Tilmann Moser

Bonding, Psychoanalyse, Säuglingsforschung

Vortrag von Tilmann Moser bei der Konferenz der ISNP (International Society for the New Identity Process), die vom 15. bis 19. September 1993 in Grönenbach abgehalten wurde.

Meine Damen und Herren, liebe Kollegen,

meine erste und einzige "Begegnung" mit Dan Casriel, wenn man ein Zuschauen in einem großen Hörsaal bei einer Vorführung so nennen darf, spielte beim V. Internationalen Kongress für Gruppentherapie in Zürich 1973. Ich war frischgebackener Analytiker, der anfing, über den Zaun zu schauen und sich zu informieren über Varianten des therapeutischen Prozesses. Damals schrieb ich in der FAZ über das Spektakel u. a. folgendes (abgedruckt in: "Das zerstrittene Selbst", Frankfurt 1990):

"Der letzte Schrei in Zürich, dessen Lautstärke auf dem europäischen Kontinent noch sehr gedämpft klingt, war der Urschrei... Ausgangspunkt der neuen Technik ist eine Ermutigung, durch Schreien seine eigenen Urschmerzen, die frühen Verstümmelungen der Seele, zu entdecken und zu erfühlen. Eine Gruppenvariante mit viel Zulauf in New York wurde von Dr. Casriel in vivo vorgeführt, vorbereitet durch mark- und ohrenerschütternde Filme, die ....ihre Wirkung nicht verfehlten. Eine Anfängerin, der der Urschrei nicht gleich gelang, half der Therapeut ... wie einer Ziege, die Mühe beim Gebären hat: durch Drücken und brüllende Aufforderungen zu lauterem Schreien. Endlich gelang's, und man stand gänsehäutig und in Massen gaffend um eine kathartische Szene, aus der das zierliche, vorher eher unglückliche Mädchen mit seligem Säuglingslächeln hervorging...

Ein Teil der Patienten im Film waren schwer kontaktgestörte, süchtige oder herumlungernde Jugendliche aus New Yorker Armenvierteln, die mit der Chance und Fähigkeit zu menschlichen Beziehungen nicht mehr gerechnet hatten, und die unter den Hammerschlägen dieser Schreitherapie sich nach einigen Monaten zu umgänglichen, sich an sich und anderen freuenden Menschen wurden."

Eigene Erfahrungen mit Bonding habe ich bei drei Gelegenheiten machen können, von denen eine Mischung aus Faszination, Bedürfnis nach klaren Diagnosen, von Erklärung und Absicherung des Settings, und vom Wunsch nach Verstehen und Durcharbeiten blieben. Immerhin heißt es aber in meinem Text von 1973 auch schon:

"Gerade von dem Gewaltsamen dieser Therapie scheint...eine Faszination auszugehen... Und doch haben manche der Urschrei- und Encounter-Therapeuten, soweit sie eine solide Ausbildung haben, klare und honorige therapeutische Ziele, bei denen Ich-Stärke nicht an letzter Stelle steht. Es scheint dem Berichterstatter besser, klare Unterscheidungen zu treffen, als in Bausch und Bogen zu verdammen." Das war natürlich für die eigene, analytische Bezugsgruppe geschrieben, die es sich mit dem Verdammen ja recht leicht macht, falls sie neue Therapieformen überhaupt zur Kenntnis nimmt.

Die drei eigenen Kostproben waren die folgenden:

1. Bei einem zweiwöchigen Praktikum in Herrenalb in der damals Lechlerschen Klinik Ende der siebziger Jahre. Die Jungmannschaft derer, die sich später trennten oder abspalteten, um eigene Kliniken oder Zentren zu gründen, war noch weitgehend komplett zugegen. Konni Stauss, heute Chefarzt der Psychosomatischen Klinik I in Grönenbach, erzählte mir damals nicht ohne ambivalenten Stolz, dass die Crew, die das Verfahren in Lindau vorführte, dort unter dem Firmennamen "Das Erlöserquintett" gehandelt wurde. Bei aller Hochachtung für Walther Lechlers Mut, abhängigen Patienten mit neuen Methoden zu helfen, ist mir eine relativ wahllose Anwendung des Bonding mit starkem Gruppendruck, den man natürlich auch als massive Ermutigung bezeichnen könnte, erinnerlich, ohne viel Vorbereitung und diagnostische Abklärung, mit nur begrenzter Aufarbeitungsmöglichkeit im Gespräch, und mit ausgiebigem Gebrauch seiner charismatischen Bonanza-Autorität. Besonders stark ist mir in Erinnerung geblieben, wie unklar für viele Patienten, darunter solche mit sexueller Missbrauchsgeschichte, der Umgang mit einer oft überwältigen Nähe und der manchmal sehr zweideutigen Intimität des Haltens blieb. Die Vorerfahrung mit intensiver Berührung und der pool unbewusster Phantasien wurde nicht einmal angesprochen.

2. Bei der Teilnahme an einem mehrtätigen Workshop bei Ingo und Adelheid Gerstenberg etwa 1987 in ihrem "Dan Casriel Institut" bei Hadamar imponierte mir die Möglichkeit zur Aufarbeitung des Erlebten im verstehenden und ermutigenden Gespräch, wenngleich die Gruppe sehr groß war und zwangsläufig nicht alle Teilnehmer wirklich im Blickpunkt der Therapeuten bleiben konnten. Der persönliche Eindruck des Analytikers in mir war, dass die Beziehungselemente zwischen den miteinander arbeitenden Paaren kaum aufgegriffen wurden. Diese Beziehungsaspekte wurden damals durch den ritualisierten Wechsel der sich assistierenden Partner bei jeder Sitzung noch reduziert, ich würde sogar sagen, abgespalten.

