätigkeiten fahrig und unbeholfen. [...]

Marias Schwangerschaft wurde erst einige Zeit später unübersehbar. Die Bevölkerung nahm Anteil, Maria erhielt Blumen und kleine Geschenke über­bracht, und Josef fühlte sich zunehmend als stolzer und erfolgreicher Mann. Es war klar, dass der Hohe Rat das Paar protegierte, warum wusste keiner, von der drohenden Gefahr einer Steinigung war keine Rede mehr. Es wur­de gemunkelt, die Verlobten lebten eben doch nicht so keusch, wie man es in der anwachsenden Propaganda glauben gemacht hatte. Besorgte al­te Frauen sprachen von einem Verfall der Sitten. Abendliche Feste zogen sich länger in die Nacht hinein als vor wenigen Jahren. Theologie wurde zu einem Anliegen auch des niederen Volkes. Die Wohlhabenderen ließen sich von Märchenerzählern, deren Themen auffällig wechselten, mytholo­gische Geschichten berichten von indischen Wundergeburten, vor denen es zu ebenso ungewöhnlichen göttlichen Schwängerungen gekommen war. Die magische Abkunft indischer Götter wurde diskutiert, von griechischen Göttern und Halbgöttern war vermehrt die Rede, die auf sehr poetische Weise gezeugt wurden und zur Welt kamen. Aus Josef und Maria wurde ein öffentliches Paar, dessen Kind bereits im fünften Monat bedeutsame Eigenschaften zuerkannt wurden. Wundererwartungen wurden gezielt ge­nährt, es entstand eine Stimmung der Zeitenwende, das Gerücht, im fer­nen Rom habe sich der Kaiser zum Gott erklären lassen, erregte ausufernde Debatten. [...]

Der Hohe Rat fing an, die Jungfrauengeburt zu favorisieren, es war immer mehr von einer kommenden Heiligen Familie die Rede. So unauffällig wie möglich wurde die Überwachung des auserwählten Paares intensiviert, Marias Schwangerschaft, die man in ruhigeren Zeiten im niederen Volk notfalls als aus einem verfrühten Fehltritt eines ungeduldigen Paares entstanden aufgefasst hätte – auf den aber Steinigung stand –, wurde zunehmend verklärt als ein Wunder. Merkwürdige Begriffe machten die Runde: Die Schwangere sei unbefleckt geblieben, sie verwandelte sich in „die reine Magd des Herrn“. Die wenigen klassisch Gebildeten benutzten das römische Wort Immaculata und fühlten sich am Stammtisch als wohl informierte Theologen.

Der Rest ist bekannt: Die Geburt fiel in die kälteste Jahreszeit, das Paar war zur Volkszählung in ihre alte Heimat aufgebrochen, wurde von der Nie­derkunft überrascht, der lange Ritt auf dem Esel hatte sie beschleunigt. Die äußeren Umstände waren erbärmlich, ein hartherziger Wirt behauptete, die Herberge sei überfüllt und wies ihnen einen Stall zu. Da die Geburt unter er­bärmlichen Umständen ohne Zeugen, aber mit deutlichen Himmelszeichen erfolgt war, gab es kaum Hindernisse für die beginnende Verklärung des Kna­ben, dem eine große Zukunft vorausgesagt wurde. Wundergläubige Hirten waren dem Einschlag eines Meteoriten nachgelaufen, später behaupteten sie, ein Engel habe ihnen den Weg gewiesen. Die Gruppe wählte einen Boten, der die frohe Botschaft in die nächste Stadt tragen sollte, und so rollte die Welle der allgemeinen Verzückung an. Sogar die Scheichs einiger entfernter Stämme, später als Könige propagandistisch aufgewertet, kamen mit klei­nen Geschenken, die sich in der überhitzten Gerüchteküche der Region in Weihrauch, Gold und Myrrhen verwandelten. [...]

 

Ein früher Monolog des Hohen Priesters

„Unsere frühe Machbarkeitsstudie ist erfolgreich verlaufen: Der Messias ist programmierbar! Sein Erscheinen wird in die Zeit meines Regiments fal­len, oder in die meines Nachfolgers. Geschichte, Weltgeschichte, Religions­geschichte, Gottesgeschichte planen und verändern! Großartig! Das Volk murrt. Es will Erlösung. Auch vom römischen Joch! Der Verheißene soll endlich erscheinen! Es liegt in unserer Hand! Wir werden ihn kreieren und verwalten! Unsere Herrschaft wäre gesichert! Wir brauchen ein geeignetes Paar, das unseren Weisungen folgt. Eine Gebärerin, fürs Volk unbefleckt, vom Heiligen Geist geschwängert! Und einen Vater, der zustimmt, dass er es nicht war. Mir schwebt ein geniales Drehbuch vor. Dressierbare Menschen, die einen Gott gebären! Mir wird schwindlig. Ich, der Gottesgebärer, der das alles ins Werk setzt. Er soll des Höchsten Sohn werden, legitimiert durch das Fehlen von Sünde in seiner Abkunft! Wir haben selbst Gott jetzt in der Hand. Er muss uns seinen Sohn anvertrauen. Wir verhandeln auf Augenhöhe! Wir schreiben ihm seine Rolle vor: Kein Armeleuteheiland! Wundertätig. Auf der Basis der ältesten Überlieferung. Er wird das Elend unseres Volkes been­den. Wir brauchen kein Jota an der Schrift zu ändern. Nicht zu viel Neues. Es wird der Geweissagte sein! Der Vollender des ewigen Gesetzes der Väter. Das Volk ersehnt zu viel Neuerung. Die Last des Gehorsams muss bleiben. Es ist zu viel Unruhe in der Welt. Wir werden sie kanalisieren. Er wird hin­auswachsen über die Judenheit. Es wird ein Weltgott. Wir organisieren die Mission, eine weltumspannende Propaganda. Wir bestimmen die Taufregeln und damit die Mitgliedschaft, exklusiv. Die neue Herrlichkeit Gottes, von uns programmiert.“ [...]

 

Mutter Anna im Gespräch mit ihrem Ehemann

Als Marias Mutter Anna zuerst von der Erwählung ihrer Tochter erfuhr, erschrak sie zutiefst. Sie hatte sich immer ein ruhiges Leben gewünscht, mehrere Kinder, Frieden, gute Nachbarschaft, ein gewisses Ansehen im Dorf. [...]

