Tilmann Moser

Psychoanalyse und Macht

Moser, Tilmann: Über das Auftauchen von NS-Zeit, Stalinismus und Krieg in der Therapie. In: Schmidt-Lellek, Christoph/Heimansberg, Barbara (Hg.): Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie, S. 83-98.

Einleitung

Es geht um die Erforschung und den therapeutischen Umgang mit den Verwüstungen, die die entsetzlichen politischen Vorgänge in unserem Jahrhundert in den Seelen der Menschen hinterlassen haben. Der verschüttete Zugang zu ihnen ist nicht nur durch unerkanntes und durch viele Biographien mitgeschlepptes Leiden bedrohlich, sondern auch durch die Folgen, die das für die Tiefenwirkung von Politik, von Angst, Terror, Verfolgung, von realisierter totalitärer Ideologie haben kann. Ich spreche vom psychischen Nachhall politischen Schreckens in den Seelen, die ihrerseits wieder Politik und öffentliches Bewusstsein gestalten. Er kann große Teil der ganzen Psyche angreifen oder zerstören, ich beschränke mich auf die Auswirkungen auf das Überich.

Die Schicksale des Überichs

Das klassische Überich ist eine durch Identifizierungen mit den Eltern, bei Freud vorwiegend mit dem Vater vermittelte persönliche Instanz, die im täglichen Leben gebietet und verbietet. Sie ist im Begriff, eine fast museale Einrichtung zu werden. Mit dieser provokativen Vereinfachung möchte ich einige Überlegungen einleiten, die sich vor allem mit den giftigen Deponien im Untergrund der Seele auseinandersetzen.

Da die Frauen als Vermittler von Überich in der frühen Psychoanalyse kaum zählten, waren es die patriarchalischen Väter, die für Freud, nicht zuletzt über den Schrecken der Kastrationsdrohung, die Quelle des Gewissens bildeten. Therapieerfahrung und Forschung haben viel dazu beigetragen, dass auch Nutzen und Schaden eines früher gebildeten, mütterlichen Überichs verstehbar wurden. Aber obwohl in Deutschland während des Krieges und nach dem Krieg die Frauen weitgehend das Überleben gesichert haben, hat das männlich bestimmte Überich weder im fanatisierten Durchhalte-Nationalsozialismus des Krieges noch im Wiederaufbau-Patriarchalismus der Nachkriegszeit viel von seiner Dominanz verloren. Und dies trotz der Mitscherlichschen Diagnose der "vaterlosen Gesellschaft". Der Rolle der Mütter ist lange im Dunkeln geblieben.

Ich betone zunächst einmal summarisch, dass an die Stelle der sichtbaren väterlichen Einzelautorität in den totalitären Diktaturen die autoritäre Aufladung der Väter durch die Anlehnung an Macht, Parteien und Ideologie getreten war. Um dies zu verdeutlichen, vereinfache ich die sozialen und familiären Muster der Jahrzehnte von der Reichsgründung 1871 an in der bürgerlichen und der kleinbürgerliche Familie. Sie gilt analog für ein relativ friedliches Europa, das seine aggressiven Kräfte in die Industrialisierung und die Erschließung und Ausbeutung der Kolonien setzte, bis es zur Katastrophe des 1. Weltkriegs kam, der so viele gute und schlimme Veränderungen einleitete.

Natürlich war die väterliche Autorität gesellschaftlich und auch ideologisch, durch Thron und Altar und autoritäre Konvention abgesichert, aber nicht im Sinne einer reduzierenden Gleichschaltung der Väter, sondern eher stützend, die Vaterrolle hervorhebend; es ging bildhaft patriarchalisch zu, wobei der Vater als Quelle und Sitz der Macht wie der Orientierung galt und bei pädagogischen und sonstigen familiären Entscheidungen das Sagen hatte. Dies gebt der angeblich überichbildenden Kastrationsdrohung durch den Vater eine gewisse gesellschaftliche Plausibilität.

Angsthierarchien und Kleinfamilie

Die innerfamiliäre Macht- und Angsthierarchie bestimmte auch die Freudsche Herausbildung der seelischen Instanzen mit der liebevoll ausgemalten Rolle des Überichs. Schließlich lautet der Kernsatz Freuds nicht: Wo Überich war, soll Ich werden, sondern "Wo Es war, soll Ich werden."

Die behandlungstechnischen Regeln der Psychoanalyse sind in ihrem familialistischen Modell nicht zu verstehen ohne den kleinen Kosmos überschaubarer Rollen und ihrer Autoritätsverteilung, die dazu noch weitgehend auf einer Kontinuität der Überich-Inhalte zwischen den Generation beruhen. Schon für die Großeltern brauchten kaum eigene Repräsentanzen ausgeformt zu werden brauchten.

