Tilmann Moser

Für eine Ethik der Berührung in der Psychotherapie

2005

Zur Einleitung möchte ich Ihnen einen Abschnitt aus einem erschütternden autobiographischen Analysebericht zitieren, ein Buch, das für manche orthodoxen analytischen Leser unsere körpertherapeutischen Absichten diskreditieren könnte. Denn der Analytiker hat Körper-Aktionen ausgeführt, die in eine jahrelange Katastrophe geführt haben. Dem Erschrecken über stümperhafte Interaktionen versuchte ich in einem Vorwort und ein anderer Kollege, Siegfried Bettighofer, in einen Nachwort vorzubeugen. Der Titel des Buches, das ein negatives Lehrbuch werden könnte, lautet: Margarete Akoluth, „Unordnung und spätes Leid. Bericht über den Versuch, eine misslungene Analyse zu bewältigen.\" (Königshausen und Neumann, Würzburg, 2004)

Die Analyse ist zu dem Zeitpunkt des Vorfalls sechs Jahre alt und der Analytiker wurde von der Patientin zunächst als überaus hilfreich wahrgenommen. Der Abschnitt lautet:

„An diesem oben erwähnten Tag hatte der Analytiker, während ich auf der Couch lag, sich mit seiner Linken langsam bis zu meiner linken Hand vorgetastet, sie dann viele Minuten lang gehalten. Nur gehalten. Und weiter gesprochen. Dann losgelassen, einfach losgelassen, und seine Rechte von meiner Schulter genommen, ohne ein Wort der Erklärung. Aber weitergeredet. Damit hatte er in meinem innersten Bereich Verheerungen angerichtet, die keinen Stein auf dem andern ließen. In mir war ein Erdbeben geschehen, eine Implosion vulkanischen Ausmaßes. Der Blitz der Sehnsucht – welcher Sehnsucht? – hatte eingeschlagen. Ich verstand nicht, was das alles bedeutete. Ich spürte nur, dass mir etwas widerfahren war, was mein Sein von einer Stunde auf die andere völlig veränderte. Seither lebe ich nur mit einem Teil meines Ichs in der Gegenwart, der größere Teil von mir ist mit der Bewältigung .... beschäftigt. Denn an diesem Tag einer ersten unvermuteten, unerklärten Berührung begann für mich eine pathologische, verschämte, leidenschaftliche Verflechtung mit meinem Analytiker, die mich abhängig, süchtig, emotional hörig machte.

Ich hatte mich in den Minuten des Gehaltenseins besonders angenommen und verstanden gefühlt. Auf dem Heimweg und danach konnte ich den Aufruhr in meinem Inneren nicht verstehen, war einfach entsetzt. Ich war mitten ins Herz getroffen, mein Gefühlschaos war unbeschreiblich. Mein Verlangen, bei Dr. L. zu sein, war mit einem Mal ins Unermessliche gewachsen. Was heißt gewachsen? Es war vorher so nicht dagewesen, und nun floss diese Sehnsucht wie ein unaufhörlicher, nicht endender Strom durch mich hindurch. Ich war verwirrt, konnte fast nichts anderes denken, kriegte keine Ordnung in meine Gefühle und war dem Sturm meiner Empfindungen nahezu hilflos ausgeliefert. Ich hatte nicht gewusst, dass ich mich so sehnen konnte. Ich war 64 Jahre alt! Bis zu diesem Augenblick war ich nicht in Dr. L. verliebt gewesen, hatte mich aber in seiner Nähe wohlgefühlt. Deshalb fand ich mich überbordend in meinem neuen Verlangen nach Nähe und Geborgenheit. Es war für wenige Minuten ein süßes Gefühl gewesen, endlich zu Hause angekommen zu sein. Aber ich wusste gleichzeitig, dass dies eine Illusion und nicht mein Ziel war. Ich hatte autonom werden wollen, unabhängig lebensfähig auch ohne meinen Mann, und sah mich auf einmal abhängig vom Therapeuten. In mein Tagebuch schrieb ich: ´Es fühlt sich an wie Liebeskummer – und doch ganz anders, weil ich das Ziel vor mir habe, unabhängig zu werden, allein sein zu können.´