Anna hatte genug Zeit, sich auf ihre Großmutterrolle vorzubereiten, und sie tat es mit Eifer, ja Inbrunst. Manchen Menschen im Dorf fiel es später auf, dass Anna, Maria und der kleine Jesus meist ein Dreiergrüppchen bilde­ten, unzertrennlich und liebevoll, wobei sich Maria sichtbar körperlich wie seelisch anlehnte an die lebenskluge, voll freundlicher Übersicht agierende Mutter. Betrachtet man Leonardo da Vincis Gemälde „Anna selbdritt“ oder „Anna selbdritt mit Johannes dem Täufer“, so will es einem vorkommen, als habe der Maler noch eineinhalb Jahrtausende später reale Kunde von diesen Verhältnissen gehabt, so innig malte er die gewährende, schützende Fürsorg­lichkeit Annas gegenüber den ihr Anvertrauten. In dieser großmütterlichen Behütung wagte es der Kleine wohl auch, etwas mehr Selbständigkeit zu zei­gen als allein in der sorgenden Umklammerung durch Mutter Maria. Ohne Anna hätte die Beziehung zwischen Mutter und Kind leicht in eine folie à deux ausarten können: Die natürliche und doch auch übertriebene Nähe zwischen einer halbledigen Mutter und ihrem früh religiös überhöhten Sohn stellte eine Gefahr für beide dar, für die Josef keinen ausreichenden Gegenhalt darstellte. Eine erhebliche Neurose wäre ziemlich wahrscheinlich geworden.

Wenn Anna für gewöhnlich nicht allzu viel Hoffnung auf großen seeli­schen Widerhall bei ihrem Mann hegte, so spürte sie in der Auseinanderset­zung mit der zukünftigen Rolle von „Maria mit Kind“ doch ihre Einsamkeit. [...]

„Alter, jetzt hör’ mal gut zu! Unsere Tochter ist in eine Geschichte hin­eingeraten, die mir Sorgen macht. Sie ist – am liebsten hätte ich, es wäre gar nicht wahr, ein bloßer Alptraum – vom Hohen Rat ausgewählt worden, den Messias zu gebären.“ Der Mann murmelte: „Anna du spinnst!“ Sie: „Spar dir jetzt deine schnellen und manchmal gehässigen Kommentare und höre zu! Also, Maria hat es mir nur bröckchenweise erzählt: Sie war schon im vierten Monat, man sah kaum den Bauch, da kam der arrogante Bote vom alten Kaiphas erneut. Ich dachte, der ist übergeschnappt, nachdem ich die ganze Geschichte gehört hatte. Die halten es nicht mehr aus, dass der verheißene Messias nicht erscheint. Deshalb wollen sie ihn herbeizaubern, und unsere Tochter soll ihn gebären. Ich konnte es nicht fassen, ich hab geglaubt, Maria ist verrückt geworden. Zuzutrauen wäre es ihr, sie liest und grübelt zu viel, hat Tagträume, geistert manchmal nachts herum. Meistens kann ich sie wieder be­ruhigen. Aber diesmal war’s kein Alptraum, und bevor sie mir alles gebeichtet hat, war sie längst verwickelt in das wahnsinnige Abenteuer. Sie will einfach eine Heilige werden, das ist keine fixe Idee mehr, sie ist davon überzeugt, dass Gott es will. Und s i e habe er ausgeguckt. Sie hat so geweint, als es raus war. Sie hätte es mir gar nicht erzählen dürfen. Jetzt hat sie Schuldgefühle – und ich dürfte es dir auch nicht erzählen, ‚höchste Geheimhaltungsstufe‘, hat sie gemurmelt, mit so absurden Ausdrücken hat man sie eingeschüchtert. [...]

Anna musste eine Pause machen, so sehr kehrte die anfängliche Empörung zurück, als sie begann, die Großintrige zu verstehen. „Du glaubst nicht, was ich durchgemacht habe in den letzten Wochen. Diese Heulerei von ihr, ein hilfloses Nein Nein!, und dann das langsam Umkippen ihren Stimmung: ‚Mama, wenn’s doch wahr wäre! Ich muss gehorsam sein! Auch wenn ich es nur aus Not versprochen habe!‘ Ich hab sie zuletzt nicht wiedererkannt. Bis mir klar wurde, dass die Geschichte nicht mehr aufzuhalten ist, wäre fast i c h verrückt geworden! Du musst mir beistehen, uns, auch wenn du nicht alles verstehst. Unser Leben wird sich verändern. [...]

Es fiel ihr schwer, ihren Mann in alle Feinheiten ihres Umgangs mit der kommenden Himmelskönigin einzuweihen. Wie viele Ehefrauen unter­schätzte sie seine geistigen Fähigkeiten, nur weil er schweigsam und manchmal ruppig und ein wenig schwer von Begriff war. Aber sie gab sich Mühe: „Weißt du, ich habe allmählich keine Angst mehr um unsere Tochter, sie könnte zu­sammenbrechen unter der Last ihre Rolle. Die legt nämlich geheime Kräfte in ihr frei. [...]

Etwas Anderes muss ich dir noch sagen, weil es ja auch unsere Haushalts­kasse betrifft. Sie braucht mehr und bessere Kleider. Das kann nicht alles unser Schwiegersohn tragen. Ich schlage vor, du räumst mir einen gewissen Betrag ein, ich hoffe auf deine Großzügigkeit. Du musst mir vertrauen, dass ich nicht leichtfertig mit deinem Geld umgehe. Du kannst ruhig ein oder zwei Dutzend Schafe mal außer der Reihe verkaufen. Ich gebe zu, ich gehe gern mit ihr zur Schneiderin, ich hätte nie gedacht, dass unsere Tochter auch eitel sein kann. Und nicht alle Stoffe und Farben hat die Schneiderin vorrätig, die muss sie erst in der Stadt bestellen, vor allem die mit den Goldborten, und Maria kann schon mal ganz ungeduldig drängen. So sehr ist sie inzwischen von ihrer Rolle angetan. Wenn ich mal bei einem teureren Stoff ein wenig die Brauen hebe, meint sie: ‚Ich mach’s doch für Jesus‘. [...]