Dies alles ändert sich, natürlich nicht abrupt, und doch dramatisch, im 20ten Jahrhundert. Machtzentren werden Parteien mit starkem ideologischem Anspruch, der die tradierten Denk- und Fühlinhalte auswechseln will. Mit dem Sieg von Nationalsozialismus und Stalinismus verstärkt sich die Abtretung von Überichfunktionen an die Partei oder die obersten Führer. Das bedeutet aber, dass die Väter entweder mit Macht und Ideologie verschmelzen, sich rauschhaft erhöht fühlen, oder aber selbst als Geängstigte und Gedemütigte erscheinen und von den Kindern oft auch so erlebt werden. dass die Frauen und Mütter zum Teil begeistert mitschwingen, erhärtet nur die Tatsache, dass die Männer gehorsame und ausführende Organe werden, die von begeisterter Identifizierung oder von Angst gelenkt werden.

Ein Teil der das Erleben wie das Handeln steuernden Instanzen rücken also außerhalb des Ichs. Sie sind durch den revolutionären Charakter der gesellschaftlichen Veränderungen aus historisch-familiären Kontinuitäten herausgenommen. Ich- und Überich-Inhalte verändern sich beschleunigt unter fühlbarem politischen Druck, Propagandass, Massenrausch und Terror. Kinder erleben ihre nächsten Autoritäten wie Eltern und Lehrer unter dem Druck der totalitären Erziehung entweder als vorgestrig oder aber als von höheren Instanzen sichtbar gesteuert oder überwältigt. Später dann in den Schrecken von Verfolgung, Krieg, Flucht, Bombardierung als geschlagen und gebrochen oder ideologisch fixiert oder in hilflosem und verbittertem Schweigen versunken.

Der innerfamiliäre Machthaushalt wird in der NS-Zeit nach außen geöffnet. Selbst die Triebabfuhr und die Verwaltung der Gefühle werden außerfamiliär gesteuert, im Extrem wird zur Auflehnung oder zum Verrat an den Familienloyalitäten aufgerufen. Der große Kastrator hat den Vätern (wie den Müttern) Kastrationsmacht (im symbolischen, aber auch im terroristischen Sinne) entwunden und die seine damit erhöht, oder er beläßt sie den Vätern allenfalls in seinem Namen. Er hat mit ihr seine Schergen, Organisationen, Drohmächte ausgestattet, und es wäre absolut unwahrscheinlich, wenn sich dies nicht niederschlagen würde in einem veränderten Aufbau der seelischen Repräsentanzen, vor allem der Elternbilder wie der Fragmente oder der Gesamtform des Überichs.

Das parteilich organisierte gesellschaftliche Überich bestimmt über Zugehörigkeit, Lebensrecht und Vernichtungs-drohung. Der Loyalitäts- und Angstdruck nimmt viel intensivere Formen an als in der patriarchalischen Idylle vor dem ersten Weltkrieg angesichts der totalitären Vergesellschaftung des Einzelnen wie der Familien. Für die Kinder macht es einen Unterschied, ob sie ihre Eltern selbst als Unterworfene oder als Berauschte erleben, auch wenn diese im Aufstieg des Nationalsozialismus (oder anderer Totalitarismen) als die tragend Getragenen erscheinen, und später als die Gebrochenen oder Geächteten. Die Überichinhalte konnten ja sogar durch Dekrete oder Parteirichtlinien zu bestimmten Stichtagen ausgewechselt werden. Nach dem Zusammenbruch kam die NS-Ideologie auf die Deponien, unaufbereitet und untergründig in dem Familien weiter wirksam, aber abgedeckt durch neue Schichten des verordneten Bewusstseins.

Sowohl die angemaßte und geliehene Omnipotenz linientreuer Väter wie ihre Verunstaltung und Degradierung bei Verlust von parteilichem Wohlwollen oder nach dem Zusammenbruch ihres Systems muss den Kindern unbewusst als Teil eines falschen Selbst erscheinen, das die Orientierung an einem authentischen eigenen Kern oder einem elterlichen Kern elementar erschwert. Kommen dabei noch einander widersprechende Loyalitäten und politische Ängste ins Spiel, ist die innere Fragmentierung vorprogrammiert.

These I: Das politisch beeinflusste und beschädigte Überich erzeugt und vertieft die Borderlinestruktur.

Die psychischen Vorgänge, aus denen Freud die Bildung des Überichs abgeleitet hat, haben durch ihren familialen Charakter und die Übersichtlichkeit der Gebote, bei allem Schrecken und aller Zerrissenheit, die wir auch hier finden können, einen quasi privaten Charakter als Summe der von wichtigen Personen aus Kindheit und Jugend ableitbaren Normen.

Durch die Wucht der die Familie überschwemmenden Formen von Angst, Macht, Ideologie, Glauben, Ansteckung, Dämonisierung, Todesnähe und Destruktivität, haben wir es mit bedrohlichen Überich-Fragmenten oder Golems zu tun, die sich nicht mehr auf kontinuierlich wachsende Identifizierungen mit Personen im familiären Austausch zurückführen lassen. Sie wuchern über die normalen psychischen Phantasien sogar hinaus und stiften also ein Chaos zwischen innen und außen, weil die äußere Bedrohung die innere oft übersteigt.

