Tilmann Moser

Siehe auch eine weitere Reension weiter unten: Ewig lockende und gefährliche Sehnsucht

Sexuelle Störungen im Überfluss

Ulrich Clement über alte und neue Modelle von Theorie und Therapie

Früher war vorherrschend die Deutung: Hemmungen aus repressiver Moral oder körperlichen Dysfunktionen. Clement gräbt tiefer: „Sexuelle Ströungen werden kaum noch durch sexuelle Motive erklärt, sondern durch ein ganzes Spektrum von Dynamiken jenseits der Sexualität“, nämlich durch nur analytisch zu erhellende Spannungen im Sehnsuchts-, Verschmelzungs- und Machtkampf zwischen den Partnern, die oft ständig zwischen Ja und Nein schwanken, wenn Resignation, Groll und Scham keine eindeutigen Zeichen zur Verständigung über Wünsche und Ängste mehr geben. Und dabei gibt es immer auch das „männliche Nein und das weibliche Nein“. Und dahinter die Ermattung, die Enttäuschung und die längst drohende Langeweile. Aber die muss entzhiffert werden in ihrer viel verdeckenden Bedeutung: Was verbirgt sich dahinter und wird nicht ausgedrückt?

Clement „erfindet“ und praktiziert eine Fülle von Intgervietechniken gleich am Anfang, um das längst Unsagbare wieder sagbar zu machen. Er ist sozusagen ein raffinierter Fallensteller, um hinter die traurigen Geheimnisse im Schlafzimmers zu kommen. Mit am wirksammsten scheint folgendes Vorgehen: Er lässt die ratlos mit- und nebeneinander vor sich hin lebenden Patienten getrennt eine Liste von unausgesprochenen Enttäuschungen, Wünschen, Verletzungen und Glücksmomenten ausfüllen, spricht mit ihnen über ihre Erlebnisse dabei, die erstaunlich intensiv sein können, und bittet sie dann nach therapeutischer Vorbereitung um den Austauch der “Dokumente“: Neben dem allzu bekannten kommt ein neuer Partner zum Vorschein, der mit Hilfe des moderierenden Therapeuten neu wahrgenommen, kennengelernt und wenn möglich sogar begeistert entdeckt wird. Clement begrüßt dann eine „neue Neugier“ auf den bisher unbekannten Gast in der Partnerschaft.

Clement bietet spannende Fallgeschichten, auch von seinen wissenschaftlichen Vorläufern und offen bewunderten Parallelforschern, deren Thesen und Fälle er zumTeil ergänzt oder neu deutet. So werden auch die vielen Tabellen nicht zur Mühsal, sondern unter seinen Erklärungen zu Offenbarungen über die Vielfalt der Irrungen und Wirrungen des Begehrens im Zirkus des ewigen Schwankens zwischen Nähe und Distanz, das so oft Unverständnis und Groll hervorrufen kann. Und so kann er auch spielend umgehenmit den alten Gegensätzen des Sprachstils:: „Sexuelle Sprache direkt, eindeutig, bekanntes Skript, Ergebnis(orientiert,tm), banal“, versus „andeutend, mehrdeutig, spielerisch, offen, Prozess, geheimnisvoll.“ Das heißt, ein neuer seelischer Reichtum kann den ewigen Kampf um den Orgasmus seelisch umspielen und kreativ machen. Er nennt es denWechsel von der Aktions- oder Erfolgsorientierung zum fast musikalischen „Sein“ der Begegnung, die Zeit und Gelassenheit braucht. Und dass Clement ein Meister der gut lesbaren Wissenschaftssprache ist, dankt man ihm außerdem.

Tilmann Moser

Ewig lockende und gefährliche Sehnsucht

Ulrich Clement über die Dynamik des Begehrens

Die Zahl der Paartherapie-Bücher wächst beinahe exponentiell, und allen scheint gemeinsam, zunächst einmal die Sprachstörungen zwischen den Partnern zu beheben, damit wieder aufrichtige Kommunikation entstehen kann. Über zu viel Peinliches und Beschämendes wird geschwiegen. Ulrich Clement nähert sich mit erfahrungs- und theoriereichem Mut dem Zentralthema mit seiner „Systemischen Sexualtherapie in der Praxis“. Deshalb sein Programm: „Aber der Witz der erotischen Spannung, ihre Leichtigkeit und ihre Vitalität entfalten sich erst in Verbindung mit den ´schweren` Seiten, mit Bedürftigkeit, Scham und Angst ebenso mit Bosheit, mit Macht, Angst und Schmerz.“ Dies alles untersucht er mit vielen spannenden Fallbeschichten, ausgehend von den Klagen seiner Patienten: Untreue, Erstarrung, Langeweile, Resignation. Aber: „Was ist der Resignation vorausgegangen? Welches beunruhigende Gefühl oder welcher bedrohliche Inhalt wird durch die Langeweile unsichtbar gemacht? Was folgt der Ratlosigkeit?“

Clement gibt faszinierende Einblicke in seine Praxis, mit vielen „tools“ der Interventionenen, unter einer, die das Sprechen wieder in Gang setzt: Er lässt die Partner getrennt aufschreiben, was sie aneinander stört und beglückt, und nach einer therapeutischen Vorbereitung bittet er, die Berichte auszutauschen: Erstaunen, Befremden, Schock, Jammern und Zähneklappern, aber auch neue Neugier können die Folge sein, aber die Offenbarung braucht die beruhigende und ermutigende Moderation des Therapeuten.

Er unterscheidet als basale Ziele: „Lust , Intimität, Stressreduktion, Selbstwert, Reproduktion“ und trennt Sex als reine Aktion von der Sexualität als „Sein“, also als einen viel tieferen Zustand des Erlebens.

Viele Tabellen können oft viel akademische Lektüre stören, aber Clement belebt seine vielen Tabellen mit spannenden Erklärungen, die Überblick mit enormer Belesenheit und Reflexion verbinden. Er führt gelassen durch die lange Praxisgeschichte der Sexualberatung und man folgt gespannt den Wandlungen in der Wahrnehmung von Sexualität und deren Verwundungen.

Man darf Clements Werk auch ruhig als allgemein analytisches Lehrbuch lesen, unter dem speziellen Aspekt der Paardynamik und ihrer oft niederschmetternden Probleme. Außerdem ist er ein wissenschaftlicher Sprachmeister, und das erhöht den Genuss.

Ulrich Clement, „Dynamik des Begehrens. Systemische Sexualtherapie in der Praxis.“, Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2016, 201 S., Kart., 21.95 Euro

Tilmann Moser