Tilmann Moser

Eine Vergangenheit - viele Erinnerungen

Überlegungen zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes

2005

Nehmen wir einmal die Erinnerung der Generationen: Die erste, die Kriegsgeneration stirbt langsam aus. Viele sind noch befragt worden, zum Teil vergeblich; viele nehmen ihre Erinnerungen mit ins Grab. Ihre Frauen und Töchter waren auskunftsbereiter, und sie haben zu dem riesigen Pool von Erinnerung beigetragen, der in den vielfältigsten Formen in unserem Volk vorhanden ist. Wir haben wenig Tätererinnerungen, dafür aber die erschütternden Berichte der Holocaust-Überlebenden. Die Täter haben versucht, sich unkenntlich zu machen, aus der kollektiven Erinnerung auszuscheiden, und die auf Seelenruhe und Wiederaufbau erpichte Gesellschaft hat es ihnen leicht gemacht.

Die zweite Generation der zum Gedenken Bereiten scheint am besten erforscht: durch zahlreiche Interviews, durch die wachsende Zahl der Autobiographien, die Talk-shows bis hin zu den Berichten aus den Psychotherapien, die sich mit den seelischen Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg abmühten. Wir haben die Berichte der Kriegskinder, der Hitlerjugendlichen, der Flakhelfer und vieler andere, und Guido Knopps Lebenswerk des Erinnerns aus unzähligen filmischen Dokumenten.

Die dritte Generation stellt engagierte junge Forscher, auch fernsehtauglich historisch Gebildete, ja sogar Dauerfaszinierte, und viele Jugendlichen, die wie selbstverständlich Bescheid wissen und die Realität von Krieg und Vernichtungs-Schrecken anerkennen, vorausgesetzt, sie müssen die Täter und Mitläufer nicht in der eigenen Familien entdecken. Hier wird das Familiengedächtnis noch immer gereinigt, bis hin zu dem Satz, der auch einen Buchtitel bildet: „Opa war kein Nazi“.

Und was wird mit der vierten oder fünften Generation sein, falls sie sich überhaupt noch so abgrenzen lassen. Sind wir heute verantwortlich für deren Erinnerungsbild? Muss heute bereits geplant werden, was sie wissen und denken sollen? Aus den Schulen kann man hören: Großes Interesse, aber der NS und seine Folgen sind für die meisten schon ein Stück längst vergangener Geschichte. Historisierung durch die Generationenfolge? Der Prozess lässt sich kaum steuern Aber die Omnipräsenz des Themas in Medien und Wissenschaft wie auch in Schulbüchern und Lehrplänen lässt vermuten, dass der Pool des Wissens wie der Erinnerung eher zunimmt als abnimmt, auch wenn sich die Form der „Betroffenheit“ ändert.

So viel zu der Möglichkeit der persönlichen Erinnerung. Aber es gibt auch die kollektive, die organisierte, die in tausenden von Büchern und Filmen akkumulierte. Noch macht Krieg und NS-Zeit im Fernsehen Quote. Die Zahl der Mahnmale wächst; der KZ-Tourismus hält an, die Faszination, wie edel oder trübe sie auch sei, scheint konstant, und Martin Walsers verbittertes Wettern gegen die „Moralkeule Auschwitz“ hat den Zeitgeist nicht wesentlich getroffen in seinem Bemühen, die Katastrophe zu verstehen und in der Erinnerung auf Dauer wach zu halten.

Die Nationalsozialisten selbst haben dazu beigetragen, dass uns der Erinnerungsstoff nicht ausgeht. Da sie sich lange als siegreiche und beispielgebende Herrenrasse begriffen, haben sie das neue Medium Film, Fotographie und Wochenschau extensiv zur Propaganda wie zur Selbstbespiegelung genutzt und sind dabei auch vor der Dokumentation des brutalen Triumphs wie des Grauens nicht zurückgeschreckt. Die NS-Zeit ist die bestdokumentierte Epoche unserer Geschichte.

Und deshalb gibt es fast hunderte von Institutionen, Gruppen, Personen, Vorgängen, über die noch unendliches Filmmaterial existiert, und die die Erinnerung wie die Faszination gleich einer Flutwelle wach halten. Dies wird sich zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes noch einmal steigern, eines Krieges, der untrennbar verknüpft bleibt mit dem Holocaust.