Wir können also nicht mehr davon ausgehen, dass das Überich von Menschen in der Diktatur, vor allem, wenn sie durch soziale Umbrüche, Terror oder Revolution zustandekam, einen geschlossenen personalen Container von Normen und Imperativen bildet, sondern wir haben es, mindestens im Nachhinein, mit schwer auffindbaren Deponien von Gehorsam, Idealisierung, Ichaufblähung und Ichauflösung, Panik, Strafängsten usw. zu tun. Sie können partiell untereinander abgeschottet bestehen, in sich widersprüchlich sein, aufbewahrt an ganz unterschiedlichen Orten der Seele, quasi geologisch geschichtet und durch politische Wendepunkte zerteilt. Die psychischen Katatrophen von Aufschwung, Unterwerfung und Absturz in der NS-Zeit, in Holocaust und Zweitem Weltkrieg konnten in der Zeit ihres Geschehens und in den Jahrzehnten danach noch gar nicht angemessen verstanden, geschweige denn therapeutisch angegangen werden. Erst in den Therapien von Kindern von Opfern und Tätern, Mitläufern und sekundär Geschädigten können wir Zugang finden zu den psychischen Folgen der ideologischen Kriege und der realen Kriege in ihrem Gefolge.

Dabei erweist sich auch, dass die bisher bekannten Formen der Bildung von Überich nicht ausreichend, um die inneren Vorgänge zu erklären oder therapeutisch zu mildern. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich nur einige Begriffe nennen, mit denen neuere Forscher die Folgen von Diktatur, Angst und Terror beschreiben: dassist von Überwältigung die Rede, von Intropression, Implantation, Indoktrination, Ichauslöschung, toten seelischen Zonen, Gehirnwäsche, Umdrehen des Subjekts, Einschüchterung, Spaltung, Hörigkeit, Zwang zum Verrat und vieles mehr. So weit ich weiß, gibt es noch wenig Forschungen über die Tatsache, dass terroristische Überich-Instanzen gleichzeitig existieren als verinnerlichte wie als in der Außenwelt weiterwirkende.

Welche Instanzen hinterlassen Eltern, die vielleicht in der NS-Zeit auf der Seite der Macht standen, aber in Flucht und Bombenkrieg, Strafangst und Nachkriegsnot zusammenbrachen? Auf bewusste oder unbewusste Weise wurden Kinder Zeugen der Angst der Eltern wie ihres berauschten oder gedemütigten Gehorsams; und sie erlebten Menschen, die uniformiert oder durch Amt und Gewalt fast beliebig Willkür und Schrecken verbreiten können.

Wie wird von Kindern Macht und Schrecken symbolisiert? Wie wird der Glaube der Eltern an oder die Angst der Eltern vor der Macht oder die eigene Angst vor grausamen Personen oder Kollektiven innerlich verarbeitet? Es gehört zur Geschichte unseres Jahrhunderts, dass Kinder direkt oder indirekt der drohenden oder vernichtenden Gewalt von überwältigend mächtigen Personen oder Kollektiven, ja sogar dämonischen Entitäten wie dem "Krieg", der Endlösung, der "Vertreibung", den Nazis, den Russen, der Flucht ausgesetzt waren; oder sie haben zusammen mit Eltern überlebt, die selbst in Angst und Schrecken davor existierten.

Das große Schweigen in den Familien

Die Desorientierung durch das große Schweigen vor und nach dem Zusammenbruch kam noch hinzu, auch durch die rätselhaften Veränderungen der Eltern, den plötzlichen Verlust einer bestimmten Sprache, eines Elternteils, meist des Vaters, und das aufgrund von Mächten, für die auch die Eltern oft Spielball oder Opfer waren, selbst wenn sie als Täter, Mittäter oder Mitläufer und begeisterte oder widerwillig gehorchende Parteigänger begonnen hatten.

Die Psychoanalyse versucht nun, alle Konflikte therapeutisch so anzugehen, dass sie sie in der Übertragung neu sich konstellieren läßt, an der Person des Therapeuten, der dem Patienten in den vielfältigsten Masken erscheint. Aber wie die meisten Analyseberichte über Opfer- wie Täterkinder zeigen, beherrschen Angst, Vermeidung oder Manipulation die Szene. Es ist klar, dass der Patient wie auch der Anlytiker sich sträuben, in die Schreckensrollen zu geraten, die die NS-Zeit in den Seelen hinterlassen haben.

Deshalb:

These II: Die Übertragung kann nicht der privilegierte oder gar der ausschließliche seelische Raum sein, in dem sich die seelischen Bilder und wie Einschreibungen der politischen oder militärischen Gewalten zeigen und behandeln lassen.