Damals fing ich an, darüber nachzudenken, dass die Ausblendung des Beziehungsgeschehens, von den rein haltgebenden Funktionen des jeweiligen Partners abgesehen, sich nur rechtfertigen lässt, wenn die verdrängten Affekte oder emotionalen Entbehrungen in einem Zustand von Regression erlebbar sind, der sozusagen nur biologischen Halt, Wärme und quasi vorpersonale Ermutigung erfordert. Über die Probleme dieser spezifischen Regression, verbunden mit Spaltungsvorgängen, möchte ich später sprechen.

3. Bei einem dreimonatigen Aufenthalt aufgrund einer depressiven Erschöpfungskrise in der psychomatischen Klinik Mathildenbad, also dem Haus II hier in Grönenbach, der mir sehr viel gebracht hat, erlebte ich vier Bonding-Sitzungen in einer recht großen Gruppe. Sie waren für mich fruchtbar, mit einigen Einschränkungen, auf die ich gleich eingehe - fruchtbar unter anderem dadurch, dass ich die vier Sitzungen immer mit dem gleichen Mitpatienten gearbeitet habe, mit dem mich Sympathie und ein wachsendes wechselseitiges Wissen um unsere Probleme verband. Die Hilfestellung beim Halten und die Ermutigung zum Eintauchen in die Affekte wurden also zunehmend persönlich, getragen von einer erkennenden Beziehung. Sie schien mir gemischt aus rasch wechselnden Elternübertragungen und geschwisterlichen Gefühlen, in diesem Fall bei mir für einen jüngeren Bruder in emotionaler Not. Der Schutz durch die Großgruppe war wichtig. Störend waren eher die durch die klinische Situation gegebenen rituellen Elemente, also: die kurz und streng klingende Einweisung in die Regeln, in das Setting, das immer neuen Patienten erneut erklärt werden musste; die knappe zeitliche Limitierung, etwa eine knappe halbe Stunde pro "Arrangement"; ausserdem ist mir als Gesamteindruck geblieben, dass die stark ritualisierten Element auch ein Stück Angstabwehr der Therapeuten enthielten, die mir zu fürchten schienen, dass irgend etwas Unkontrolliertes passieren könnte. Für die Aufarbeitung im Gruppengespräch blieb nicht genug Zeit. Aber dies berührt bereits Probleme etwa des Patienten-Therapeuten-Schlüssels, der dort ja vergleichsweise günstig ist.

Es war zu beobachten, dass einzelne Patienten, vor allem schüchterne, die in der Großgrupe Mühe hatten, über ihre Probleme zu sprechen, gelegentlich auf ihren Erlebnissen sitzen blieben. Als Analytiker in der Praxis wie als Analysepatient ist man einfach verwöhnt, was individuelle Zuwendung angeht, und dies gilt sogar für ambulante Gruppen. Faszinierend und hilfreich im Mathildenbad in Grönenbach war dafür die Anleitung zur wechselseitigen Selbsthilfe, die den Mangel durchaus kompensierte, falls die Patienten fähig waren, sich Setting-artige Regeln für die Hilfestellung zu geben. Die relative therapeutische Unerfahrenheit erlaubte es aber nur wenigen Patienten, über das im Bonding Erlebte hilfreich und Prozessorientiert zu sprechen. Bonding war noch nicht wirklich integriert in das therapeutische Konzept als ein reflektierter Baustein des Behandlungsplans.

Abfragen und Einwände

Doch nun zu den Anfragen und Einwänden des körpertherapeutisch orientierten Analytikers zum Bonding. Ich gehe davon aus, dass damit noch immer jenes Setting gemeint ist, bei dem in einer größeren Gruppe Patientenpaare "auf die Matte" gehen, der eine Partner auf dem Rücken liegend, der andere über ihm, auf Knie und Ellbogen gestützt, sodass er dem Anderen viel Körperfläche und die Möglichkeit des Haltes, ja der Anklammerung bietet. In der Tat scheint mir damit eine idealtypische Form von Halt, ein Container gegeben, bei dem in einem Maximum an biologischem Schutz ungelebte, änstigende, eingeklemmte Gefühle und Protoaffekte, aber auch expressive Bewegungen, die sie begleiten oder ihnen vorausgehen, riskiert werden können. Die Haltung wiederholt oder simuliert oder symbolisiert den Halt, den die Mutter dem der Panik oder dem Schmerz nahen oder konvulsivisch schreienden Säugling geben kann, wenn sie ihn frontal an ihren eigenen Körper drückt oder ihm Anklammerung erlaubt; eine Form des Halts, der sich in Variationen sicher auch in späteren Altersstufen des Kindes geben lässt. Und ich habe oft genug, auch in der sogenannten Pesso-Arbeit mit idealen Eltern, folgendes beobachtet: Wenn das das Setting für den affektiven Zustand des Patienten stimmt, wird jenes ursprünglich bedrohliche oder entgleiste Chaos der Affekte möglich, an dessen Scheitern der Patient lebenslänglich gelitten hat, und dessen beginnende Neuordnung im haltenden Kontakt nun beginnen kann.

Diese idealtypische Stimmigkeit von Setting, Regression und Zustand der Affekte ist aber beim Bonding nicht von vornherein gegeben, ja, ich möchte vereinfachend sagen, dass, wie in vielen neueren Therapieformen, ein hochpotentes Arrangement aus eben dieser idealtypischen Evidenz heraus verallgemeinert und idealisiert wurde, ohne ausreichende Diagnostik der Patienten, ohne ausreichende Reflexion des Beziehungsgeschehens, und ohne ausreichende theoretische und affektive Reflexion dessen, was in Übertragung und Gegenübertragung geschieht. Der haltende Partner schien mir sogar in seinem Erleben fast ausgeblendet.