Vor der nächsten Zusammenkunft hatte ich Sorge, allen Anstand, allen Stolz zu vergessen. Ich war voller Tränen und wollte nichts weiter, als in den Arm genommen sein, spüren, dass ich auch in dieser Gestimmtheit angenommen war, so, wie ich eben bin. Ich beschrieb dem Therapeuten, wie es mich seit dem vorigen Beisammensein fast zerrissen hätte. Ich stieß bei ihm auf Verständnis und Besorgtheit, er sprach von seiner Zuneigung zu mir, und dass er mich mag. Er sei ... nun mein Vertrauter geworden. Da sei mein Empfinden für ihn verständlich, er habe mich doch auch gern. Dann legte er wiederum seine rechte Hand auf meine Schulter, nahm meine Linke in die seine und forderte mich auf, diese Berührung tief in mich hineinzunehmen.\" (S. 19/20)

Der Sturm, der die Analyse schließlich zerstörte, brach los, weil die Berührung nicht im Geringsten vorbereitet war, weil der Berührung eine ungenügende Kenntnis der Regressions- und Reaktionsbereitschaft der Patientin zugrunde lag. Siegfried Bütighofer, der die Patientin später einige Jahre betreute, nimmt als gegeben an, dass eine eigene Mutterübertragung den Analytiker weit von verantwortlichem körpertherapeutischen Tun weggetragen habe.

Doch zunächst möchte ich von einem eigenen ethischen Problem sprechen, das noch nicht direkt mit Berührung verknüpft ist, eher mit seelischer Berührung und einer Unsicherheit über ein ethisches Dilemma der Deutung.

Als Fallbeispiel berichte ich von mehreren jungen Frauen, die sich innerhalb des ersten Jahres einer Therapie oder Analyse heftig in einen Mann verliebten, der in Alter und Gestalt mir nicht ganz unähnlich war. Dies ist wohl den meisten Psychotherapeuten vertraut. Aber wie geht man mit dem Phänomen um, das sich zunächst auf vielfältige Weise äußern kann: Entweder man wird als Therapeut mit der mit triumphierender oder auch scheuer Stimme vorgetragenen Botschaft plötzlich konfrontiert, oder man erlebt zunächst einige Wochen eine seltsame Ausdünnung der Therapie, bis das Geständnis erfolgt. Je nach Bewusstseinsnähe des Problems ist der Stimmklang schüchtern, herausfordernd, betont beiläufig oder offen oder latent schuldbewusst.

Zu rasche Deutungen können zu einem trotzigen Aufbäumen führen, zu einem Bild der Missgunst oder der Liebesfeindlichkeit beim Analytiker; ein zu zögerliches Fragen oder Deuten mag zu Verwirrung und Leiden führen, zu einem Stagnieren der Therapie, aber auch zur Bedrohung einer noch bestehenden Partnerschaft oder Ehe, deren Möglichkeiten vielleicht noch gar nicht ausgeschöpft sind. Natürlich ist abwartende Neutralität unser bekanntes analytisches oder tiefenpsychologisches Ideal, aber sie kann schuldhaft werden, wenn wir nicht angemessen deuten, mahnen, ja sogar warnen.