Vereinfacht möchte ich es so formulieren: wenn die Eltern real oder in der Phantasie des Kindes ihre weiterzugebenden Überichinhalte verantworten und sie als ihre eigenen spüren lassen, dann taucht in der Wiederholung der Übertragung der Therapeut als der Träger dieser Eigenschaften, Projektionen und Phantasien auf. Der therapeutische Prozeß besteht dann darin, an diesen Übertragungen und den gegen sie aufgewandten Widerstand, zu arbeiten. Der Analytiker bleibt in der Regel ein konturierter Mensch, der in die Masken der inneren Bilder schlüpft, oder um den herum sich traumatisierende oder bergende Atmosphären entfalten.

Aber wie tauchen die auf ganz andere Weise verinnerlichten, erinnerten oder abgespaltenen Gewalten auf, die in, über oder hinter den Eltern wirkten und wirken, oder als deren Marionetten, Getriebene, fanatisierte Träger, Opfer oder Teilhaber die Eltern erschienen? Können wir erwarten, dass der Patient fähig ist, sie in die Übertragung einfließen zu lassen, und vom Therapeuten annehmen, dass er sie fühlt, dechiffriert, erkennt, sich partiell wenigstens identifizieren kann? Und dabei soll er dennoch, auch inmitten lähmender Angst, das Arbeitsbündnis aufrechterhalten, sich selbst in seiner Rolle mit lebendigem Kern erleben und gelassen bleiben? Ich glaube es nicht, und ich will versuchen, es zu begründen. Anita Eckstaedt hat in ihrem Buch "Nationalsozialismus in der `zweiten Generation´" (1989) den heroischen und leidvollen Versuch geschildert, diese Themen in Übertragung und Gegenübertragung abzuhandeln.

Ralf Zwiebel hat in seinem Buch "Der Schlaf des Analytikers" 2) überzeugend gezeigt, wie schwer die frühen Störungen einzelner Patienten in Übertragung und Gegenübertragung die Hauptfunktionen des Analytikers angreifen können, ja, ihm in manchen Fällen gelassenes Arbeiten fast unmöglich machen. Dabei handelt es sich um Pathologien, bei denen Spaltung, projektive Identifizierung, Widerstand gegen die Übertragung, Bedürfnisse nach omnipotenter Symbiose, Abwehr von Bezogenheit, Auslöschung des Analytikers u. a. im Vordergrund stehen. Ich möchte Zwiebels Aufzählung um zwei Mechanismen ergänzen, von denen der erste eine Extrapolation von Zwiebels eigenen Erkenntnissen ist, nämlich die unbewusste Phantasie vom gemeinsamen Selbstmord; und die zweite ist der Hauptmechanismus der Objektbeziehung, auf der Eckstaedts Deutung beruht, nämlich die "ichsynthone Objektmanipulation"; bei ihr droht der Analytiker in der Wiederholung unbewusster Sozialisations-erfahrungen das psychisch überwältigte Opfer des Patienten zu werden.

Eckstaedt nennt den Hauptmechanismus des von den Giftdeponien in den betroffenen Familien bedrohten Zusammenlebens die "ichsyntone Manipulation". Dabei handelt es sich um einen parasitären Druck der Eltern auf die Kinder, bestimmte unbewusste Aufträge zu übernehmen, wie es die Familientherapie schon zwei Jahrzehnte früher herausgearbeitet hat. Die Kinder reproduzieren später diese Formdes Drucks.

Dieser Mechanismus der unbewussten und deformierenden Manipulation bildet eine solide Brücke von der Psychologie privater innerfamiliärer Interaktionen zur Psychoanalyse von Machtverhältnissen, gespiegelt im Subjekt, dem Patienten. Das große Schweigen in den Familien hat ihn gelehrt, dass die NS-Themen in der Regel bei Strafe einer Familienkatastrophe nicht berührt werden dürfen. Die Aussagen über das innerfamiliäre Schweigen von NS-Familien wie den Familien von Verfolgten sind so übereinstimmend und überwältigend, dass ich mir die Rekapitulation der Ergebnisse erspare. Ich erwähne nur die Bücher von Gabriele von Arnim, Das große Schweigen (1986), Dörte von Westernhagen, Die Kinder der Täter (1987), Dan Bar-On, Die Last des Schweigens (1993), und von therapeutischen Kollegen von Jürgen Müller Hohage, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen (1988); und, von Barbara Heimannsberg und Christoph J. Schmidt herausgegeben, Das kollektive Schweigen (1992).

Mit der sozialpsychologisch kontraproduktiven Wirkung der "Unfähigkeit zu trauern" habe ich mich in zwei Arbeiten auseinandergesetzt, zuletzt in dem gerade erschienenen Buch Politik und seelischer Untergrund (1993). Dort versuche ich auch zu analysieren, warum die Psychoanalyse das große Schweigen mitgetragen hat. Das hängt einerseits mit der unwahrhaftigen Identifikation der deutschen Freudianer mit den Verfolgten zusammen, die einem selbstidealisierenden Familienroman gleicht; mit der Wucht der Mitscherlichschen Anklage, deren moralische Reinheit einschüchternd wirkte; zuletzt mit dem allgemeinen politischen Klima und, dies ist das Zentrum meines Thema, mit den psychischen Schwierigkeiten der Analytiker, mit dem Komplex angemessen umzugehen, sowohl was die Behandlungs-Technik angeht wie was die eigene Aufarbeitung der politischen und der Familiengeschichte betrifft.