 

Josefs Zorn

Mit dem ruhigen Schlaf, den sie sich erhoffte, war es für Anna nicht weit her, denn mit fliegendem Atem kam Josef herein gestürmt und warf sich auf ein Bodenpolster. „Ich drehe durch“, schrie er, „komme mit dem Weib nicht mehr klar. Jeden Abend das gleiche Theater: Sie lässt nicht zu, dass ich den Kleinen ins Bett bringe, sie will alles mit ihm alleine machen, das Ausziehen, das Waschen, ihn ins Bett bringen, mit ihm singen und beten, und dann noch das Vorlesen. Sie liest noch vor, wenn er längst schläft, und dann finde ich sie schlafend im Stuhl neben seinem Bett, und um mit mir zu reden, sagt sie, ist sie dann zu müde. Das ist doch kein Zusammenleben!

Aber schließlich wacht sie doch noch auf, wenn ich frage, was heute los war. Dann holt sie nämlich ein paar Kleider von einem Stapel, und bunte Stoffe, und will mir beides vorführen. Ich soll ihr dann helfen beim Aus­ziehen und Anziehen, sie weiß gar nicht, was das mit mir macht, wenn ich sie immer wieder halb nackt und die Kleider an ihrem Körper glatt streifen sehe. Ich werde scharf, und sie dreht und wendet sich vor dem Spiegel, in dem sie sich aber nie ganz sehen kann. Deshalb dauert die Zeremonie so lang, und sie sagt: ‚Das werden doch Kleider für den Auftritt mit unserem Sohn.‘ [...]

Anna fing an zu weinen. „Josef “, sagte sie, „ich wusste nicht, dass es so schlimm für dich kommen würde. Aber da ist nicht viel zu machen. Du hast zugestimmt, es bleibt dir nicht viel übrig als mitzuspielen. Ich hab‘ über deine Rolle zu wenig nachgedacht, ich war damit beschäftigt, die so genannte Erwählung zu verdauen, ich war ganz auf Seiten meiner Tochter, meiner Familie, du hast gar nicht mehr gezählt, es tut mir so leid, ich hatte dich fast aus den Augen verloren. Armer verhinderter, verhüteter Schwiegersohn. [...]

 

Annas Trostversuch

Sie kann nichts für ihren Zustand, es ist keine Bosheit, sie fühlt sich von etwas Höherem ergriffen, sie hat gehofft, es sei für dich leichter, keusch an ihrer Seite zu leben und ihr selbst gewähltes, erhabenes Schicksal, dem sie nun einmal zugestimmt hat, zu teilen. Wenn sie um das Ausmaß deines Kummers wüsste, wäre sie traurig, würde liebevoller mit dir sprechen, dich trösten. Aber ich bin sicher, du wirst schon in ein paar Monaten ruhiger werden. Sexualität ist nicht alles im Leben. Stell dir vor, du wärst Priester geworden in einer der Sekten, die die Heirat ihrer Diener Gottes nicht dulden. [...]

 

Marias Depression

Maria litt seit einiger Zeit unter unerklärlichen Stimmungsschwankungen. Es fiel ihr schwer morgens aufzustehen. Sie ertrug es nicht mehr, wenn der quirlige Sohn, der morgens schon einen Stimmungshöhepunkt erlebte, zu ihr ins Bett krabbeln wollte, um zu schmusen und dann mit ihr herum zu toben. Sie wollte ihn dann zum Vater hinüber schicken, aber der war meist schon unterwegs, nur manchmal fand sie später einen Zettel vor, dass er nicht vor dem Abend zurück sei. Sie fühlte sich dann allein gelassen, ahnte oder wusste aber auch, wie unzufrieden er mit seinem Leben und seinen unklaren Aufgaben war. Sie fand ihr Leben ohne viel Zärtlichkeit und ohne die ein einziges Mal erlebte stürmische Annäherung des Verlobten karg, und sie litt an dem verwirrenden Nebeneinander von Erwählung und Vernachlässigung. Die Rolle einer Heiligen Jungfrau zu leben, wurde einerseits zunehmend glanzvoll, andererseits zugleich leer. [...]

Der Zwölfjährige im Tempel

In Galiläa und in Teilen Judäas hatte es sich einige Jahre später herumgespro­chen, dass es in Nazareth einen Zimmermannslehrling und Wunderknaben der Theologie namens Jesus gab. Der Hohe Rat sah die Notwendigkeit, den „der da kommt“, den Schriftgelehrten in der Synagoge vorzustellen. Es wurde eine große Disputation anberaumt zwischen den erfahrensten Schriftgelehr­ten des Landes und dem jungen Jesus, der erst sehr spät über sein Erscheinen vor dem hohen Gremium erfuhr. Es blieb ihm kaum Zeit für eine gründliche Vorbereitung, doch er verstand sich ja nicht als studierten Schriftgelehrten, sondern als einen jungen Propheten, dem es nicht um Zitate und Ausle­gungskunststücke ging, sondern um Verkündigung aus der Weisheit und der Eingebung seines Herzens, aus dem er voller überraschendem Selbstver­trauen schöpfen konnte. Hierin fühlte er sich auch, ohne dass er es je vor einen ähnlichen Kreis schon hätte bezeugen können, fast traumwandlerisch sicher. [...]

 