Unsere Probe-Identifikationen geraten ins Schwanken: Sie können der Patientin gelten, dem früheren Partner, dem neuen Adonis, der einen wichtigen Zufluss der neuen Liebesquelle nicht kennt; oder sie gilt dem neuen Leben oder der therapeutischen Arbeit. Manchmal spüren wir deutlich die Aussichtslosigkeit der möglichen Einsicht, ja das mit Händen zu greifende Agieren; manchmal will es aber auch scheinen, als greife neues Leben nach der Patientin nach längeren Stagnieren ihrer alt gewordenen Beziehung. Bin ich also deutender Spielverderber oder Begleiter zu neuem Glück, griesgrämiger Pedant oder jemand, für dessen vorsichtige Grenzziehung sie später einmal dankbar sein wird? Die frühen Analytiker waren rasch mit Verboten zur Hand, sei es von Trennung, sei es vom Eingehen neuer Beziehungen, solange die (oft nur wenige Monate währende, wöchentlich mehrstündige) Analyse dauerte.

Nach meinem Eindruck führt folgende Konstellation am raschesten zum Agieren mit der Liebe: das Kindsein war demütigend; also wird auch die sich wieder einstellende regressive Abhängigkeit vom Therapeuten als demütigend oder ängstigend erlebt. Gelegentlich ist die Vermeidung von Abhängigkeit und Regression sogar bewusstes Programm. Und trotzdem wächst neben dem Misstrauen die Zuneigung, die im abgewehrten Unbewussten sogar eine große Intensität annehmen kann, weil der Therapeut eine bisher unbekannte Zuwendung anbietet. Dann drängt diese Liebe zur Realisierung, fordert aber im Gegensatz zur Asymetrie der Therapie eine gleichrangige Verwirklichung, wie sie der Patientin nur als erotische Beziehung möglich scheint.

In einem akuten Fall genoss die Patientin es gerade, dass sie ihrem neuen Geliebten, einem leicht angegrauten Universitätspsychologen, sogar in der Rolle der Anleiterin zur Liebe begegnen konnte, während sie bei mir doch eher ein verwirrtes und hilfloses Kind oder eine unsichere Jugendliche gewesen wäre, mit der Ungewissheit, ob sie mein Herz überhaupt erreichen könnte.

Wann und wie greift man ein? Lässt man die Dinge laufen? Arbeitet man eher mit der Gegenübertragung, der auch Eifersucht beigemengt sein kann? Etwa mit dem Tenor:

„Unsere Beziehung hat sich irgendwie verdünnt, Sie scheinen sich zu entfernen\", um vielleicht ein schnippisches „Na klar, ich bin verliebt!\" zu hören. Die Mitglieder meiner kleinen Intervisionsgruppe kamen zu völlig verschiedenen spontanen Probeidentifikationen: Oberster ethischer Wert sei die fünfzehnjährige Ehe; oder das konsequente Analysieren als ethische Dimension, auch wenn es vorübergehend als feindselig oder eifersüchtig von der Patientin erlebt wird; oder die Förderung des Aufbruchs in ein neues Leben als Ethik der Emanzipation aus festgefahrenen Bindungen oder Übertragungen oder der Erprobung neuer Lebensmöglichkeiten, und schließlich sogar ein Drängen nach Paarberatung vor einer neuen Entscheidung.

Die vorgeschlagenen Deutungen aus der Gegenübertragung würden ungefähr so lauten: Die Abwehr gegen die wachsende Nähe und Zuneigung führt in eine Stausituation, in der ein anderes Objekt geradezu gesucht wird. Vermutlich wird Ebenbürtigkeit oder Dominanz gebraucht, weil Abhängigkeit zu demütigend ist und ich als reale Person, mit der man auf gleicher Ebene umgeht, nicht zur Verfügung stehe. Es würde dann verständlich, warum die neue Liebschaft zugleich als Triumph und gleichzeitig mit Schuldgefühlen erlebt wird.

Ich bin mit den Deutungen ganz einverstanden, aber der Strom des neuen Lebens fließt schnell und droht sowohl in der alten Ehe wie in der neuen Bindung Fakten zu schaffen, die gravierend sein können und unübersichtlich in ihren Folgen. Die Patientinnen können vorübergehend nicht mit einem bewußtseinsklaren Selbst reagieren. Deshalb stellt sich mir manchmal bei allem Respekt vor dem angestrebten allmählichen Verstehen der Lage das ethische Problem des aktiven Eingreifens, oder, um es analytisch zu sagen, eines Handelns aufgrund meiner Gegenübertragung, im Sinne einer massiven Deutung, Mahnung, ja sogar Warnung oder Vorformen eines Verbots.