Die politischen Angstinhalte und das therapeutische Setting

Ich möchte das Ausmaß der Aufgabe, in der ich nicht nur eine individualtherapeutische, sondern eine politisch-psychogienische, aber auch politisch-ethische Dimension sehe, noch einmal deutlich machen. Wer als Analytiker und Psychotherapeut nicht betriebsblind ist, wird bei vielen Patienten ab 45 Jahren auf Spuren oder Trümmer von politisch verursachten Störungen stoßen, für die uns einige Kollegen, zum Teil leider in sehr versteckten Aufsätzen die Augen geöffnet haben. Ich halte es für eine für den durchschnittliche Analytiker, der in seiner Ausbildung nicht das geringste über das Problem gehört hat, eine fast unlösbare Aufgabe, die dämonischen Introjekte, also die inneren Nachbilder des Schreckens, anzugehen. Er müßte aus den zunächst höchstens atmosphärisch wahrnehmbaren Anzeichen - falls der Patient das Thema nicht selbst angeht, was selten ist -

Hypothesen über die Giftdeponien bilden, seine historischen Kenntnisse mobilisieren. Er müßte, obwohl die meisten das finstere Thema in ihrer eigenen Lehranalyse kaum berührt haben und also ohne wirkliche Selbsterfahrung sind, die Anzeichen von Desorientierung, Widerstand, Angst, Leere, Panik und falschem Selbst richtig deuten und die möglichen Inhalte ansprechen. Aber es ist zermürbend, verunsichernd und ängstigend, in der Übertragung in die Position des intellektuell verabscheuten, psychisch aber weitgehend unbekannten kollektiven Bösen oder gar in die Rolle Hitlers, der Gestapo, der Stasi, aber auch der Bombenflugzeuge oder umgekehrt, der von Panik überwältigten, sich oft selbst anklammernden Eltern zu geraten. Er stünde vor einer vielfachen Aufgabe: das Arbeitsbündnis aufrechtzuerhalten, dem Patienten fremde oder ihn befremdende Hypothesen mitzuteilen, seine eigene Geschichte zu bedenken oder emotional präsent zu haben, archaische Übertragungen auf sich wirken zu lassen oder ihre Ausblendungen zu erkennen. Er müßte weiter das Unbehagen, ja die Angst auszuhalten, von einer Aura des Bösen oder Destruktiven umgeben zu sein oder in deren Zentrum zu stehen, und die Dimensionen reflektieren, die das Thema in der Psyche des Patienten oder dem Untergrund der Familie einnimmt, was der oft weder weiß noch wissen will. Das Analoge gilt ja, wenn man als 45- oder 5o-jähriger versucht, die lange beschwiegenen Themen in der Familie doch noch einmal anzusprechen. Mit manchen Patienten muss man es lange durchsprechen oder üben, wie sie das Thema noch einmal angehen könnten. Oft erzwingen erst Kranken- und Sterbebett eine letzte Öffnung, und es gilt, auf diese späten Bekenntnisse vorbereitet zu sein.

Dies ist der Punkt, wo ich zum Übertragungspotential des Patienten übergehe. Es gibt archaische Ängste, analog einer psychotischen oder Borderline-Struktur ohne politischen Hintergrund, der Analytiker werde ausgelöscht, verwandle sich in ein Monster oder werde vom Monströsen verschluckt oder vernichtet, deformiert oder selbst zum Opfer (wie die Eltern). Dieses Opfer, oder der Opfer-Täter, müßte dann in bedrohlicher Parentifizierung des Patienten selbst wieder getröstet, aufgefangen oder gerettet werden. Wenn gewaltsamer Tod im Untergrund der Familie eine Rolle spielt, bilden Todes- oder Vernichtungsängste die Kräfte des Widerstandes, falls man die von den Mitscherlichs diagnostizierte Entwirklichung überhaupt noch als Widerstand im klassischen Sinne bezeichnen kann. Die Dinge liegen noch komplizierter, wenn wir an die Patientenjahrgänge der Nachkriegskinder denken. Sie sind zum Teil geprägt vom Schicksal der Flucht, Ausbombung, Erstarrung der Eltern, Flüchtlingsdasein usw. Anita Eckstaedt weist mir Recht darauf hin, dass bei aller elementaren Gewalt des unterirdischen Fortwirkens der NS-Geschichte die analytische Entzifferung der Zusammenhänge immer schwieriger wird, und das bedeutet in der Regel auch: mehr Verwirrung im Analytiker.

Was heißt "Bewältigung" der Vergangenheit auf individueller wie auf kollektiver Ebene?

Ich beginne diesen Abschnitt mit der dritten These:

These III: Der Analytiker muss Begleiter, Schutzengel und Regisseur, nicht Übertragungsfigur sein bei solchen Störungen.