Maria Magdalena

Ich wollte, ich hätte mehr deutendes tiefenpsychologisches und mytholo­gisches Wissen zur Verfügung als ein harmloser Freudianer, wie ich einer bin: Kirchengeschichte, Mythenkunde, Telepathie, Astrologie, Aura-Lesen, spirituellen Fernblick, Völkerkunde, Archäologie, Geschlechter-Forschung, Keuschheitstheologie und Enthaltsamkeitslehre, alles ist in dieser Geschichte, aber ich fürchte, sie wird nie endgültig entschlüsselt. Christentumsfeindliche Schmäher trauen den beiden, ihr und Jesus, alles zu an erotischer Annäherung und an Leidensbereitschaft, ihr besonders. Und die Kunstgeschichte hat sich ihrer zum großen Teil als der Helfenden und Schmachtenden bemächtigt. Dass sie ohne weitere, vielleicht erotische Absichten Jesus gesalbt oder ihm die Füße gewaschen hätte, das übersteigt die Phantasie vieler Zweifler. Aber ande­ren ist sie die selbstlose, gläubige Dienerin, eine der beglaubigten Jüngerinnen, Vorbild und Idol einer ganzen späteren Feministinnenfraktion, Kämpferin gegen die morgenländische Entwertung der Frau. Haben sie oder haben sie nicht? Hat er oder hat er nicht? Diese törichten Fragen erfassen ja gar nicht die Tiefe dieser Beziehung. Solche Zyniker wissen nichts von frommer Sehn­sucht, enthaltsamer Hingabe, von den Wonnen des Verzichts auf erotische Erfüllung, wenn Nähe ganz anders erlebt wird als der Sprung in die Betten: als heilige Identifizierung mit einer weltumspannenden Vision und Mission. Der Sage nach hat sie sogar ihren Reichtum geopfert für den Fortbestand des Apostelteams, und niemand sollte sie übertrumpfen in der Aufopferung für den Messias. Sie hat unter dem Zwielichtigen ihrer Rolle gelitten, unter den Verdächtigungen, den Schmähungen, den Vorwürfen, der Anmaßung als Frau unter vom Messias eigens ausgewählten Männern. Von einer Berufung in die Reihe der Apostel war nie die Rede, sie hat sich selbst zum Dienen und Mitmachen, Mitwandern berufen, und das hat ihr Feindschaft eingetragen. [...]

Da die wenig gebildeten Fischer, die Jesus zu Menschenfischern ernannte, ihm geistig wenig zu bieten hatten außer ihrer immer wieder wankelmüti­gen Gläubigkeit, der er nicht durch Intelligenz, sondern durch handfeste Wunder aufhelfen musste, wird ihm die Maria Magdalena als gebildete Ge­sprächspartnerin höchst willkommen gewesen sein in der etwas ungehobelten Gemeinschaft der Jünger.

Ich stelle mir manche intensive Abendkonversation zwischen Jesus und Maria Magdalena vor, wenn die Jünger längst schliefen oder sich über das jüngste Wunder unterhielten. Ich versuche mir auch vorzustellen, ob sie ihm zu Füßen saß, oder auf Augenhöhe ihm gegenüber. Ich stelle mir weiter vor, wie sie, von dem bereits erwähnten heiligen Schauer erfasst, nach seiner Hand griff, um ihn ihrer Hingabe, Bewunderung und Treue zu versichern. Wenn ihn, wie manchmal, Zweifel ankamen an seinem riesigen Auftrag, mag er ihre Hand in der seinen behalten und Kraft und Trost von ihr bezogen haben. Er wusste, was sich an Unmut und Bereitschaft zur Widerlegung, bis hin zur Verfolgung, bei seinen Feinden zusammenzog. Er kannte die Fangfragen der Pharisäer und die Heimtücke, die aus ihnen sprach. Ihre Menschenkenntnis mag geholfen haben, ihn gelegentlich zu warnen, wenn er noch an seine mal gütige, meist aber schon zornige Überzeugungskraft glaubte. Ihm war es unbegreiflich, dass man Leidenden nicht helfen sollte, nur weil Sonntag war. Er war zu überzeugt von seiner neuen Humanität, vor allem gegenüber den Armen, Kranken und Verzweifelten.

Wie mögen sie sich nach langen Gesprächen getrennt haben? Nach der Routenplanung für den nächsten Tag? Den durchdiskutierten Themen für die nächste Predigt? Sie mussten sich ja in oft rasch wechselnden Quartieren zurecht finden. Was geschah nach einem scheuen Gutenachtkuss, wenn die gegenseitige Anziehung mächtiger wurde? Eine fast übermenschliche Diszi­plin muss sie gehindert haben, einfach ermattet zusammen zu kriechen und irgendwann in der Morgendämmerung, vom Schlaf in der Geborgenheit der Nähe gestärkt, ihrem aufflammenden Begehren nachzugeben. Sie waren ein heiliges Team. Was wäre aus der späteren Christenheit geworden, wenn sie sich als Paar auch sinnlich hätten erleben können? Der unsägliche Kampf um die Sexualität in der Kirche und im von Schuld zerfressenen Volk, wäre er zu vermeiden gewesen? [...]

 

Jesu Latenz und Coming-out

Wie mag Jesus seine Pubertät zugebracht haben? Hat er außer seinem Vater Lehrmeister gehabt? Konnte er sich mit ihm auseinandersetzen? Über Hand­werkliches? Über die Aquisition von Aufträgen? Über Zahlungsmodalitäten für laufende Arbeiten? Über Holzeinkäufe? Über die kleine Landwirtschaft, die zum elterlichen Betrieb gehörte? Über Freizeitgestaltung? Über den Um­gang mit Dattelwein? Über den Umgang mit der weiteren Verwandtschaft? Und war Maria ihm später hilfreich, wenn Anfragen kamen, lange nach dem Auftritt im Tempel? Führte er ein Doppelleben, als junger Zimmermann und kommender Prophet? Hatte er theologische Gesprächspartner? Was erfuhr er über die Vorgänge und Streitereien in der Synagoge, die Kämpfe in den Gemeinden, über die wirtschaftlichen Probleme im Tempel, den er ja später wütend befreite von den Händlern und Geldwechslern? Wie kam er mit seinem eigenen Temperament zurecht, der zugleich Milde und Jähzornige? [...]

 

Das selbstdestruktive Verhalten von Jesus

Verfolgt man diese Verstrickung zwischen Jesus und den Schriftgelehrten wie dem israelischen Volk, so fällt die quasi selbstgewählte Aussichtslosig­keit seines Unterfangens auf. Auf der einen Seite der unter traumatischen Bedingungen geborene und aufgewachsene, uneheliche Sohn eines vierzehn­jährigen Mädchens, das angeblich Gott über eine Schwängerung durch den Heiligen Geist ausgewählt hat, um den Messias zu gebären und groß zu zie­hen; auf der andern Seite eine arrogante und versteinerte Priesterschaft, die sich in ihrer Machtstellung bedroht fühlt, aber das ausgewählte Volk Gottes theologisch wie politisch zu repräsentieren glaubt. [...]