Ich nenne ein schmerzhaftes Beispiel aus eigenem Erleben: ich hatte mich vor langen Jahren in eine Frau verliebt, und sie in mich, und sie sagte auf meine Rückfrage, ihre Ehe sei seit drei Jahren so gut wie tot. Sie war seit einem Jahr auch ausgezogen, aber der Mann half ihr noch beim Einrichten der neuen Wohnung. Ihr Mann litt unter der Trennung und hatte sich ein paar Sitzungen Paarberatung ausbedungen. Das erste, was der Paartherapeut tat: ihr die neue Beziehung streng untersagen, solange die auf wenige Sitzungen terminierte Paarberatung dauere. Ich war verletzt und wütend, während der eigene therapeutische Verstand versuchte, abwartende Einsicht zu produzieren. Das Paar lernte, bisher Ungesagtes auszusprechen und miteinander zu reden, die Beziehung wurde gerettet, und der scheinbar rettende Dritte saß kummervoll auf seinem Groll.

Nun hatte der Paartherapeut es leichter in seiner Entscheidung; er durfte angesichts des Paares annehmen, dass da von der Frau etwas agiert wurde, und er war viel freier in der Festlegung seiner Bedingungen. In laufenden Einzeltherapien ist es schwerer, vitalen Aufbruch und gefährliches Agieren zu unterscheiden.

Was ich ausführen wollte ist, dass neutrales Abwarten sowohl heilsam wie schädlich sein kann, und dass nichts an einer stillen oder auch ausgesprochenen ethischen Entscheidung vorbeiführt, und sei es nur in der Form gründlichen Nachfragens. Und der Prozess der Entscheidung kann durchaus qualvoll sein.
Die Aufzählung der „kleinen\" ethischen Probleme ließe sich fortsetzen. Die meisten „anständigen\" Psychotherapeuten haben es selten mit den „großen\" und vieldiskutierten moralischen Fragen, etwa des manifesten emotionalen, narzisstischen oder sexuellen Missbrauchs in der Behandlung zu tun. Mir scheint, die alltäglichen Fragen beschäftigten uns viel mehr, und sie fordern uns dauernd kleine ethische Entscheidungen ab, die in der Summierung nur unseren moralischen Durchschnittscharakter als Therapeuten herausfordern. Der kann aber nie stabil sein, sondern gleicht einem Mobile, das in dauernder, wenn auch geringer Bewegung bleibt, es sei denn, Wind oder Sturm fielen hinein und stellten uns plötzlich vor die „großen\" ethischen Fragen unserer Profession.

Mit großer Deutlichkeit verweist Johannes Cremerius (1984/1998) auf die Gefahren hin, die durch unerledigte „Trieb\"-Impulse des Analytikers entstehen, wobei er besonderes Gewicht gerade auf die nicht direkt sexuellen Konflikte legt: „So können Analytiker, die mit der Bescheidenheit ihres Berufes nicht zufrieden sind, dort Macht, Glanz und geistige Überlegenheit suchen; einsame Analytiker ohne Liebespartner dort und Partnerschaft erwarten, Sehnsucht nach fehlenden Kindern befriedigen, indem sie aus ihren Patienten Söhne und Töchter machen. Hierher gehören auch präödipale Triebimpulse wie anale Genauigkeit, phallische Selbstdarstellung, sadistische Regelstrenge, narzisstische Bedürfnisse nach Geliebt- und Bewundertwerden etc.....\"

Und dann folgt ein bilanzierender Satz, der zum Bereich der angeblich „kleinen\" ethischen Probleme führt, die aber eben doch gar nicht so klein sind: „Diese Bedürfnisse sind deshalb bedrohlicher und bedürfen einer wachen Abstinenzhaltung, weil sie das Gewissen des Analytikers leichter unterlaufen können als die spektakulären sexuellen Begierden.\"(1998, S. 74)