Es gibt Konstellationen kumulativer oder terroristischer negativer Übertragungen, bei denen der Analytiker nicht gleichzeitig haltende Figur, Garant des Arbeitsbündnisses und Übertragungs-gestalt sein kann. Wird diese elementare Tatsache nicht berücksichtigt, so ist Leid für beide Partner des therapeutischen Dialogs die Folge, eine Einschränkung des bearbeitbaren Konfliktfeldes, die Auflösung des Widerstandsbegriffs, der Verlust der historischen Dimension und eine gemeinsame Regression auf ein kleinfamiliales Modell unter Ausblendung der Geschichte und der affektiven Gewalt ideologisch-politischer Instanzen. So wie der seelische Container der Eltern wie der Kinder überfordert war bei der Bewältigung von Angst und Schrecken, so ist der Container des klassisch analytischen Settings überfordert bei der Neuinszenierung und Aufarbeitung der vielschichtigen Traumatisierung von politisch in der Tiefenstruktur geschädigten Patienten. Das klassische Setting bedeutet einen zu engen Flaschenhals, durch den die dicken Brocken der dämonischen Instanzen nicht hindurchpassen und also nicht vergoren werden können. Zwangsläufig werden sie dann entweder auf eine verstümmelnde und umdefinierende Weise zerkleinert, oder ausgeblendet, oder sie führen zu Desorientierung, Unterwerfung unter flach vereinfachende Theorien, oder aber, und hier behalten die Mitscherlichs auf eine unerwartete und paradoxe Weise recht mit ihrer Hauptthese aus der "Unfähigkeit zu trauern" (1967): sie werden auf der Couch erneut und vielleicht endgültig entwirklicht. Dadurch wären sie aber für immer auf unterirdischen und unzugänglichen Deponien gelagert und würde schwelende Energie- und Konlifktherde bilden für alle möglichen Formen ablenkenden oder destruktiven Agierens. Damit würde aber auch Brechts These aus dem "Unaufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui" eine psychologische Wahrheit behalten: "Der Schoß, aus dem dies kroch, ist fruchtbar noch."

Lassen Sie mich deshalb Rolle und Funktion des Therapeuten im Setting einer tiefenpsychologisch wirksamen "Bewältigung der Vergangenheit" zusammenfassen:

1) Angst, Spaltung und Desorientierung vor den dämonischen und dämonisierten politisch-seelischen Instanzen sind so groß, dass sie einer Position des Analytikers außerhalb der Übertragungs-verstrickung bedürfen. Dies macht eine dem Patienten erläuterte Neubestimmung der Rolle des Therapeuten notwendig.

2) Zu dieser Neubestimmung der Rolle gehört ein mit dem Patienten geteiltes politisch-historisches Bewusstsein und eine gemeinsame Haltung des Forschens gegenüber einer Vergangenheit. Sie enthält dann nicht mehr nur eine Eltern- und eine Kindrolle als Grundmuster des Arrangements, sondern einen gewissen Grad von (vielleicht geschwisterlicher) oder zeitgenössischer Solidarität im Hinblick auf etwas Drittes, nämlich die Wirkungen der NS- oder der stalinistischen Diktatur. Diese nur in den Übertragungsraum zwischen zwei Peronen bringen zu wollen, reduziert den therapeutischen Raum auf eine falsche Zweidimensionalität, und damit auch auf eine falsche Zweipoligkeit des Dialogs.

3) Die Bezogenheit beider Partner auf eine mehr oder weniger gemeinsame entsetzliche Geschichte, vor der sich in der Folge Eltern und Großeltern versuchten, im Schweigen unkenntlich zu machen, muss erhalten und sichtbar bleiben. Natürlich ist dies im herkömmlichen Setting durch Erklärungen und die wiederholte Charakterisierung des historisch-psychischen Raumes durch den Therapeuten in gewissem Umgang möglich. Aber nach meinen Nachforschungen über den Grad der Thematisierung der NS-Vergangenheit in Analysen und Lehranalysen unserer gegenwärtig aktiven Analytikergenerationen scheint mir das nicht der Fall gewesen zu sein. Also gibt es auch kaum lehrbare Traditionen des Umgangs mit diesem Thema.

4) Die Rolle des Analytikers im Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Psyche des Patienten ist die eines szenisch erfahrenen Begleiters, der die Angst des Patienten wie seiner Familie oder gar seines Volkes oder seiner sozialen Gruppe vor der Konfrontation mit diesen Instanzen kennt und sie in dosierter Inszenierung und angemessener Hilfestellung zu thematisieren weiß.

Den sichernden Rahmen des im weitesten Sinne psychodramatischen Settings bilden auch hier Erklärungen, Regiehilfen, Ermutigungen, Angstdosierung, Schutzmaßnahmen, die von körperlichem Halt oder räumlicher Nähe bis zu symbolischen Formen von Schutzmauern, Verstecken, Tarnkappen usw. gehen können.

