Jens K. Tiedemann: Die Scham, das Selbst und der Andere
Psychodynamik und Therapie von Schamkonflikten
Von Tilmann Moser
Seit den doktrinären Zeiten der Einpersonen-Psychoanalyse, wie sie Freud zur Welt gebracht hat, ist viel therapeutisches und theoretisches Neuland hinzu gekommen. Für Freud war der Analytiker ein neutraler Beobachter, der das Unbewusste ergründen und bewusst machen wollte. Die Heilung sollte über die gewonnene Einsicht erfolgen. Trotzdem gibt es bei Freud kaum beachtete Stellen, wo er der entstehenden Beziehung zwischen Therapeut und Patient gebührenden Raum einräumt. Er war überaus aufmerksam auch auf die körpersprachlichen Zeichen seiner Patienten.
Die neueren Entwicklungen lassen sich zusammenfassen unter dem Begriff der "interaktionellen" oder auch der "intersubjektiven" Therapie. Beide Partner sind mit ihrem ganzen Wesen am Dialog beteiligt. Es gilt nicht mehr als verwerflich für den Analytiker, sich auch zu "verstrickten", vorausgesetzt, er kann sich wieder kreativ so darauf lösen. dass der Patient sich nicht nur durchschaut, ertappt, sogar verfolgt fühlt von einem hinter ihm sitzenden, unsichtbaren Monument des Wissens. Die neuere Analyse wirft diesem engen Konzept der Neutralität sogar die Gefahr der Retraumatisierung vor. Aufbauend auf vielen Pionieren, als Beispiele genannt Léon Wurmser und in Deutschland Micha Hilgers, führt Tiedemann mit stupender Literaturkenntnissen durch den Gang der Entwicklung und entdeckt die Scham als einen Zentralaffekt, von dessen Analyse aus sich viele Störung neu erschließen und therapieren lassen. Aus Scham leisten oft viele Patienten Widerstand, weil sie sogar Vernichtung fürchten, wenn sie bisher uneingestandene Gefühle und Konflikte einräumen müssen. Deshalb ist Takt und Einfühlung das oberste Gebot, um dem Patienten erst einmal Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln, bevor es an die Aufarbeitung der Konflikte geht, die oft genug schon als Defekte in der frühesten Entwicklung gelegt worden sind, wenn die Feinabstimmung zwischen Mutter und Kind missglückt ist. Dann kann der das eigene Selbst rettende Rückzug in Resignation oder stumme Verzweiflung so groß werden, dass das Hauptbedürfnis bleibt: überhaupt wieder aufgefunden werden aus dem Raum der Verlorenheit.
Scham kann zurückgehen bis zur "Urscham", die entsteht, wenn ein Kind unwillkommen, abgelehnt oder in seiner Existenz verachtet wird. Die "intersubjektive Analyse" fordert dem Therapeuten viel ab, weil er auf mehreren Kanälen wahrnehmen und antworten muss. Aber sein Gewinn ist entsprechend groß, er erhält Einblick in viel mehr wichtige Signale und Botschaften. Faszinierend sind auch Tiedemanns kurze Fallberichte, in denen der neue Stil deutlich und einfühlbar aufgezeigt wird. Das Buch könnte für längere Zeit zu einem wichtigen, gut lesbaren Lehrbuch werden. Einziger Kritikpunkt: eine Kürzung um zweihundert Seiten wäre ihm gut bekommen, auch wenn die vielen Wiederholungen helfen, sich die Neuerungen besser einzuprägen.
Jens K. Tiedemann: Die Scham, das Selbst und der Andere. Psychodynamik und Therapie von Schamkonflikten. Psychosozial-Verlag, Gießen 2010, 573 S., brosch., 39,90 Euro, Ärzteblatt 1/2012