Betrachtet man die traumatische Geburt Jesu und die frühen Lebensum­stände in einer durch Unaufrichtigkeit und Starrheit geprägten Gesellschaft und durch eine von unüberwindlicher Rollendifferenz und Strenge gezeich­neten Familie, so ist es für den Psychoanalytiker nicht verwunderlich, dass ein so Belasteter sich zu ungeheuren Leistungen der Selbstrechtfertigung und Selbstinszenierung aufschwingen muss, letzten Ende aber doch von tiefen, letztlich suizidalen Motiven getrieben wird. Jesus formuliert immer wieder, dass er ein auf Verfolgung und Tod zulaufendes Leben führt. Es sind die suizidalen Vorläufer-Phantasien, auch wenn er vertrauensvoll annimmt, dass sein Ende von seinem Vater vorbestimmt ist, der ihm auch die Heilkraft und die Macht der Verkündigung verliehen hat. [...]

 

Josef rückt in den Hintergrund

Von den Jahren zwischen dem Auftritt des zwölfjährigen Sohnes im Tempel und dem laut den Evangelien nahezu unvorbereiteten Auftritt vom predigen­den Jesus in Palästina ist wenig bekannt. Es ist, als ob die Zwischengeschichte von fast zwei Jahrzehnten die Hauptschriftsteller des Neuen Testamentes nicht sehr interessiert hätten. Was haben die drei Mitglieder der Heiligen Familie getrieben? Jesus, das welthistorische Wunderkind, war geboren, ge­tauft und beschnitten worden. Es wurde zur Schau gestellt, sicher liebevoll, aber auch in elterliche Widersprüche verstrickt erzogen worden. Was man heute die Freisprechung von Lehrlingen nennt, wenn sie von Zunftmeistern ihre Gesellenurkunde in Empfang nehmen, wird in den damaligen Formen wohl stattgefunden haben. Und dass sein Hauptlehrmeister, der Vater, an­wesend war, dürfen wir wohl annehmen. Aber dann wird es still um Josef, er verschwindet sozusagen aus seiner eigenen Geschichte, wird nicht mehr erwähnt, er scheidet aus dem Neuen Testament aus.

Wie er damit zurechtkam, wissen wir nicht. Er hatte wieder seine Hand­werkerruhe, Maria dürfte ihm seelisch fremder geworden sein, körperlich war sie es längst. Die Eltern werden wohl noch gelegentlich über ihren Sohn gesprochen haben, aber die Auffassungen über seine Bedeutung und Zukunft dürften stark voneinander abgewichen sein. Er hat sich nie über die Theolo­gie seines Sohnes, seine Tätigkeit, seine Wundergeschichten geäußert, aber gehört haben muss er von ihnen. Meinte er irgendwann, der Sohn gehe ihn nichts mehr an? Es blieb unbekannt, ob er sich taufen ließ, ob er stolz, be­unruhigt oder gleichgültig blieb, wir wissen es nicht. Er scheint überflüssig geworden zu sein, war kein Mitspieler mehr im sich anbahnenden Weltendra­ma. Fühlte er sich missbraucht, gab es eine Entlassung oder aus seiner Sicht eine Demission von seiner Rolle? Er war für das weitere Familieneinkommen doch noch zuständig, von den vielen billigen, teureren und auch unsinni­gen Geschenken abgesehen. [...]

 

Jesu Himmelfahrt

Die Frauen, die zum Grab pilgerten, hatten es offen gefunden und zu ihrer Bestürzung gesehen, dass es leer war. Aber als sie ihren Schreck überwun­den hatten und vorsichtig die Frohbotschaft der Auferstehung für möglich hielten, benachrichtigten sie die Jünger, die zunächst in sprachloses Entzü­cken und Jubelschreie ausbrachen. Denn dann musste sich die grauenhafte Niederlage der Kreuzigung in einen Triumph verwandeln. Was in den Ta- gen bis zur Himmelfahrt geschah, darüber berichten die Evangelisten nichts. Aber an dem vorbestimmten Tage versammelten sie sich mit Jesus, und er segnete sie. Sie konnten es immer noch nicht fassen, hielten sich an den Hän­den, hatten Tränen der Freude, des Stolzes, aber auch der Wehmut in den Augen.

Langsam hob Jesus vor ihren ab, die Arme noch im beginnenden Flug wie schützend über sie gebreitet. Ihm verschloss die Rührung den Mund. Die Jünger fielen sich tröstend in die Arme, schauten ihm nach, wie er lang­sam zum Firmament hin verschwand. Weit in der Höhe glaubten sie eine kleine Engelschar zu sehen, aber der Dunst des Nachmittags hüllte den Ent­schwindenden bald ein. So standen sie lange, fanden keine Worte, dann aber beglückwünschten sie sich, tauschten Erinnerungen aus, fingen vorsichtig an, Pläne zu schmieden und sich mit ihrem ihnen von ihrem Meister erteilten Missionsauftrag vertraut zu machen. Sie wussten, dass ein völlig neues Leben auf sie zukam, mit Reisen in eine noch ungewisse Zukunft. Sie versuchten sich Mut zu machen, versprachen sich, untereinander Kontakt zu halten und in Eintracht ihr Werk zu vollbringen, trotz der gewaltigen Entfernungen, die immer wieder zwischen ihnen liegen würden. Aus ihren noch länger an­haltenden Sorgen um ihre eigenen Predigtmöglichkeiten samt den auf sie zukommenden Sprachproblemen erlöste sie das bekannte Pfingstwunder, das ihnen eine unvermutete, ja glanzvolle Redebegabung verlieh. Sie gönnten sich ein opulentes letztes Abendmahl, nun ohne ihren Herrn, beteten gemeinsam für ihre kommenden Unternehmungen. Als ihnen der Dattelwein ein wenig zu Kopf gestiegen war, sangen sie die ihnen lieb gewordenen Choräle und trennten sich spät in der Nacht.

Wie lange Jesus aufsteigend unterwegs war bis zur Himmelpforte, wissen wir nicht. In einem Moment der zynischen Verzweiflung machte sehr spät in der Nacht, vermutlich angetrunken, der jüngste von ihnen, einen von allen höchst missbilligten Scherz, indem er das Aufstiegstempo, nach heutigen Maßstäben gemessen, bis über die Sterne hinauf mit 50 – 60 Stundenkilome­tern schätzte. Es war seine Form, den Schmerz mit einem Witz zu betäuben wie es bei Jugendlichen üblich ist, die anders unter den aktuellen Umstän­den von ihren Kumpanen noch ein anerkennendes Gelächter ernten wollen. Doch allen brannten die Augen noch von ihrem ergebnislosen Hochstarren. Er hatte sie offenbar endgültig verlassen.

