Tilmann Moser

Das Ich  vor allem ein körperliches

Freuds Ur-Wort als Basis von Säuglings- und Kindertherapie

Es wird endlos zitiert, in psychoanalytischer Theorie, Praxis und den Fallgeschichten, aber fast ohne konkrete, das meint berührende Bedeutung. Der Körper wird nur „symbolisiert“behandelt, aber als konkrete Basis aller Affekte verschwindet er. Therapeutisch erreichbar wird er höchstens durch angestrengte Introspektion, nicht als konkrete Quelle unendlich vieler gespeicherter, zunächst unbewusster, aber heraufholbarer Erinnerungen.

Die Kinderanalyse kam erst Jahrzehnte nach Freuds großen Entdeckungen als Nachhut in Gang, dann aber gleich von zwei rivalisierenden Pionierinnen geschaffen: Anna Freud und Melanie Klein, deren Streit fast die Londoner analytische Welt definitiv gespalten hätte. Heute riecht es fast nach kreativer Ergänzung der beiden Strömungen, und das glänzende Buch, hrsg. von Bernd Traxl, zeigt, dass die moderne Kinderanalyse eine dramatisch mutige Vorhut bildet, mindestens in dem außergewöhnlichen Niveau von viele, auch internationalen Expertinnen, die sich viel zutrauen: Therapie von psychischen intrauterinen Schäden bis hin etwa zu den psychosomatischen Folgen von früher und intensiver Parentfizierung für traumatisierte Eltern, die dem Kind keinen eigenen Aufbau des Selbst ermöglichen können. Es bleibt innerlich leer, verlernt eigenes Wünschen und entwickelt oft eine lebenslange Helfer – und Retteridentität und wird günstigenfalls oder schlimmstenfalls eine leicht erschöpfbare körperferne Sozialarbeiterin oder Psychotherapeutin.

Ohne viele Namensnennungen zitiere ich nur einige Überschriften von Texten, die die brillianten Schwerpunkte der Arbeit mit Babys und Kleinkindern ahnen lassen: „Annäherungen an die psychische Identität des Babys entlang seiner Körperlichkeit“, „Wie kann das Baby seinen Körper bewohnen?“, „Körper, Mutter und Psyche“, „Rollenumkehr in der Familie und die Störungen des Körper-Ichs des Kindes“, usw., alles übertragbar auch auf die Frühzeit der inneren Kinder im Erwachsenen, anders dokumentiert und gedeutet als das rückwärts erschlossene Kind der klassischen Psychoanalyse.

Der Analytiker, der ein solches Buch gründlich studiert, wird erkennen müssen, dass ihm ein ganzer Kontinent fehlt in seiner Theorie und Praxis fehlt, außer er hat in seiner  Ausbildung in jüngerer Zeit teilgenommen an einem Seminar über Babyforschung oder noch besser am sogenannten Babywatching. „Der dunkle Kontinent“ galt früher der Psychologie der Weiblichkeit bei Freud, heute heißt er eher: es fehlt ein rettender Umgang mit der frühen Körperlichkeit, auf die Freuds Diktum, dass das Ich von Anfang an ein Körperliches sei, schon immer fast folgenlos hingewiesen hat.

Bernd Traxl(Hrsg), Körpersprache, Körperbild und Körper-Ich. Ein grundlegendes Lehrbuch, das nicht zu spät kommt. Brandes und Apsel-Verlag, Frankfurt 2016, 235 S., kart. 29.90 Euro

Tilmann Moser