Diese Leerstellen scheinen mir überdeckt durch die Nutzung von Ermutigung in der Gruppe, Gruppendruck oder Gruppensuggestion, von Phänomenen der Ansteckung, von charismatischen Elementen der Leiter, gelegentlich auch von deren auktorialen Übernahme von Überich- wie Verführungsfunktionen. Bei ihr werden individuelle Hemmungen und lebensgeschichtlich geprägtes Zögern überwunden werden durch die rituellen Formen von Ermutigung, Anweisung und antreibender Suggestion. Auch diese Form von Erlaubnis, Anordnung und Verführung in der Gruppe enthält idealtypische Momente einer "mitreißenden" Hilfestellung, greift also ein anthropologisches Phänomen auf: in Druck und Sog der Gruppe werden Gefühlzustände möglich, an die das "zivilisierte" oder gehemmte Individuum sonst kaum herankommt, es sei denn im Tanz, im Suff, mit Drogen oder unter dem Einfluss anderer, oft weit künstlicherer Stimulantien als dieser Mischung von Halt und gruppendynamisch organisierter Aufhebung von Abwehr und Angst vor Kontrollverlust.

Auch hier hebe ich also die von vielen dramatisierenden Therapieformen genutzte Mischung von hochpotenter Stimulierung und einer Unsicherheit in Verstehen, Dosierung und Durcharbeiten hervor. Ich riskiere gerne, zunächst als mäkelnder Analytiker wahrgenommen zu werden, betone aber, dass es mir um Integration geht, um die Ortung und Nutzung des Bonding im größeren Rahmen einer integrativen Therapie, die nicht nur ein spezielles Arrangement zum Ganzen erhebt oder im Leistungswettbewerb der Methoden maximale Effizienz, Universalität und technokratische Rationalisierung des therapeutischen Prozesses betont. Ich bin mir auch bewusst, dass beim extremen Gegenpol des bonding, der hochfrequenten Psychoanalyse, gerade die komplementären Gefahren und Mängel unübersehbar sind, die ja, wie wir bei Casriel 1) nachlesen können, zur Suche nach und zur Entwicklung eines potenteren Settings geführt haben.

Damit bin ich gleich bei einem Hauptpunkt möglicher Verwirrung: dem Begriff des Bonding. Die Säuglingsforschung hat inzwiwchen präzise genug herausgearbeitet, in welchem Ausmaß die Entwicklung von Bindung die Entfaltung eines gesunden Selbst ermöglicht, vorausgesetzt, die Bindung ist nicht gleichzeitig der Hebel oder das Vehikel des narzißtischen, sexuellen oder anaklitischen Missbrauchs. Die Pychoanalyse überbetont die jahrelange Bindung bei gleichzeitiger dämpfender Regulierung der Affekte, die vor allem sprachlich vermittelt werden. Das Bonding ist in Gefahr, extreme Nähe und quasi präpersonalen Halt mit Bindung und Liebe zu verwechseln. Der Säugling durchläuft die verschiedensten Stadien der "Benutzung" der Mutter oder Teile und Partialfunktionen von ihr. Trotzdem scheint es wichtig, dass die Einzelfunktionen der Mutter eingebettet bleiben in ein Gesamtobjekt, mit dem Bindung, Kontinuität und Auseinandersetzung wie Verschmelzung erlebt werden. Die reduzierten Funktionen des anklammernden Halts bei der Bewältigung starker Affekte sind also einseits extrem wichtig, andererseits Teil einer ganzen Beziehung, die die verschiedensten Zustände und Kontakt- wie Bindungsformen zusammenfassen, prägen und in einer seelische Biographie einbinden sollte.

Jedes Setting enthält, neben den die Heilung begünstigenden Faktoren, Gefahrenmomente: es sind die in ihm enthaltenen Angebote, die eine Wiederholung oder Perpetuierung ursprünglicher Traumen mit sich bringen, manchmal sogar erzwingen; die mögliche und oft subtile Retraumatisierung sowohl durch eine Wiederholung früher, übergriffiger Konstellationen, wie durch eine Provokation von Übertragungen und unbewussten Phantasien, die eine kontraindizierte Verwendung des Angebots herbeiführen.

Am deutlichsten ist vermutlich die Kollusion zwischen einer Borderline-Struktur des Patienten und einer wiederholenden Aufspaltung in Persönlichkeitsfragmente gerade durch das Setting: der Patient nutzt mit einem Anteil seiner Person die Chance zur Expression, während andere Anteile erstarren, untertauchen, sich tarnen oder das ohnehin lose Band der Kohärenz weiter lockern. Wenn ich Konni Stauss richtig verstanden habe, ist dies auch der Grund, warum er in seiner Borderline-Therapie ganz auf das Bonding verzichtet.

Vielleicht ist immer notwendig, wie übrigens bei allen Therapieformen, die Umstände ihrer Entstehung und theoretischen Fundierung mitzubedenken. Sehr global vermute ich, dass im Falle von Casriel die ursprüngliche Klientel, nämlich drogen- oder alkoholabhängige Jugendliche, denen also nährender Halt und eine Entfaltung und Integration primärer Affekte gefehlt haben, prägend war für das Konzept. Dabei ist weiter zu bedenken, dass das Bonding vorübergehend, also für einige Monate oder länger, entweder in Institutionen oder sogar in der Ambulanz mit mehreren wöchentlichen Sitzungen eine Mischung von Therapie und Lebensform wurde. Es gab also, neben der Person des Therapeuten, eine Art stützender peer-group, in der auch die enorme Aggressivität der Konfrontation und Stimulation aufgefangen werden kann. In diesem Rahmen bot, angesichts der chaotischen und gewaltdurchzogenen Kindheitssituationen, das Setting trotz seiner Intensität eine höhere Art der Ordnung und der Regulierung früher Affekte. Der organismische und affektive Halt im Milieu der Gruppe lässt eine heilend wirkende Desorganisation der seelischen Strukturen zu. Dabei kommt der vorübergehenden Anklammerung auch mit rasch wechselnden Partnern angesichts von mir vermuteter früher Unordnung in den Herkunftsfamilien durch die Stabilität der Gruppe anscheinend eine heilsame Funktion zu.