Die Intensität, mit der der Nationalsozialismus Geschichte, Sozialgeschichte und Ideologie intensiviert und vorangetrieben hat, führt dazu, dass er seine Spuren, und mehr als Spuren, in allen Bereichen der Gesellschaft hinterlassen hat. Auch der Widerstand, der politische, der militärisch, wie der zivile, liefert fast täglich neue Aspekte. Um nur ein Beispiel zu nennen: in den letzten Jahren fanden die „Judenretter“ nach langem Schweigen öffentliche Aufmerksamkeit, also Personen, die unter hohem Einsatz Juden vor dem Abtransport bewahrt haben. Jede ihrer Biographien bringt einen ganzen Aufriss von politischem Druck, Angst, Mut und individueller Gewissenentwicklung zutage; problematisiert wird aber auch die gängige, entschuldigende These „Man konnte ja nichts machen“, hinter der sich die große Masse versteckt hatte. Ein einzelner Judenretter reißt in seiner Biographie, auch wenn sein Tun oft vergeblich war, einen neuen Aspekt von Diktatur, Terror und Gegenwehr auf. Wir wissen noch nicht, wie diese Menschen ins kollektive Gedächtnis eingehen werden, aber sie bilden ein moralisches Potential, das mit Gewinn zur offizielle Erinnerungskultur gehören muss.

Es bleibt die große Frage: Wie wird Erinnerung tradiert? Summiert sie sich oder verflacht sie durch die Anhäufung des Wissens? Was kann ein Einzelner in sich aufnehmen, integrieren? Was bewirkt die Bilderflut in den Medien? Kann man von einer Gesamterinnerung sprechen neben der Summe der Einzelerinnerungen? Was bedeuten die vielen Mahnmale? Dienen sie dem kollektiven Ritus oder helfen sie auch dem Gedächtnis der Einzelnen zu wachsender Kraft? Und wird, wie der Bundespräsident Horst Köhler im Januar in Israel sagte, der Holocaust wirklich einen Teil der Identität der Deutschen bilden? Wie viele sind bereit und fähig, sich zu einer solchen Identität zu bekennen?

Noch sind wir am Übergang von der Nahwirkung in die mittlere Fernwirkung von Krieg und Holocaust. Eine Jahrhundertkatastrophe will auch noch in einem Jahrhundert erinnert und verstanden werden, und sie wird auch in mehr als einem Jahrhundert nicht einfach abgehakt werden können. Mit dem zeitlichen Abstand wird allerdings auch die Schluss-Strich-Mentalität abflauen, wenn der Holocaust nicht mehr politisch und moralisch instrumentalisiert wird zur Daueranklage und das latente schlechte Gewissen sich abschottet gegen die Erinnerung, weil es die offensichtliche Scham und Schmach nicht erträgt. An den geschätzten 15 Prozent Rechtsradikalen im Land lässt sich ablesen, wie schwer es sein muss, die Wirklichkeit der Geschichte zu ertragen.

Noch ein paar Sätze zur Arbeitsteilung in der Kultur der Erinnerung: Es können nicht sechzig Millionen erwachsener Deutscher auf dem gleichen Stand der Information und der intellektuellen und emotionalen Verarbeitung stehen. Es lässt sich nicht vorschreiben, was einer erinnert, und wie, und wann, und mit wem und in welchem Gruppenzusammenhang. Was sich nach dem Besuch eines Films niederschlägt; was Schüler vom Vortrag eines Zeitzeugen mitnehmen, was Wiederholungssendungen bewirken; was ein NPD-Skandal aufrührt oder die Mahnung eines Repräsentanten der Opfer-Verbände. Wir wissen es kaum oder gar nicht. Klar ist nur, dass man sogar von einer Erinnerungs-Industrie sprechen kann, mit einem Heer von Profis der zweiten Generation, die durch ihre eigene Biographie geprägt und getrieben sind; sie stehen zum Teil im Bann einer Lebensaufgabe, in die sie sich gestellt fühlen, und vermutlich brauchen wir ihre tiefe Motivation, um nicht auszuscheren in die Gruppe derer, die von nichts mehr wissen wollen.

Es gibt in dieser großen Bewegung des Erinnerns die Theaterleute, die Filmleute, die Historiker, Pastoren, Lehrer, Journalisten der Presse, die daran arbeiten, dass NS-Zeit, Krieg und Holocaust in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit präsent bleiben. Und die Historisierung, die zeitliche Entfernung der Katastrophe wie die fast uferlose Entdeckung neuer Zusammenhänge sowie das Aussterben der oft verhärteten Tätergeneration haben auch einen Vorteil: Die Abwehr gegen die Erinnerungen lässt nach. Es wird allmählich fassbar, dass wir – wer ist dieses Wir - diese Verbrechen begangen haben, dass Millionen dazu beitrugen, und dass gerade eine zeitliche Distanz dahin führt, dass wir die Fakten ertragen und das Gedenken nicht als eine verhasste Pflichtübung über uns ergehen lassen.