Mein Abstinenzbegriff als analytischer Körperpsychotherapeut

Johannes Cremerius grundlegende Arbeit über Die psychoanalytische Abstinenzregel. Vom regelhaften zum operationalen Gebrauch nehme ich zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen: Unter dem sogenannten operationalem im Gegensatz zu einem orthodoxen Gebrauch versteht er die Abkehr von einer starren Regel hin zu einer differenziert gehandhabten Funktion, die im Dienst des Patienten steht und nicht in dem einer seit Freud nur mühsam modifizierten, zunächst einmal kodizierten Behandlungslehre der sogenannten Einpersonen-Psychologie.

Diese manchmal inhuman wirkende Haltung, die dem Analytiker eine strikte Neutralität, Unerkennbarkeit und Affektunterdrückung aufnötigte, war bis in die fünfziger Jahre und später so verbreitet, dass Carl Rogers mit seiner „klientenzentrierten Therapie\" eine große Gegenschule initiieren konnte. Zur klassischen Abstinenz gehört die Begrenzung auf das Verbale, das weitgehende Verbot jeglicher Art von Befriedigung während der Stunde, sogar das von Körperbewegungen, weil sie Ersatz-Befriedigungen beinhalten könnten. Es überwog das Prinzip der Kontrolle und das Monopol der Deutung.

Dies alles beginnt zu verblassen, das analytische Instrumentarium sich zu erweitern. Die Psychoanalyse studiert seit einigen Jahren die averbalen Anteile der Kommunikation, zentraler Begriff ist das enactment als unbewusste Inszenierung von Affekten, Defekten oder Konflikten, mit der der Analytiker zuerst einmal erlebend oder sogar handelnd mitgehen muss, um sie überhaupt zu entziffern. Obwohl Balint, Winnicott, Khan und andere längst kleinere Handlungseinheiten und Berührungen in die klassische Psychoanalyse eingeführt und sie theoretisch begründet haben, ist Berührung und Interaktion bei den analytischen Verbänden nach wie vor tabuisiert, ja sogar nach den ethischen Regeln untersagt, und als Antragsteller für eine Finanzierung von Therapien und Analysen durch die Krankenkassen ist man angesichts der meist streng analytischen Gutachter gut beraten, diese Aktivitäten nicht in den Behandlungsplan zu schreiben.

Nun zu meinem Begriff der Abstinenz, die als solche selbstverständlich ist, als sie dem Begriff des nil nocere, keinen Schaden stiften, folgt. Zentral ist auch hier der Begriff der Gegenübertragung, die als ein wesentliches Erkenntnisinstrument gesehen wird dafür, wo der Patient sich in der Regressionsstufe befindet, in welche Szene er entweder intrapsychisch oder mit dem Übertragungsobjekt des Analytikers verstrickt ist; welche Lösungen er anstrebt und welche Abwehrmechanismen er verwendet. Die Voraussetzung ist natürlich, wie vor allem Heisterkamp schon 1993 in seinem schönen Buch „Heilsame Berührungen\" hervorhebt, dass der Therapeut, zusätzlich zu seiner analytischen Schulung, eine von Selbsterfahrung geleitete Körpersensibilität entwickelt hat, die ihm erlaubt, die verschiedenen nonverbalen Zeichensprachen zu verstehen.

Die Gewichtung im Benutzen der Gegenübertragung verschiebt sich von der Gefährdung der Arbeitsfähigkeit hin zu einem positiven Mittel der Orientierung wie zu einem Kompass für eine berührende Intervention. Der ursprüngliche analytische Verdacht ist der: In der Unklarheit oder gar Bedrohung von Übertragung und Gegenübertragung zu „agieren\", also zu handeln, das heißt die Arbeit am Konflikt zu verlassen und blind oder unkontrolliert oder verwöhnend zu handeln und die Beziehungsspannung nicht auszuhalten.