Casriel generalisiert die Grunddiagnose seiner später erweiterten Klientel als "charaktergestörte Persönlichkeiten", die sich am einfachsten zusammenfassen ließe als Menschen mit eingefrorenen Gefühlen. Ich fasse einiges zusammen: "All diese Leute hatten den Kontakt mit ihren tiefsten Gefühlen - vor allem mit dem Schmerz - verloren." (159) Das psychoanalytische Setting erreicht sie nicht, weil abgewehrte Affekte, Bindung, Übertragung und Symbolisierung dissoziiert sind. Das Einfrieren oder Erstarren wird weiter charakterisiert als "Sichabschliessen", als hätten sie "kein Recht auf die eigenen Emotionen" (163) Es werden Eltern vermutet, die die im Schreien ausgedrückten Affekte ablehnen. Eine exemplarische Patientin "hatte bei ihren Eltern gelernt, dass Zorn Demütigung, Hilflosigkeit, Versklavung und Nicht-Liebe bedeutet." (164) Es ist vom "Panzer" die Rede, von Vermeidung und Tarnung der Gefühle, von "sekundärem Verkapseln", von "Rückzug" (168) und vom "selbst auferlegten Absterben de Gefühle". (169) Das bedeutet aber, dass der frühe elterliche Container, die Hilfsich-Funktionen der Mutter gefehlt haben, sowie die Fähigkeit, mit affektiven "Notfallreaktionen" des Kindes umzugehen. Das ist aber eine sehr organismische Partialfunktion der Mutter, bei der das Kind die Gesamtperson der Mutter noch nicht wahrzunehmen braucht, und bei der es noch nicht unbedingt um Objekt-Kontinuität geht, sondern um Halt für das, was die Säuglingsforscher als das "emerging self" (Daniel Stern) oder das sich bildende Kernselbst nennen, mit all den Gefahren ein Entwicklung zum geteilten, zum falschen oder zum erstarrten Selbst. Bei der Charakterstörung, die Casriel meint, ist das Selbst aber nicht grundsätzlich durch Fragmentierung, der Lösung des Bordeline-Patienten, bedroht. Der hat ja eher damit zu tun, dass ihn Affekte überwältigen und durch widersprüchliche Ich-Zustände schleudern, mit der Folge, dass er für sich und andere unberechenbar wird und immer wieder Befremden, Wut und Abwendung auslöst.

Emotionale Erstarrung, Psychoanalyse und kathartisches Ritual

Die Therapie dieser Charakterstörungen beruht also, idealtypsich vereinfacht, auf der Wiedergewinnung des Zugangs zu archaischen Gefühlen in einem geschützten Milieu, und dies in der eine lernenden und Identifizierung und rudimentäre Empathie in sich selbst und andere begünstigenden Klima. Man mindert den enormen Wert dieses Setting dadurch nicht, dass man fragt: Und was passiert dann? Die Enttäuschung von Casriel an der Psychoanalyse scheint so riesig zu sein, dass er mit entwertenden Worten alles über Bord wirft, was inzwischen auch in anderen Therapieformen, selbst solchen, die in Abgrenzung von der Psychoanalyse entwickelt wurde, sozusagen nachentdeckt wird: tragende Beziehung, Objektkonstanz, Konfliktlernen, Symbolisierung, Idealbildung und vieles mehr. Schon von dassher ist die Konsequenz eigentlich, das potente Setting des Bonding einzubauen in ein integratives Konzept, das die spezifischen Leistungen anerkennt, ortet und gezielt anwendet.

Stark vereinfacht möchte ich einige Gefahren einer "unintegrierten" Anwendung umreißen, wie sie sich aus psychoanalytischer Sicht darstellen.

1. Es scheint bisher ein Konzept zu fehlen, wie die in der Arbeit auf der "Matte" erarbeiteten oder erschrieenen Gefühle integriert werden in ein Ich, das mit ihnen auch in Alltagssituationen umgehen kann. Das Ausmaß der Ermutigung, ja der Anstachelung: "Schrei es heraus!" überspielt möglicherweise innere Gefahren oder drohende innere Instanzen, die wieder zuschlagen, wenn der Schutz der Gruppensituation wegfällt. Als Frage bleibt also: wie werden die freigesetzten Affekte wie die im normalen Leben gegen sie eingesetzten Abwehren ins Ich integriert und gegen die Rache oder auch nur die Rückkehr der Introjekte geschützt?

2. Eine meiner stärksten Eindrücke war die rasche Routinisierung des Schreiens, vor allem bei Patienten, die im Schrei und der intensiven Berührung ein sonst nicht zugängliches heftiges Selbsterleben spüren, also etwas Analoges zu Thrill, zu Spannung, Stimulation; auch frühe, aber nicht thematisierte Nähe und Geborgenheit. Anders ausgedrückt: wie unterscheidet man Kollusion mit der gestellten Aufgabe, Routinisierung, Leistungsdruck, sekundäre Nähe- und Stimulationsgewinne von progressiver seelischer Arbeit?

3. Wie geht man mit dem Gegensatz um, dass "auf der Matte" eine Berührungsintensität, auch wenn sie nicht sexualisiert wird, genutzt wird, wie sie sonst fast nur in der Sexualität stattfindet? Mein Eindruck war, dass eine unterschwellige Sexualisierung bei vielen Patienten durch die Ausblendung der Arbeit an der Beziehung zum Helfer nicht wahrgenommen wird, schon gar nicht bei Patienten, die ein Missbrauchsthema durch Abspaltung in Schach halten oder die Missbrauchssituation im Schutz des Settings neu beleben.

Dieser Mangel kommt auch darin zum Ausdruck, dass es nicht zu einem Umgang mit der Fülle der symbolischen Berührungen kommt, die zwischen Eltern und Kind oder in anderen Formen der Körpertherapie eine Rolle spielen. Es wird sozusagen immer geklotzt, während in meiner Arbeit, die ich aber nicht zum Maßstab nehmen will, und der vieler Kollegen gerade die Feinarbeit an der Berührung in der Beziehung im Vordergrund steht. Die Relationen zwischen drastischer Reproduktion früher Anklammerung und symbolischer Interaktion mit dem notwendigen Bedeutungslernen von Affekt, Ausdruck, Übertragung und Beziehung scheinen mir im Dunkeln zu bleiben. Selbst wenn man unbewusste Sexualisierung und deren Abwehr einmal außer Acht lässt, bedeutet schon der Sprung in eine dermaßen intensive Nähe eine Herausforderung, die der Aufarbeitung wie der Vorbereitung bedarf. Es ist, wie wenn man in allen möglichen und unmöglichen Fällen von Störungen das gleiche Medikament in seiner höchsten Dosierung verwenden würde.