Der Therapeut ist in eindeutigerer Form auch Lehrer: für die Seelengeschichte der Diktatur wie für die Variationen des Settings, die ein auf klassische Analyse eingestellter Patient nicht kennt. Der Vorteil des Settings ist aber auch die Umkehrungsmöglichkeit der Rollen bei Bedarf: wenn der Analytiker den Rahmen des affektiven Forschens vorgegeben hat, kann der Patient sich hinsichtlich von Form und Inhalt der Szenen als wissender erweisen als der Therapeut, nicht nur, was politisch-psychologische Fakten angeht, sondern auch hinsichtlich der unendlichen Auffächerungen historischer Angstsituationen wie famliär-ideologischer Erlebens. Dies mag für flexible Analytiker eine Selbstverständlichkeit bedeuten. Die Variation des Settings betont aber ausdrücklich die Eigenkompetenz des Patienten und schafft ihr im Setting gebührenden Raum.

5) Die affektive Beziehung zwischen Therapeut und Patient verändert sich. Sie erfährt eine Anreicherung an gemeinsamer Realität, an Sichtbarkeit des Therapeuten, an Solidarität. Es findet eine szenische Triangulierung statt, die als dritten Pol die Geschichte bietet wie die Schwierigkeiten, ihr gemeinsam auf die Spur zu kommen. Der Raum der reinen Übertragung verengt sich. Dies mag man als einen Verlust betrachten, dem aber auf der anderen Seite beträchtliche Gewinne gegenüberstehen.

6) Alle personalen Übertragungen, die der Dimension und den Gesetzen der Eltern-Kind-Rollen unterliegen, bleiben aber erhalten und können in unterscheidbaren Phasen auch analysespezifisch aufgenommen werden. Um es noch einmal am innerfamiliären Modell zu illustrieren: Vater und heranwachsendes Kind gehen gemeinsam in einen zeitgeschichtlichen Film, beispielsweise den Spielberg-Film "Schindlers Liste". Der Vater gibt angesichts des erschreckenden Geschehens Erklärungen und hilft bei der affektiven Begegnung mit den Gestalten auf der Bühne. Später, wieder zuhause, spielen sich zwischen den beiden durchaus wieder die alltäglichen Konflikte ab. Selbstverständlich gibt es zwischen diesen beiden hier idealtypisch auseinandergezogenen Modellen des Setting, nämlich Übertragung und ­Inszenierung, viele gleitende Übergänge. Temperament, Ausbildung und spezifische Kreativität des Analytikers, seine "persönliche Gleichung" wie sein Wissensstand bilden notwendigerweise von seiner Seite die Grundlagen des Drehbuches für jede individuelle Therapie, die auf das Thema der inneren Monster aus dem Raum der Geschichte stößt.

7) Um die explorative Funktion des gemeinsam zu findenden Drehbuchs der Inszenierungen zu verdeutlichen, füge ich einige Beispiele hinzu. Der Patient kann mit seinen Eltern oder Großeltern sprechen. Er kann zu Personen oder Instanzen sprechen wie Hitler, einem Gauleiter, Parteisekretär oder anderen Figuren, die für die Eltern, aber auch noch für die NS- und Kriegskinder bedrohlich waren. Es kann hilfreich sein, die Relation der Eltern zu diesen Instanzen zu inszenieren, die auch abstrakter sein können wie "die Partei", Gestapo oder Stasi, der "Feind", der Krieg, die Bomber, die Vertreibenden, die Vergewaltiger, usw.

8) Im kleinfamilialen Übertragungsmodell kommt es, neben den Aublendungen, zumn folgender Umkehrung: durch die Ausblendung der terroristischen Instanzen neigt der Patient dazu, die Eltern vorwiegend für seine Behinderungen verantwortlich zu machen, und die kleinfamilialen Deutungen verstärken diese Tendenz. Der Analytiker kann sie zwar mildern durch vorsichtige Konfrontationen nach dem Muster "Bedenken Sie einmal, was Ihre Eltern zu erleiden hatten, oder wie es Ihren Eltern zumute war", aber die Tendenz zur Elternverantwortlichkeit scheint dem Setting fast immanent, so, als hätten sie die Welt ganz nach ihrem Willen und ihrer Willkür eingerichtet und überließen sich mit Lust ihren Charaktermängeln. Die Woge der Mütterbeschuldigung, längst mit dem Fachausdruck mother-hunting belegt, ist mir nicht anders zu erklären als aus der Verschiebung des historischen Leids in die Verantwortung der Mütter (und natürlich auch der Väter).

9) Meist in einem späteren Stadium einer Therapie weise ich ältere Patienten darauf hin, dass unsere Arbeit nicht nur Umgang mit einer individuellen Neurose bedeutet, sondern dass sich in ihr auch die deutsche Gschichte mit all ihren Lasten und Schrecken, aber auch Chancen eingenistet hat. Dann weitet sich plötzlich der Blick. Die meisten nehmen, wenn wir die Spuren der Geschichte durch die Generationen verfolgen, den Gedanken dankbar, manchmal freilich auch mit Zorn auf, dass wir ein kleines Stück Aufarbeitung von Geschichte geleistet haben, und dass ein Stück überindividueles Verhängnis und vielleicht Schuld abgetragen wurde. Sie übernehmen ihre Neurose als ihren Teil der politischen Katastrophen des 20ten Jahrhunderts, die aber weit zurückreicht ins 19te.