Die Profis der Erinnerungskultur scheinen begriffen zu haben, dass die Moralkeule nichts mehr bringt. Es geht viel mehr um wachsenden Einblick in Ursachenzusammenhänge und ein Wissen um die kumulative Radikalisierung und die kollektive Korrumpieren des Gewissens. Wenn in den ersten Jahren der Dämon Hitler noch als der Hauptverursacher galt, war es später die "nationalsozialistische Gewaltherrschaft", die das unschuldiger Volk wie eine böse Krankheit heimgesucht hatte; später waren es die Nazis, zu denen man sich nicht zählen musste. Heute werden Umrisse einer neuen Identifizierung sichtbar: "Wir, nicht andere waren es, die zum Unheil beigetragen haben." Das heißt, es gibt ein Annehmen der Geschichte als der unsrigen. Das ist es wohl, was Hörst Köhler meinte: dass es keine Ausweichen mehr gibt, und dass die Motive des Ausweichens geringer werden.

Die Profis der Erinnerungskultur scheinen begriffen zu haben, dass die Moralkeule nichts mehr bringt. Es geht viel mehr um wachsenden Einblick in Ursachenzusammenhänge und ein Wissen um die kumulative Radikalisierung und die kollektive Korrumpierung des Gewissens. Wenn in den ersten Jahren der Dämon Hitler noch als der Hauptverursacher galt, war es später die „nationalsozialistische Gewaltherrschaft“, die das unschuldiger Volk wie eine böse Krankheit heimgesucht hatte; später waren es die Nazis, zu denen man sich nicht zählen musste. Heute werden Umrisse einer neuen Identifizierung sichtbar: „Wir, nicht andere waren es, die zum Unheil beigetragen haben.“ Das heißt, es gibt ein Annehmen der Geschichte als der unsrigen. Das ist es wohl, was Hörst Köhler meinte: dass es kein Ausweichen mehr gibt, und dass die Motive des Ausweichens geringer werden.

Als Psychoanalytiker erfahre ich durch meine Patienten der zweiten Generation, wie sich Erinnerung auch unbewusst fortpflanzen kann und in seelischer, auch psychosomatischer Krankheit wiederkehrt. Destruktiv wird der unheilvolle Mechanismus dann, wenn die erste Generation unfähig war, zu reden und zu verarbeiten. Zwischen der ersten und zweiten Generation gab es eine Form des Schweigens, die mörderisch war, weil die Kinder benutzt wurden für eine Deponierung der Schuld, der Scham und des Grauens. Es ist bedauerlich, dass viele Psychotherapeuten nicht dazu neigen, viel von ihrem Wissen zu veröffentlichen, von ihrem Einblick in buchstäblich vergiftete Erinnerung. Sie ergoss sich aus unzugänglichen Deponien in junge Menschen, die diesem seelischen Druck in ihrer hilflosen Loyalität nichts entgegenzusetzen hatten. Meist war es ein Kind unter mehreren, das sich dieser Vergiftung aussetzen musste und dann als schwarzes Schaf galt, das sich auflehnte gegen das Schweigen. Auch hier herrscht Arbeitsteiligkeit: Einer hat die Erinnerung gesucht und ertragen, die die anderen nicht aushalten konnten. Und so haben wir im Lauf der Jahre eine ganze heimliche Schicht von Therapiepatienten gewonnen, die mit kompetenter Hilfe versucht haben, an ihrer Biographie nicht nur das Mitmachen oder die Verstrickung ihrer Eltern zu verstehen, sondern auch sich selbst als „Erben unter Zwang“. Und es gibt in anderen psychosozialen Schichten unter anderen, gesünderen Voraussetzungen viele Menschen, die Aufarbeitung und Erinnerung als Forschung, als unermüdliches Suchen in Archiven betrieben haben, als Befragung von gerade noch erreichbaren Verwandten, manchmal fast suchartig und ruhelos; die dann aber auch wieder die Suche abschließen konnten mit dem Wissen, genug gearbeitet zu haben am Familienschicksal oder auch am Familienfluch, ebenso wie an dem des Volkes. Wir wissen es nicht, wie viel Wissen und Erinnerung ohne viel Aufhebens in der Bevölkerung lebt. Zwischen der Gleichgültigkeit gegenüber dem Thema, und der Faszination, ja der Droge der Erinnerung, als den beiden Extremen möglichen Verhaltens, gibt es ungeheuer viele Schattierung des Umgangs mit dem Gedenken. Eine ganz individuelle und eine kollektiv ritualisierte. Wir können die Dimensionen des einzelnen Gewissens wie der Erinnerungsfähigkeit eines Volkes in der Summe der Möglichkeiten kaum messen. Wir könnten allenfalls Kenntnisstände abfragen und Einstellungen durch Interviews herausfinden. Die Forschung wird mit Sicherheit diesen Weg gehen, um auch repräsentative Haltungen zu ermitteln. Es ist nicht jedem gegeben, eine differenzierte, intellektuelle wie seelische Einstellung zum Thema zu haben, und doch mag er teilnehmen an Gedenkfeiern, Filme anschauen, sich unbeholfen an den Reden Kundiger orientieren oder erbauen, ohne sich selbst je äußern zu können. Wir wollen nicht nur dem verbalen öffentlichen Diskurs trauen, sondern müssen auch mit stummen Einstellungen rechnen, für die ein paar Schreckensbilder genügt haben, oder ein paar Berichte in der Zeitung oder sogar Erzählungen am Familientisch, wenn sie der Wahrheit näher zu kommen suchten, durch die eine oder andere Predigt, Lesung oder Zeitzeugenbefragung. Auch die stummen Einstellungen sind wichtig für das Erschrecken vor der Katastrophe und das Bewahren einer wortlosen Sittlichkeit. Umso größer ist aber die Verantwortung derer, die mit den mächtigen Instrumenten der Medien Einstellungen prägen. Die Einschaltquoten sagen noch nicht viel darüber aus, wie sich die Botschaften in der Bevölkerung niederschlagen. Aber da die Moralkeule weniger massiv geschwungen wird, kann vorsichtiger Optimismus aufkommen.