4. Ein ähnliches Moment der Beziehungsentwertung glaube ich zu spüren bei der sogenannten Einstellungsarbeit, die im guten Fall zu neuen seelischen Grundhaltung dem eigenen Selbst und den Anderen führt. Der Patient wird angehalten, einen affektiv wichtigen Satz in endloser und ritueller Wiederholung vielen einzelnen Gruppenmitgliedern hintereinander zu sagen. In subtiler oder grober Weise durchdringen sich dabei Leistungsdruck, Ritual, echte Begegnungsfragmente und einem trotz dem Anschein von Kontakt autistischen Geschrei unter Gruppendruck. Ich erinnere mich bei meinen begrenzten Selbsterfahrungen beim Zuschauen an Peinlichkeit, Wut, Auflehnung gegen affektives Schularbeiten-Machen und gelegentlich sogar Strafexerzieren. Aber ich gebe zu, dass ich dabei ungelöste Aufgaben sehe, weil sich, so meine Meinung, hilfreiche Momente mit karikaturesken Verzerrungen mischen. Sicher spielt bei meiner Wahrnehmung auch eine hohe eigene Empfindlichkkeit gegenüber erzwungenen Ritualen eine Rolle. Ich zitiere Ihnen ein Beispiel von Casriel: Es handelt sich um die Arbeit einer jungen Frau mit tiefen Zweifeln an ihrer Weiblichkeit, die im Schatten einer schönen Mutter und einer mit Sicherheit vorhandenen, aber nicht thematisierten destruktiven Familienstruktur und ihren Rollenzuweisungen steht. Sie wurde natürlich ermutigt, ihren "Schmerz über ihre Minderwertigkeitsgefühle oder ihre Furcht vor sexueller Attraktivität zum Ausdruck zu bringen", wohlgemerkt ohne jedes Eingehen auf die unbewusste Beziehungsdynamik in der Familie mit ihren unbewßten Sanktionssystemen. Deshalb heißt es weiter: "Doch das Ziel, das wir so rasch wie möglich ansteuern, ist, sie dazu zu bringen, dass sie ihre eigene Weiblichkeit ausdrückt - trotz der Gegenwart des Fotomodells im Raum. Wir veranlassen sie, jedem einzelnen im Saal gegenüber zu erklären: 'Ich bin eine Frau, und ich bin liebenswert.' Diese Übung zu machen und dann die Bestätigung und Zustimmung der Gruppe aufzunehmen hilft ihr beim Lernen, welches Gefühl es ist, eine selbstsichere und sexuell anziehende Erwachsene Frau zu sein." (239)

Ich nehme an, Sie spüren die Mischung von Einfühlung und Manipulation, das Pendeln zwischen Bindungsfähigkeit, Begegnung und affektiver Promiskuität, die drohende Verwechslung zwischen Internalisierung und und ritualisierter Proklamation, die überhaupt noch keinen konkreten Inhalt, kein selbst erarbeitetes Konzept von Weiblichkeit enthält. Für mein Gefühl haben wir es bei Casriel, wie bei einer Reihe anderer Pioniere neuer Sonderformen von Therapie, mit eklatanten Ausfällen und Niveauabsenkungen zu tun. Eine polemische Abgrenzung von der Psychoanalyse, ein Überbordwerfen der ursprünglichen Differenzierung, Enttäuschung und Größenphantasien wie Effizienzdruck und die Industrialisierung von Therapie durchdringen das Setting und die Theorie.

6. Das Auseinanderfallen von Affekt und kontinuierlicher Beziehung möchte ich sehr verkürzt deutlich machen an zwei Beispielen a) dem der Gruppenzusammensetzung und b) dem der physischen Gewalt.

a) Der Lobpreis des raschen Wechsels der Mitglieder, aus Angst, die Abwehr könne sonst undurchschaut bleiben: "Wenn neue Menschen in die Gruppe eingeführt werden, durchschauen mindestens einige die Abwehrmechanismen eines Manipulators und attakieren ihn. Der ständige Wechsel der Teilnehmer ist für viele unbequem, doch von therapeutischem Wert ist er praktisch für jeden. Er ist ein Hauptprinzip meines Gruppensystems." (240) Dieses Prinzip des Taubenschlages mit der wechselseitigen affektiven Schnelldiagnostik ist vermutlich nur mit soziologischen oder sozialpsychologischen Kategorien wirklich zu orten. Ich denke dabei etwa an die artifizielle Begegnungsdichte in einer hochmobilen Stadt wie New York, an Riesmans außengeleiteten Menschen, ja, karikaturesk, sogar an Fast-food-Gefühle in Zufalsgruppen, die dem blinden Agieren Tür und Tor öffnen, besonders wenn das Kommando- und Provokations-Potential von Laientrainern auch noch besonders hervorgehoben wird. Das Setting wird zwangsläufig Personen anziehen, die sich hier auch autoritär oder sadistisch austoben können. Der schnelle Brüter des Quadrinity-Prozesses ist noch in frischer Erinnerung.

b) Casriel verbietet in den Gruppen strikt Gewalt. Die Regel "zwingt die Leute, sich mit ihren Gefühlen zu beschäftigen, statt sie dadurch entfliehen zu lassen, dass man körperliche Energie freisetzt." (232) Hier wird "Gewalt", die wohl meistens zwischenmenschlich angelegt ist, fälschlich einfach mit der entlastenden Abfuhr von "körperlicher Energie" gleichgesetzt, als handle es sich um Holzhacken oder Kraftsport. Auch hier finde ich eine verdinglichende Überschätzung des Affekts ohne seine Einbettung in Interaktion. Natürlich soll niemandem ein Leid geschehen oder gar möglich sein, "dass sich Macht Recht schafft." (232) Aber die Erstarrung der Affekte kommt bei vielen Kinder ja dadurch zustande, dass die Handlungsimpulse, die zu ihnen gehören, Unheil angerichtet haben. Für Pesso und andere Körpertherapeuten, mit mit dem Begriff Halt und Eingrenzung in einem weiteren Sinne arbeiten, ist es also gerade wichtig, auch den Handlungsimpulsen haltende Grenzen zu verschaffen und sie nicht durch Verbote zu unterdrücken, was wiederum zu einer Spaltung führen kann.