Es gibt aber ein Handeln, das der Förderung der Ich-Funkionen wie der Strukturbildung dient. Ebenso ein Berühren, das sich an ein Gefühl von Verlorenheit, extreme Mangelzustände, Angst, Panik und Erschöpfung richtet, die alle eine Schwächung des Ichs und eine mangelnde Affekttoleranz implizieren. Es sind, vor allem bei den frühen Störungen, Zustände, in denen das Ich körperliche Unterstützung erhält, um überhaupt wieder am therapeutischen Prozess teilzunehmen und eine Empathie zu spüren, wie sie Worte allein nicht mehr vermitteln können.

Die Unterscheidung von Marguerite Sèchehaye zwischen primären und kompensatorischen Bedürfnissen scheint mir noch immer gültig: Die primären Bedürfnisse, soweit sie auf gefährliche, bedrohliche oder einengende Weise nicht erfüllt wurden, dürfen befriedigt werden; nicht aber die kompensatorischen, die auf verschobene, maskierte und mit Abwehr durchdrängte Ziele gerichtet sind.

Hierdurch wird der Begriff der Befriedigung, der für die orthodoxe Analyse nur pejorativ, weil triebgebunden gebraucht wurde, neu definiert und seiner angeblichen Gefährlichkeit beraubt. Abstinenz besteht dann hauptsächlich in der genauen Prüfung, ob Berührung und Interaktion auf Ich-Stärkung und Strukturbildung gerichtet und sie zu ermöglichen in der Lage sind. Die Prüfung umfasst weiter die Aufgabe zu erkennen, ob eine Fixierung droht, ob die Regression, die oft über längere Zeit nötig ist, eine Wendung zur Progression zulässt; ob bestimmte Formen des Haltens bei längerer Anwendung Suchtcharakter entwickeln könnten; ob der Patient in der Lage ist, Berührung und Interaktion frei und autonom erleben und gestalten zu lernen.

Albert Pesso, der in der inszenierenden Arbeit in der Gruppe sehr intensive Formen der Berührung durch rollenspielende Gruppenmitglieder zulässt und fördert, hat sich dennoch entschlossen, selbst als Leiter nicht zu berühren und es auch seinen Schülern so nahezulegen.

Viele analytische Körperpsychotherapeuten, so auch ich, arbeiten mit einem sich ständig ausweitenden Fundus von interaktiven Bildern, der umso reichhaltiger ist, wenn er sich von frühen Modellszenen erstreckt bis in wichtige Szenen des frühen Erwachsenseins. So wie der Analytiker aus der Fülle denkbarer Deutungen intuitiv oder durchdacht Interpretationen auswählt, so verfährt der Körperpsychotherapeut mit seinen interaktiven Körperbildern und seinen gleich Suchwerkzeugen lebendigen Emotionen. Er sucht nach einer möglichen Form der Berührung oder Interaktion, wobei es wichtig ist, dass auch hier nach dem Prinzip der angemessenen Sparsamkeit zu verfahren ist. Selbstverständlich gehört die auch von Cremerius angemeldete Notwendigkeit dazu, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und unter Kontrolle zu halten oder aber sie als induziert durch die Gegenübertragung zu deuten und auf ihre Anwendbarkeit zu untersuchen.

Aber die eigene Befriedigung wird in der analytischen Körperpsychotherapie nicht mit der gleichen Strenge geahndet wie in der orthodoxen Analyse. Natürlich sollen eigene Bedürfnisse nicht zum Motiv von Berührung werden. Aber dass Berührung und Interaktion auch gelegentlich Befriedigung bringen kann, wird jeder analytische Körperpsychotherapeut ohne weiteres zugeben. Mit einigen Abstrichen würde ich sogar sagen, dass der Körperpsychotherapeut, wohldosiert im Interesse des Patienten, Befriedigungen ähnlicher Art erleben kann wie körperlich vorsichtige Eltern mit ihren Kindern, wobei selbstverständlich zu berücksichtigen ist, dass auch der tief regredierte Patient einen ausgewachsenen Körper besitzt.