Die individuelle Erinnerung wie das kollektive Gedächtnis stehen in einem dialektischen Zusammenhang. Die Grenzen sind fließend. Private Erinnerungen sind Teil dessen geworden, was als öffentliche Kultur gilt, man denke nur an das Tagebuch der Anne Frank. Umgekehrt dringt nicht persönlich Erlebtes, sondern kollektiv Dargestelltes in das individuelle Erinnern ein, auch wenn es inzwischen mehrheitlich längst ein Erinnern an von anderen Erinnertes, Dargestelltes und Aufbereitetes ist. Sehr lange war die individuelle wie die kollektive Kultur des Erinnerns eine Frage der politischen, sozialen und individuellen Moral. Ausländische Besucher war in den ersten Nachkriegsjahren fassungslos, wie indifferent und larmoyant die Deutschen der von ihnen verschuldeten Katastrophe gegenüberstanden. Das Buch der Mitscherlichs , noch stark anklagend, „Die Unfähigkeit zu trauern“ war ein spätes Zeugnis aus deutscher Feder dafür. Die massive und politisch geförderte Schlussstrich-Mentalität bedeutete eine weitere Blockierung. Schließlich hat der moralische Druck zum Erinnern, von innen wie von außen, aber doch janusköpfige Wirkung gezeigt: einerseits zu stärkerer Verhärtung, andererseits und in wachsendem Maß, zur Fähigkeit der Vergegenwärtigung. Der moralische Druck hat spürbar nachgelassen, die Bereitschaft zum Anerkennen der Katastrophe hat zugenommen. Man könnte auch sagen: Das Potential des Für-Wahr-Haltens hat sich ausgeweitet, als eine Art innerer Raum, in den man nicht mehr hineingeprügelt werden muss. Und dennoch bleibt Wachsamkeit geboten, weil unser Gedächtnis eine nur schwer ergründliche Beziehung zur Wahrheit hat, zum von Scheuklappen getragenen Wohlbefinden, zum Selbstwertgefühl. Man kann nicht jahrzehntelang zerknirscht sein vor Schuld und Scham, ohne auch Wut und Ressentiment entwickeln. Mit vorsichtigem Optimismus ließe sich sagen: Unsere Fähigkeit zur Erinnerung ist gewachsen, und es ist gut, dass ihr von außen, vom wachsenden Wissen und dem öffentliche Gedenken, immer wieder geholfen wird.