7. Dass Konni Stauss 2) und andere inzwischen auf die Anwendung des Bonding bei Borderline-Patienten mit guten Gründen verzichten, ja sie für kontraindiziert halten, brauche ich diesen Punkt nicht zu vertiefen. Fast jeder Patient hat aber Borderline-Anteile. Ich möchte deshalb von einer sekundären Gefahr sprechen (wobei ich diese Gefahren immer auch für therapeutische Herausforderungen halte): es kommt bei dem rituell in Gruppen angewandten Bonding bei manchen oder vielen Patienten leicht zu einer passageren Spaltung oder einem passageren Borderline-Zustand: der eine Teil schreit und fühlt und schreit, während andere Teile erstarren, sich verkriechen, ans falsche Selbst anpassen oder Krisenmanagement betreiben. Um es in ein Bild zu fassen: wenn in einer aufgewühlten Klasse ein Teil der Schüler schreit, und die Klasse steht hier für das fragmentierte Selbst, fallen manche, obwohl ihnen nicht danach ist, via Ansteckung und Strukturverlust darin ein, während andere sich die Ohren zuhalten, in Deckung gehen, Angst bekommen, sich unter den Schutz des Lehrers flüchten oder aus dem Klassenzimmer stürzen.

Wie also kommt man zu einem integrierten Konzept, das Bonding zu einer unter mehreren technischen Varianten in einem therapeutischen Prozess macht, der die erstarrten Affekte verbindet mit Ichstruktur und erarbeiteten Beziehungen? Dazu gehören eine Reihe von Überlegungen. Es braucht eine präzise und auch an der Säuglingsforschung orientierten Entwicklungspsychologie; eine Lehre der therapeutischen Beziehung; ein Konzept von Strukturbildung, Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung; und schließlich eine Revision der Größenphantasien, wie wir sie bei fast allen Pionieren neuer Therapieverfahren finden, die den Stein der Weisen gefunden zu haben glauben und einem wichtiges Segment der seelischen Entwicklung universelle anthropologische und damit auch therapeutisch-praktische Bedeutung beimessen. Ganz generell könnte man sagen, dass auch die integrierende Bewertung des Bonding in einem therapiegeschicht-lichen Augenblick stattfindet, in dem die geschlossenen Standardkonzepte durchlässiger werden, die Schulen bereiter scheinen, voneinander zu lernen und sich auszutauschen. Sie beginnen, den Kontinent der Säuglingsforschung zu rezipieren, um ihre therapeutischen Angeboten an der diagnostisch immer klarer zu fasenden Entwicklungsstufe- und Behinderung der Patienten zu orientieren.

Etwas verschämt weist Casriel an mehreren Stellen des Buches darauf hin, dass sehr viele Patienten ("nicht alle", betont er vorsichtig) hinterher die vorher so geschmäht Einzeltherapie brauchen. Das Buch quillt übrigens auch über von bedauernden oder auch verächtlichen Hinweisen auf Aussteiger, die dem Prozess nicht gewachsen oder zu feige waren, sich zu stellen. Auch hier also, wie in der Psychoanalyse, die die Enttäuschung über mangelnde Ergebnisse den Patienten zuschieben will, massive "negative Diagnostik" etwa als Zweifel am Charakter der nicht gedeuhenden oder durchhaltenden Patienten.

Die Betonung des präverbalen Schreis verweist übrigens schon relativ am Anfang darauf, dass es sich bei der Revision des "Einfrierens" der Gefühle um frühe Stadien handelt, bei der die Differenz zwischen Bonding und Bindung und Beziehung besonders deutlich ist. Hierfür noch ein kleines Zitat: Nachdem Nancy dem Ton eines verletzten Tieres schon sehr nahe gekommen ist, wofür sie gelobt wird, heißt es: "Leg dich doch auf die Matte, Nancy - lass die alten Gefühle heraus!" Sie werden gar nicht personal oder lebensgeschichtlich auf eine bestimmte Person bezogen, sondern angesprochen, als handle es sich um einen dissoziierten Pool von noch bindungsfreien Affekten. Casriel erklärt:

"Der Nachdruck liegt darauf, intensive präverbale Emotionen zum Ausdruck zu bringen - beispielsweise einen Wutanfall wie ihn ein Säugling in der Wiege hat." Der aber braucht Halt und Bonding, aber erlebt noch nicht unbedingt Bindung, auch wenn man wiederholtes Bonding durch die Mutter als Bausteine der Bindung bezeichnen könnte.

Zurück zur Integration in einen gesamttherapeutischen Prozess. Im Falle von Dan Casriel wird er durch die pioniertypischen Ansprüche auf Universalität und rivalisierende Effizienz ebenso erschwert wie bei anderen Conquistadoren der therapeutischen Szene. Sein Buch enthält, wie viele andere, die typischen überzogenen Selbstanpreisungen und polemischen Entwertungen, die die kopfschüttelnde Abwendung anderer Schulen quasi vollautomatisch provozieren und die Integration erschweren.