Insofern ist immer klar, dass die Berührungen sowohl einen realen wie einen symbolischen Charakter besitzen. Eine Hand auf dem Brustbein des liegenden Patienten kann symbolisch die gleiche Bedeutung haben wie für das Kleinkind die beruhigende Brust des Erwachsenen, an die er sich schmiegt, um Kummer loszuwerden oder auch Wut zu verarbeiten. Ohne diesen erweiterten Container könnten ihn diese Gefühle, so fürchtet er, psychisch zerreißen, erstarren lassen oder ihn zu anderen massiven Abwehrbewegungen zwingen, wie es schon seine frühen Affekte erforderten.

Zur Abstinenz des analytischen Körperpsychotherapeuten gehört es ebenfalls abzuschätzen, wie viel Mobilisierung von Affekten eine Berührung oder eine Interaktion mit sich bringen kann. So wie der Analytiker Zeitpunkt, Intensität und Wirkung einer Deutung abzuschätzen versucht, so gehört es zu den nicht immer leichten Aufgaben des Körpertherapeuten, einen neuen Schritt mit dem Zustand der Affekte wie des Ichs in Einklang zu bringen.

Der jeweilige Stand der Verträglichkeit ist wichtig. Abstinenz bedeutet damit, jenen Zwischenraum zum Bedenken der Spannung zu gewährleisten zwischen neuer Initiative und neuen Anreizen, und der Angst vor Neuem, dem Stand der Übertragung, der Neugier auf den nächsten Schritt und der Verarbeitungs-kapazität des Ichs. Selbsterfahrung ist, wie schon angedeutet, der Schlüssel zur wachsenden Sicherheit im Umgang mit dem Einsatz des Körpers in der analytischen Psychotherapie.

Literatur

  • Cremerius, J. (1998): Die psychoanalytische Abstinenzregel. Vom regelhaften zum operationalen Gebrauch. In: Cremerius, J. (1998): Arbeitsberichte aus der psychoanalytischen Praxis. edition discord, Tübingen 1998, S. 50-80.
  • Geißler, P. Hg. (2001): Über den Körper zur Sexualität finden. Psychosozial Verlag, Gießen
  • Heisterkamp, G. (1993): Heilsame Berührungen. J. Pfeifer Verlag, München
  • Pfannschmidt, H., in Geißler (2001): Die Auswirkungen der Leib-Seele-Phantasie auf Erotik und Sexualität, S. 131-152
  • Moser, T., (1987): Der Analytiker als sprechende Attrappe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt
  • ders. (1986): Das erste Jahr. Eine psychoanalytische Behandlung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt
  • ders. (1991): Körpertherapeutische Phantasien. Psychoanalytische Fallgeschichten neu betrachtet. Suhrkamp Verlag Frankfurt
  • ders. Stundenbuch.(1992): Protokolle aus der Körperpsychotherapie. Suhrkamp Verlag Frankfurt
  • ders. (1993): Der Erlöser der Mutter auf dem Weg zu sich selbst. Eine körperpsychotherapeutische Studie. Suhrkamp Verlag Frankfurt
  • ders. (1997): Ödipus in Panik und Triumph. Eine Körperpsychotherapie. Suhrkamp Verlag Frankfurt
  • ders. (2001): Berührung auf der Couch. Suhrkamp Verlag Frankfurt
  • Sèchehaye, Marguerite (1986): Eine Psychotherapie der Schizophrenen. Klett-Cotta Verlag Stuttgart
  • Ware, B. (2000): Interaktive körpertherapeutische Gruppentherapie und Gegenübertragung. In: Analytische Psychologie 31, Karger Verlag, Basel, Freiburg, Paris, London, New York, S. 1-25