Jesu Ansprache an den Vater im Himmel

Und überhaupt: Warum hast du mich, und gerade jetzt, losgeschickt? Hast du dich selbst nicht mehr ertragen in deiner Grausamkeit? Und mit deiner missglückten Schöpfung? War es ein letztes Auflackern deiner alttestamenta­rischen Rohheit, dass du mich so malträtieren lassen musstest? Konnte deine neue Liebe nicht anders dokumentiert werden? Dass die Menschen verwirrt waren ob meiner Mission, zeigt sich schon in der Häufung der Titel, die sie mir gaben, also muss auch dein Auftrag ziemlich unklar gewesen sein: ‚A und O, Brot des Lebens, Christus, Freund, Erlöser, Friedefürst, Gesalbter, Hei­land, guter Hirte, Hohepriester, König der Juden, König von Israel, Lamm Gottes, Licht der Welt, Menschensohn, Messias, Opfer, Retter, Salz der Erde, Sohn Gottes, Wahrheit, Weinstock, und vieles mehr‘, und ich füge hinzu ‚drohender Weltenrichter‘.“ Jesus hatte zuletzt Schweißperlen auf der Stirn.

Gottvater fühlte sich ziemlich in die Enge getrieben, schließlich sagte er schulterzuckend: „Ich bin alt geworden und müde, ich weiß nicht mehr so recht, warum ich dich losgeschickt habe und mit welchem voraussehbaren Schicksal. Wende deine Liebesbotschaft auch auf mich an, mit Vergebung und Gnade. Ich wusste nicht, dass du dich zum theologischen Wunderkind entwickeln würdest. Ich habe vieles nicht vorausgeahnt, was ich mit meiner Schöpfung angerichtet habe, Gutes wie Entsetzliches. Hilf mir, mit meinen Fehlern umzugehen, und häufe nicht zu viel Schuldgefühl auf mich. Auch Johannes hat es noch übertrieben mit seiner Schuld- und Bußlehre.“

Jesus war erschrocken über diese schmerzlichen Einsichten des Vaters und nahm zärtlich seine Hand. „Schwamm drüber, besser spät als nie! Lass’ uns lieber darüber reden und überlegen, wie wir Maria einbeziehen. Ihr glauben sie die mildere Variante deines Charakters eher, obwohl ihr Misstrauen in deinen Charakter noch groß ist: Sie bauen sie drunten zur Vermittlerin und Fürbitterin auf, wagen es kaum noch, dich direkt anzusprechen.“

Marias Gedanken während der Himmelfahrt

„Wir sind jetzt seit drei Tagen unterwegs und laut dem Sänftenführer wird die Reise noch einmal zwei Tage dauern. Manchmal frage ich mich, ob die vielen Englein, die uns tragen, nicht frieren in der kosmischen Kälte. Aber sie schei­nen vergnügt. Wer hätte gedacht, dass es so weit ist bis zur Himmelspforte. So viele verschiedene Sterne sausen vorbei, manche wie aus Eis, andere rot glühend, manche kahl und andere mit einem wunderschönen langen Schweif, durch den wir hindurch fliegen. Der Start war aufregend, mich hat es richtig in den Sessel gedrückt. Aber die Musik der Engelsgruppe war bereits himmlisch. Die Hinrichtung meines Sohnes war ein Alptraum. Ohne Maria Magdalena und vor allem Johannes, der mich immer wieder gestützt hat, hätte ich es nicht überlebt. Ich habe den ganzen Heimweg über geweint. Dass der Sturm den großen Vorhang im Tempel zerriss, war aufregend, viele schauten sich das auf dem Rückweg von Golgatha an. Kaiphas und die Seinen waren schon ein wenig angetrunken, als wir vorbei kamen. Eigentlich widerlich. Aber so sind die Juden. Keine Pietät vor der neuen Religion, vor dem Messias, den sie wie einen Verbre­cher behandelt haben. [...]

Wir mussten beim Hohen Rat ja das Keuschheitsgelübde unterschreiben. Mir fiel es nicht schwer, ich habe mir aus der körperlichen Liebe nie viel gemacht. Zärtlichkeiten ja, die habe ich ihm erlaubt. Aber nichts Stürmisches. Den Josef hat der Verzicht darauf arg bedrückt. In einer Stunde der Aufrich­tigkeit hat er mir gestanden, dass er mich ein einziges Mal heimlich nachts aufgesucht hat. Es war eine unruhige Nacht, und ich weiß nicht, warum er so glücklich und stolz abgezogen ist, bevor es hell wurde. Ich habe nie verstan­den, was damit im Alten Testament gemeint ist, wenn da steht, einer aus der Sippe Davids habe seine Frau ‚erkannt‘. Dabei war es ja stockdunkel. Ich habe ihn zwar intensiv gespürt, aber nicht gesehen, und er mich ja auch nicht. Und warum er so gestöhnt hat, wollte er mir hinterher auch nicht sagen. Schwamm drüber! [...]

Ab und zu um­schwirrt uns auf dem Flug eine Taube. Wo die wohl herkommt mitten im Weltraum? Sie schaut immer wieder zum Fenster herein. Es muss etwas Be­sonderes mit dem Tier sein. Ich habe Tauben schon immer gemocht. Anna hat immer welche gehalten. Aber dass die uns so treu begleitet! Oder holt sie uns ab? Eine Himmelstaube? Der Traum hat zu früh geendet. Vielleicht beschützt sie uns sogar oder zeigt uns den Weg. Was soll eine einfache Frau mit dem Heiligen Geist anfangen? [...]