Plausibel und einfühlbar ist Casriels Enttäuschung an der eigenen Psychoanalyse und dem Klima in den analytischen Institutionen. Weniger plausibel ist die weitgehende Preisgabe der biographischen Dimension und der einseitigen Zentrierung auf das Hier und Jetzt, bei der die internalisierten Eltern quasi als lästiger Ballast entsorgt werden. Dies steht in einem diametralen Gegensatz zu allen Erkenntnissen der Familientherapie, die gerade das Ausmaß der unbewussten Bindungen und Loyalitäten herausarbeitet, ohne sie einfach wegsprengen zu wollen. Die Gefahr der Entleerung des Selbst und eines "Abschieds durch Entwertung" von den Eltern scheint mir unübersehbar. Dafür ein Beispiel, in dem sich, wie häufig, Heilsames, Ichstärkendes, und für meine Begriffe Destruktives: nämlich ein Kappen der unbewussten Bindungen, vollzieht. Die fortbestehenden Identifizierungen gehen in den Untergrund:

"Ich habe herausgefunden, dass wir phobische oder Zwangszustände durchbrechen können, wenn wir den Betreffenden veranlassen, Aussagen wie die folgenden herauszuschreien: 'Ich bin ich! Ich habe Anspruch auf meine eigenen Gefühle! Ich pfeife auf dich, Mummy! Ich bin ICH!' Wenn der Betreffende es wagt, seine Eltern auf diese Weise herabzusetzen und seine Identität unabhängig von ihnen zu behaupten, gewinnt er ein gewaltiges Freiheitsbewusstsein...'" (150) Ich teile vollkommen die Überzeugung, dass die erstarrten Affekte ausgedrückt werden sollten, aber eben nicht im Sinne eines bindungsfreien Pools. Genau so, wie Casriel abrupt und mit verarmenden Folgen seine Bindung an die Psychoanalyse gekappt hat, so werden die Bindungen an reale oder internalisierte Personen gekappt, und an keiner Stelle des Buches habe ich etwas von dem Versuch gelesen, den Patienten zu helfen bei dem Sortieren der guten wie der schädlichen Anteile der seelischen Erbschaft. Die Eltern erscheinen sozusagen als der zu entsorgende Müll der eigenen Lebensgeschichte.

Es fehlen, ähnlich wie ich es an dem Buch von GerdassBoyesen "Über den Körper die Seele heilen" 3) gezeigt habe, auch nicht die entsprechenden Wundergeschichten. Eine Frau, deren Leben u.a. überschattet war von einem schweren Waschzwang, findet endlich zu Casriel: "Jede freie Minute ihrer Zeit kreiste um ihren Waschzwang. Sie hatte keinelei gesellschaftliches Leben. Sie gab ihr ganzes Geld..für Therapie aus. Jean war sechzig, als sie zu mir kam, und hatte bereits vierzig Jahre Einzelbehandlung hinter sich. In ihrer zweiten Gruppensitzung verlor Jean ihren Waschzwang für immer...", nur weil sie endlich einmal richtig zornig geworden war. (151)

Mit einem gewissen Recht betont Casriel angesichts der frühen, präverbalen Erstarrung solcher Personen: "Die psychoanalytischen Standardverfahren, die sich auf zeitraubende, schmerzliche Inspektionen und Beobachtung stützen, sind angesichts solcher Verkapselung nutzlos. Der Patient nimmt zwar verstandesmäßig auf, versteht aber gefühlsmäßig nicht." (170) Die verkürzte Darstellung spiegelt vielleicht die typische New Yorker Sterilität der Psychoanalyse in den fünziger und sechziger Jahren mit der absurden Einpersonenpsychologie und dem Glauben an Deutung und Einsicht. Aber sie spüren vielleicht selbst, dass das Element der Beziehung überhaupt herausgelassen wird in diesem Bild der Psychoanalyse. Nicht viel später heißt es dann entsprehend, die Psychoanalyse sei "in der Rumpelkammer" gelandet. "Die psychoanalytische Technik ist einfach unwirksam... Im Vergleich zu meinem Gruppenprozess ist sie ebenso wirksam, als wenn man ein Haus mit der Zahnbürste tünchen wollte." (178) Das ist nur noch großmäulig dahergeredet.

Immerhin gibt Casriel zu, dass er sich rückblickend während seiner psychoanalytischen Zeit sich selbst sich zu den "Charaktergestörten" zählt, ebenso wie die Mehrzahl seiner Kollegen. Nur die langjährige idealisierende Methodengläubigkeit des Analytikers erklärt, warum es eines erschütternden Erweckungserlebnisses bedurfte, um das emotionale Selbst in Synanon zu entdecken. Von dassan scheint die eigene kulturelle Vorgeschichte verschüttet, sie wird nun ihrerseits abgespalten und entwertet, als sei er früher einem bösen Irrtum aufgesessen. Die neue Methode wird nun ihrerseits verabsolutiert und idealisiert. Aber eben die fehlende kontinuierliche Auseinandersetzung mit deneigenen Quellen scheint mir dazu zu führen, dass in einer Art dauernd drohender Wiederkehr des Verdrängten der Buhmann Psychoanalyse immer erneut polemisch angegangen werden muss, während der neue, quasi durch Konversion erreichte Status nun seinerseits drastisch kanonisiert wird. Obwohl im Zerrbild noch ein Stück Wahrheit steckt, ist die Dämonisierung offensichtlich, bei der, wie bereits betont, auch das affektive Beziehungsgeschehen in der Therapie verloren geht. Übertragung und Gegenübertragung werden wieder zu bloßen Störfaktoren: Die Psychoanalyse "ist ein einsames Erlebnis. Es ist ein schmerzhafter Prozess. Der Patient hat nicht einmal die Chance zu spüren, wie der Analytiker reagiert oder was er denkt." (179) Daran ist vieles wahr, aber Casriel hat die Wende nach diesem Exzeß der Reinkultur der Psychoanalyse nicht mehr mitbekommen. Deshalb die generalisierte Verteufelung: "Diese Methode soll die Gefühle an die Oberfläche bringen. Aber es ist eine höllische Qual - in ihrer Negierung der fundamentalsten Aspekte menschlichen Kontaktes geradezu unmenschlich." (179)

Casriels Entsorgungswut bringt das Paradox zuwege, dass ich mich als Verteidiger der Psychoanalyse fühle, obwohl ich es an Kritik nicht gerade fehlen lasse. Ohne der biographischen Aspekt seines Weges reduktionistisch verwenden zu wollen, halte ich doch an der These fest, dass durch das Ausmaß der Enttäuschung wie der als Offenbarung erlebten Bekehrung Casriel, wie viele Pioniere, in eine strategisch schwierige Lage gerät, die sich in Übertreibung, Beweisdruck, Entwertung und Selbstidealisierung äußert, die nicht mehr von einem wirklich geerdeten klinischen Denken getragen ist. Hinzu kommt das typische Leben als idealisierter Reiselehrer und charismatischer Beweger von großen Affektmengen, verbunden mit dem ungeniert proklamierten Ziel, mit der Methode auch die weiteren Übel der Gesellschaft allmählich zu heilen, wenn sie sich nur schnell genug ausbreitet.

