Tilmann Moser

Hermann Beland: Unaushaltbarkeit.

Psychoanalytische Aufsätze II zu Theorie, Klinik und Gesellschaft

von Tilmann Moser

Der zweite Band seiner gesammelten Aufsätze ist erschienen, und man darf das Buch in Psychotherapeutenkreisen ein Ereignis nennen. Kein zeitgenössischer deutscher Psychoanalytiker hat so tief in die seelischen Vorgänge der frühesten Kindheit hineingeleuchtet wie er. Aber seine Arbeit waren nur verstreut aufzufinden in den Fachzeitschriften, dabei ist er durch den ersten Band seiner Arbeiten "Die Angst vor Denken und Tun" (Gießen 2008) zu einem Klassiker geworden. Keine hat in den therapeutischen Abgründen von W. Bion und Melanie Klein so gründlich geschürft wie er. Außerdem ist er ein wissenschaftlicher Schriftsteller von hohen Gnaden, bei dem jeder Satz die plausible Brücke zu den nächsten Gedanken bildet, an denen man sich als Leser mit Einsicht und Gewinn entlang hangeln kann. Einzige Kritikpunkt: wer nicht mit den Schriften von W. Bion und seinen Schülern vertraut ist, kann sich gelegentlich verirren in den neuen Begriffsschöpfungen des revolutionären psychoanalytischen Denkers.

Was Beland auszeichnet, ist nicht nur die Theorie und die Behandlungspraxis für das leidende Individuum, sondern die Übertragung seines Denkens auf die Analyse großer Gruppen und ganzer Nationen. Er war führend beteiligt an den Diskussionsgruppen zwischen israelischen und deutschen Psychoanalytikern, und mit der Aufarbeitung der psychodynamischen Vorgängen in großen, von destruktiver und wahnhafter Aggressivität getragenen Kollektiven, die Psyche der Deutschen wie das psychologischen Innenleben der psychotherapeutischen Verbände oder die Seelenverwirrung von Kirchen - den ehemaligen Theologen haben es besonders abwegige Entwicklungen schon im frühen Christentum gefesselt - sind ein Lebensthema geworden.

Hervorgehoben seien nur die Aufsätze zum Neid als universeller, sei es destruktiver oder Wachstum fördernder Kraft, die Arbeit über "Religion und Gewalt", die politische Deutung des "Erlkönigs" von Goethe, oder die "Todesangst am Anfang des Lebens" neben den "regulativen Strukturen des psychischen Systems". Beland ist ein Kenner von Literatur und Mythologie; die griechischen Tragödien werden zu Fundquellen unerwarteter und umwälzender Einsicht. Sein Bildungshorizont ist erstaunlich breit, von dem er immer wieder zurückkehren kann zu den frühesten Störungen von Säugling und Kleinkind.

Er diskutiert Freuds Todestriebtheorie neu und verknüpft sie kreativ mit den Traumata, die er mit dem Titel seiner Bandes "unaushaltbar" nennt: sie werden abgespalten und Treiben ihr schwer durchschaubares Unwesen noch in den späten Verwirrungen und Leiden des Erwachsenen. Sie stellen den Psychotherapeuten vor große Herausforderungen, am deutlichsten aufgezeigt in der Arbeit über den Umgang mit den so genannten "Vorwurfspatienten", die frühe Rachephantasien für erlittenes Kinderunrecht gegenüber neu und ins Unkenntliche verwandelt gegen den Analytiker richten, der Mühe hat, seine seelische Gleichgewicht zu bewahren und nicht gereizt zurück zu schlagen.

Beland war in vielen Kollegengruppen als Supervisor gefragt, er hat die Rezeption der zunächst schwer gängigen Einsichten von Melanie Klein, W. Bion und H. Rosenfeld gefördert und manches Dogma unreflektierter Freud-Nachfolge aus den Angeln gehoben. Auch längst erfahrenen Psychoanalytikern bietet Beland neue Zugänge zu früheren, zum Teil überholten Behandlungstechniken, die durch das Übersehen der frühesten Traumata zu überlangen oder sogar schädlichen Analysen führen konnten. Man darf sein Denken wie sein Lehren durchaus für die deutsche Psychoanalyse als segensreich bezeichnen. Er hat als Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung den Bereich des Denkbaren und des Thematisierbaren erweitert und damit vielen Patienten geholfen, den "genügend guten" Psychotherapeuten zu finden.

Hermann Beland: Unaushaltbarkeit. Psychoanalytische Aufsätze II zu Theorie, Klinik und Gesellschaft, psychosozial-verlag, Gießen 2011, ÄrzteblattPP 9/2011