 

Marias Ankunft im Himmel

Marias Aufregung wuchs, als sie durch eine rapide Bremsung aus ihren Ge­danken gerissen wurde. Aber sie konnte über sich nur eine hell erleuchtete Wolkenschicht erkennen. Nur als sie eine Hand schützend vor das blendende Licht hielt, konnte sie auf den Wolkenrändern einige sitzende Engel aus­machen. Ängstlich dachte sie: „Wenn die bloß nicht herunter fallen“, und plötzlich erinnerte sie sich an Kühnheiten des kleinen Jesus, der sich ähnlich keck auf Mauern und Balken gesetzt hatte. „Mir wurde angst und bange und ich forderte ihn auf, in meine Arme zu springen. Wenn er sich weigerte, von einem Hochsitz herunter zu kommen, schalt ich ihn auch: ‚Immer musst du mir Sorgen machen! Kein Podest ist dir zu hoch, um oben zu thronen!‘“ Und in stiller Bitterkeit sagte sie zu sich: „Und was hat er nun von seiner Verwegenheit?“

Aber dann fiel ihr ein, dass sie ihn ja gleich sehen würde, und ihr Herz schlug schnell und fast schmerzhaft heftig, blieb aber fast stehen bei dem Gedanken, dass sie ja dann dem ihr noch unbekannten Gottvater gegen­übertreten müsste. „Ob Jesus mich dem wohl vorstellt? Macht man da einen Knicks oder ein Verbeugung, schaut auf oder senkt die Augen? Vorsichtshal­ber werde ich auf die Knie sinken und erst zu ihm aufblicken, wenn er mich auffordert.“ [...]

Und dann stürzten sich die beiden in die Arme, er stammelte: „Meine liebe Mutter!“, sie schluchzte „Mein lieber Sohn!“, und sie setzten sich auf eine Ruhebank. Niemand störte sie, eine solche Ruhe hatten sie in den ganzen letzten Jahren nie mehr erlebt. Sie schwiegen lange. Dann führte sie ein Engel in ihre Gemächer. Sie hatten sich wieder gefunden, ohne dass weitere Worte fielen, und doch wussten sie beide, dass sie sich noch viel zu erzählen hätten.

Vorstellung Marias bei Gottvater

[...]
Den beiden Herren war es neu, nun den Himmel zusammen mit einer Dame zu bewohnen. Protokollarische Probleme wurden dadurch gelöst, dass ihr Thron etwas unterhalb der anderen beiden stand, sodass sie, für alle sichtbar, Rang drei einnahm. Der Heilige Geist erhielt keinen eigenen Thron, er hielt sozusagen eine unsichtbare Stabsstellung inne und trat nur gelegentlich auf Erden als Taube in Erscheinung, wenn er sich nicht grade in Tarngestalt bewegte, sozusagen in allergeheimster, fruchtbarer Mission, was nichts an seinem ungewöhnlichen Einfluss minderte. Allerdings hatten die Kompetenzen neu ausgehandelt zu werden, wenn man auch sagen muss, dass Maria noch wenig aktive Mitsprache ausübte, sie nahm eher dankbar entgegen, was man ihr zuteilte: Unter anderem die Macht der Zuständigkeit für die Seelen in Not aller irdischen Gläubigen, die sich nicht direkt an die beiden Männer zu wenden trauten, was für einen nicht unerheblichen Teil der frommen katholischen Menschheit zutraf, die sich an Autoritäten eher über den Umweg eines Vermittlers, in diesem Fall einer Vermittlerin wandten. [...]

 

Die Vorbereitung der Krönung

Alle beteiligten Personen waren sich klar darüber, dass es eine rauschende und für Jahrtausende denkwürdige Inszenierung werden sollte. Zu aller Erstaunen stellte sich heraus, dass der Heilige Geist ein erfahrener Zeremonienmeis­ter war. Er hatte in seinem langen Leben bereits eine fast unendliche Zahl von frommen und weltlichen Feierlichkeiten überflogen und beobachtet, teilweise auch schon selbst eingegriffen, Entwürfe geprüft und Entwürfe selbst gestaltet. Maria bestach die Herren durch eine erstaunliche Kenntnis von Stoffen und Farben, Bordüren, Knöpfen und Spangen und deren Ei­genschaften in wechselnder Beleuchtung. Sie kannte die Geheimnisse des Faltenwurfs wie der notwendigen Stärkung der Stoffe. Doch für die vor­aussichtlich wochenlange Arbeit in der Schneiderei war es notwendig, in einem Spezialaufzug eine Gruppe erfahrener Schneiderinnen, Stickerinnen und Paramentikerinnen hochzuholen, ihnen aber von vorn herein klar zu machen, dass es sich um eine nur beschränkte Aufenthaltserlaubnis handle, nach deren Ablauf sie wieder an ihre irdischen, oft armseligen Wohnstät­ten zurückgebracht werden sollten. Eine dauernde Aufenthaltsgenehmigung war gar nicht vorgesehen.. Da es eine internationale Truppe werden wür­de, sprach man sogar von beschleunigter Rückführung in ihre jeweiligen Heimatländer. Ein naseweiser Engel mittleren Ranges tat sich wichtig und sprach von Gastarbeiterinnen. Als die Nähtruppe versammelt war, gewähr­te man ihnen, obwohl sie ihre irdische Gestalt und Kleidung beibehielten, gleich zum Empfang verdünnten Nektar und etwas angetrocknete Ambro­sia. Sie waren es zufrieden und betrachteten ihren Leiharbeitsvertrag als eine kostbare Chance, Erhöhung und Erwählung, mit der Hoffnung auf beschleunigte Integration in den schwieriger gewordenen irdischen Arbeits­markt. [...]

 

Pietà

Zu den eher niederdrückenden Erinnerungen gehört folgendes Bild: Jesus und Maria hatten sich seit einiger Zeit daran gewöhnt, im Himmel zu thro­nen. Jesu schreckliches, niederschmetterndes, einschüchterndes, ewig an die Sünden erinnerndes Bild am Kreuz hing milliardenfach in allen Winkeln der christlichen Welt, und wo es noch nicht hing, gab es Epochen, in denen es mit Feuer und Schwert verbreitet wurde. Zehntausenden von Missionaren war es eine brennende Herzensangelegenheit, dieses Bild und die dazugehörige Religion zu predigen, sie hatten schmerzendes Mitleid mit denen, die nicht unter diesem Bild lebten und wollten sie retten vor ihrem ewigen Tod in der Hölle. Sie begleiteten die Eroberungszüge ihrer Kriegsherren, Könige und Kaiser, sodass in vielen Ländern Unterjochung und Ausplünderung mit drän­gender Predigt und Zwangstaufe Hand in Hand gingen. Die unbestreitbare Wohltätigkeit mancher Orden schönte das gewalttätige Bild. Für die Heiden­mission war in den meisten Kirchen ein gesonderter Opferstock aufgebaut. [...]