Am bedrohlichsten erscheint mir, dass die in Gruppen- und Marathonsitzungen induzierten Gemeinschaftsgefühle mit Liebe gleichgesetzt werden, bei der das Wort Bindung wieder kaum vorkommt. "In der ersten Zeit erlebten wir solche Gruppenliebe nur in Marathonsitzungen. Jetzt entstehen diese gemeinschaftliche Gefühle sogar in kurzen Gruppenstunden. Unsere Übungen stoßen immer stärker unmittelbar zum Kern der menschlichen Gefühl hindurch, so dass alle sie leicht und natürlich miteinander teilen können." (286) Das ist echtes amerikanisches Advertising.

Schlussbemerkungen und einige Aspekte der Diskussion

Liebe Kollegen, ich habe Ihnen einige sehr kritische Gedanken und Anfragen über Methode und Theorie des Bonding bei Dan Casriel vorgelegt. Deshalb möchte ich noch einmal hervorheben, dass ich der Selbsterfahrungsgrupe von Lela und Ulf Langguth auf diesem Kongress meine vierte positive Begegnung mit Bonding verdanke: ich bin mit einer Drastik und Intensität an ein Thema von Wut, Ekel und Abscheu in Zusammenhang mit wiederbelebten Erinnerungen an bedrohlich falsche religiöse Stimmungen herangekommen, die anders vielelicht nicht möglich gewesen wären. Deshalb fällt es mir leicht, trotz aller kritikischen Einwände, die Vorzüge des Settings zu sehen, allerdings bei gleichzeitiger Forderung nach besserer theoretischer Fundierung und gezielterer und reflektierterer klinischer Anwendung des Arrangements. Auf diese Weise könnte Bonding auch im breiteren Strom der therapeutichen Entwicklung und der methodischen Kooperation und Integration eine bedeutsame Rolle spielen.

Es zeigte sich in der Diskussion, dass eine ganze Reihe von Casriel-Therapeuten mit der Methode des Bonding inzwischen viel differenzierter umgehen, als es Casriels strenge Regeln und schlichte Diagnostik vermuten lassen, so Jürgen Klingelhöfer und sein Team im Haus II. Vor allem bei der Vorbereitung der großen Nähe wird Sorgfalt und gründliche Erklärung, Diagnostik und langsame Hinführung beachtet. Eine Reihe von Thesen und technischen Anweisungen wie vollmundigen Versprechungen aus dem Buch wird durch Hinweise auf Casriels Persönlichkeit, missionarischen Eifer und spätere größere Gelassenheit und Differenzierung relativiert. In manchen Kliniken wird Bonding nur noch zurückhaltend mit gründlicher Vor- und Nacharbeit angeboten. Manche Therapeuten stellen es dem oder den Patienten frei, ob und wann sie sich der vollen Wucht des Settings anvertrauen wollen. Variationen und Formen des Ablaufs richten sich nach den unterschiedlichen Störungsbildern und dem Stand des therapeutischen Prozesses. Selbstverständlichkeiten, so könnte man sagen, und doch gehört, wie in jeder therapeutischen Schule, Mut dazu, sich von den "essentials" der Gründer und Verkünder in kreativer Weise zu entfernen oder flexibel mit ihnen umzugehen.

Ingo und Adelheid Gerstenberg berichten, dass es inzwischen zu einer vertrauensvollen Kooperation zwischen ihnen und niedergelassenen Therapeuten und Analytikern gekommen ist, die Patienten aus laufenden Therapien zur Ergänzung und Belebung des Prozesses in ihre Workshops schicken. Von anderen, auch ausländischen, zum Teil analytisch orientierten Kollegen wird berichtet, dass auch Krankenkassen und Gutachter inzwischen aus Kostengründen und zugunsten einer gründlicheren Heilung die Kooperation von tiefenpsychologischer Einzeltherapie und Bonding befürworten.

Das Theoriedefizit wird erkannt und bedauert, wobei deutlich ist, dass eine Reihe von Therapeuten von der "reinen Lehre" des Bonding abweicht und die Technik mit ihren anderen Methoden wie Psychodrama, Gestalt-Therapie, Transaktionsanalyse und analytischer Therapie mindestens durch Kooperation verschiedener Therapeuten verbinden. Denn es zeigt, dass eine direkte Legierung von Feinarbeit an der Beziehung und dem intensiven Medium des Bonding durch die gleiche therapeutische Person sich eher ausschließt.

 

1) Casriel, Dan: Die Wiederentdeckung des Gefühls. Schreitherapie und Gruppendynamik. München/Gütersloh 1975 (Inzwischen auch als Goldmann-Taschenbuch erhältlich).

2) Stauss, Konrad: Neue Konzepte zum Borderline-Syndrom. Stationäre Behandlung nach den Methoden der Transaktionsanalyse. Das Grönenbacher Modell. Paderborn 1993.

3) Moser, Tilmann: Was sollte die Körpertherapie von der Psychoanalyse lernen? Zu Gerdass Boyesens Buch 'Über den Körper die Seele heilen'. München 1987. In: Moser, Tilmann: Vorsicht Berührung. Frankfurt 1992.