Aber lass mich über eine wichtige, bedrückende Erinnerung sprechen. Ich wunderte mich, dass in den Evangelien nichts darüber stand, dass Übereifrige mir den vom Kreuz abgenommenen, entsetzlich zugerichteten Sohn und schon steif gewordenen Leichnam einfach für eine Weile in den Schoß gelegt haben sollen. Vielleicht spielte Scham bei den frommen Schriftstellern dabei eine Rolle, diese Tat nicht literarisch zu überliefern. Aber das entsetzliche Bild, später Pietà genannt, muss trotzdem in geheimen Quellen und Phantasien überlebt haben und war von Künstlern vielfältig zu neuem Andachtsglanz gebracht worden, oftin schamloser Direktheit. Auch für die Kirche wurde es zum gefeierten Meditationsbild und tröstete Millionen von Müttern, die mit der Erinnerung an ihre Kriegen gefallenen Söhnen fertig werden mussten.

Maria versuchte das Gedenken an die von perversen und schmerzsüchtigen Helfern bei der Kreuzabnahme inszenierte Szene der tragischen Mutterschaft lange zu verdrängen. Sie war damals unter dem Kreuz zu überwältigt gewe- sen, um sich gegen die Zumutung dieser Zurschaustellung zu wehren. In den Schoß, wo der Säugling und das Kleinkind Jesus gelegen und gesessen hatten, legten sie nun den entstellten Sohn in seiner Entstelltheit der „zarten Jungfrau“, sei es als Anklage gegen die Juden oder als Provokation sogar ge­gen Gott, der seinen Heilsplan so grausam eingerichtet hatte. Aber warum? Niemand wird es erforschen. Doch die Künstler ließen nicht locker, dieses Drama neu zu deuten und die Seele der Gläubigen, vor allem den Schmerz der Mutter, mit ihren unendlich verfeinerten malerischen oder bildhauerischen Mitteln drastisch zu erkunden.

Das Bild hatte sich eingebrannt in Marias Seele, und nach den Stunden während der öffentlichen Folter, dem Gang nach Golgatha und der Hin­richtung, denen sie wohl mit unendlicher Liebe und Verstörung beiwohnte, wurde diese Szene zum grausig krönenden Abschluss des ihr auferlegten Lei­dens am Schicksal ihres Sohnes. [...]

 

Epilog

Im Selbstverständnis von Kaiphas ist sein gigantisches Experiment, mit dem er dem zögernden Jahweh zuvorkommen und weltweite Anerkennung und Ruhm und die Festigung seiner Macht finden wollte, gescheitert. Man könnte sagen: Auch nach dem jüdischen Glauben hat er gegen das Gesetz versto­ßen. Man soll Gott nicht versuchen, ihm nicht ins Handwerk pfuschen, sich nicht anmaßen, in den religiösen Gang der Weltgeschichte nach eigenem Gutdünken einzugreifen. Er hat vielleicht durch seinen Frevel sogar verhin­dert, dass Gott nach seinem eigenen ewigen Plan und zu seinem von ihm gewählten Zeitpunkt den Juden einen Messias geschickt hätte, den sie er­kannten und anerkannten. Wer Gott gegenüber ungeduldig ist, den lässt er schließlich scheitern. Aber mit der Erfindung der Jungfräulichkeit der auser­wählten Messiasgebärerin mit dem ausgehandelten Keuschheitspakt hat er doch den Grundstein gelegt für die weltweit erfolgreichere christliche Heils­geschichte. Soll man sagen, Gottvater habe das schlau eingefädelte Abenteuer des Hohenpriesters aufgegriffen, um seinen eigenen Heilsplan doch noch zu verwirklichen? Unter schmerzhafter Opferung des ursprünglichen Ziel­publikums, der Juden? Er hat die Spaltung des monotheistischen Anteils der Menschheit in Kauf nehmen müssen, von Mohamed und seinem später ebenfalls von harten inneren Kämpfen und der gewaltsamen Ausbreitung gekennzeichneten Islam war damals noch lange nicht die Rede.

So wurden die Grenzen von Gottes Allmacht schmerzlich spürbar, wie überhaupt Schmerz eines der tiefsten Kennzeichen seiner auf Menschen bezo­genen Tätigkeit innerhalb seiner Schöpfung ist, wo doch vielleicht Anerken­nung und Dankbarkeit, sogar dankbarer Jubel seine Ziele waren. Angesichts des Leids, das Menschen von Anfang an unter seiner Führung erlitten haben, wäre aber jede Form von Schadenfreude geradezu teuflisch. Der Teufel wäre dann doch nicht sein gelegentlich widerwärtigster, aber erfolgreicher Mitar­beiter gewesen, sondern, man scheut sich, es auszusprechen: der heimliche satanische Sieger, der schließlich triumphierte. Und dies nicht zuletzt auf­grund der aus Versehen von Gott eingebauten Bösartigkeit seiner Kreatur, die schon, wie bereits berichtet, bei der ersten, damals noch leicht erscheinenden Gehorsamsprüfung von Adam und Eva kläglich versagt hat. Trotzdem haben diese Menschen im Lauf ihrer sehr schwierigen Geschichte Großartiges und Entsetzliches geleistet oder angerichtet, aber es hat nicht genügt für eine irgendwie erhoffte moralische Höherentwicklung, an die so viele würdige Denker und Forscher und Religionsführer verzweifelt glauben wollten. Der ebenfalls miterschaffene Sinn für Frömmigkeit und Gerechtigkeit hat nicht gereicht, der verderblichen Sucht nach Macht, Reichtum und Sex ausrei­chende Fesseln entgegenzusetzen. In jüngster Zeit macht sich die Sünde des allgemeinen Betrugs, des Massenmords wie der Massenvergewaltigung in einem Maße bemerkbar, dass die letzten Träger von Zuversicht für eine wirk­liche Besserung des Menschengeschlechts die Hoffnung aufzugeben bereit sind. Früher hätte man gesagt: „Lasset uns beten!“ Aber auch die Zuversicht in die Kraft des Gebets ist vielerorts merklich, andere sagen beängstigend geschwunden.

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