10) Konkreter möchte ich Ihnen ein Beispiel vor Augen führen aus einer von mir geleiteten Supervisionsitzung in einer gemischten Gruppe von ost- und westdeutschen Therapeuten. Das Thema war die Beunruhigung eines erfahrenen Analytikers über den unerwarteen Abbruch eine gerade eingeleiteten Therapie mit einem vom seelischen Zusammenbruch bedrohten ostdeutschen Ingenieuer drei Jahre nach der Wende. Dabei wurde deutlich, dass der Abbruch mit der unbewusst vorausgeahnten kumulativ negativen Übertragungskonfusion zusammenhing, die in einem konventionellen Setting zu erwarten war. Ich greife dabei nur die Dimensionen der Vaterübertragung auf dem Hintergrund von politisch induzierten biographischen Lebensphasen heraus. An der Inszenierung waren in den verschiedenen Rollen fünfzehn Personen beteiligt. Die Rolle der Mutter veränderte sich ebenfalls rapide je nach dem politisch-juristisch-historischen Aggregatzustand des Vaters. Der Patient wurde in der Gruppenszene konfrontiert mit mehreren Dimensionen seines Vaters: der abwesende, idealisierte Soldat an der russischen Front, der mit konkreten Fragmenten eines blonder NS-Draufgängers aus kurzen Urlaubstagen vermischt war. Dann der gebrochen heimgekehrte Kriegsgefangene, der sich in der DDR mühsam eine Existenz aufbaute. Danach der wegen eines politischen Delikts verhaftete und verurteilte Vater, der einige Jahre im Zuchthaus saß. Und schließlich der aus dem Zuchthaus entlassene Vater, gebrochen und verbittert und totkrank, der noch ein Jahr in der Famile gepflegt wurde. Alle Phasen sind mit massiven Veränderungen des sozialen Umfelds und veränderter Einbettung, bzw. Isolierung in der Gesellschaft verbunden, zum Teil mit Wohnungswechsel und Wechsel der ökonomischen Verhältnisse. Zwischen allen Zuständen gibt es natürlich die seelischen Konvulsionen der politisch erzwungenen Übergänge.

Der Patient (der Analytiker spielte seinen Patienten) erlebte mit heftigen Gefühlen) diese divergierenden Fragmente des Vater- Mutter und Famlienbildes, die ebenfalls inszenierten Reaktionen der Mutter wie der Geschwister auf diese Brüche. Die Interaktionen zwischen allen Beteiligten waren so stark, dass die Gruppe nur schwer aus dem Spiel wieder herauszuholen war. Alle Kollegen hatten das Gefühl, ein Panorama erlebt zu haben, dessen angemessenes Bearbeiten in der Übertragung mit einer einzigen Person nahezu unmöglich erschien. Die Übertragungskonstellation würde zu kaum zu integrierenden Dissoziationen führen, andererseits zu den oben erwähnten Beschuldigungen. Dieser Gefahr war die Mutter bereits im realen Leben erlegen, als sie den aus den verschiedensten Gründen abwesenden oder kranken Vater vor den Kindern für ihr verpfuschtes Leben verantwortlich zu machen neigte. Die politischen Instanzen, deren seelische Schäden im Familienuntergrund weiter ihr zerstörerisches Unwesen trieben, blieben von den Gefühlen, die mit ihnen verknüpft waren, unbehelligt.

Deshalb:

These IV: Eine Psychoanalyse, die diese dämonischen Instanzen nicht thematisiert oder noch besser inszeniert, verrät das Individuum an eine undurchschaute Politik und neigt zur personalisierenden Beschuldigung der Eltern oder zur einer monokausalen oder zu wenig vieldimensionalen Ursachentheorie heutiger seelischer Störungen.
Die Inszenierung als Paradigmenwechsel

Aufgrund dieser Öffnung einer dritten Dimension, nämlich die der Geschichte, die sich für unzählige Menschen meldet in Form terrorisierender Instanzen, und ihrer technisch-therapeutische Einbeziehung in den Behandlungsprozeß, neige ich dazu, dieser Veränderung des Settings das Gewicht eines Paradigmenwechsels beizumessen, noch eher als der Einbeziehung des Körpers in die Psychoanalyse. Und dies, obwohl die Infragestellung der Triebtheorie und ihrer behandlungstechnischen Folgen von Abstinenz, Nicht-Berührung, Verwörterung, Universalität der Übertragung und des Widerstandes, die Orthodoxie viel massiver herauszufordern scheinen. Die kleinfamiliale Dramenwelt mit der reduzierten Komplexität des Dreipersonen-Ödipus, im besten Fall um ein paar Geschwisterprobleme bereichert, Liebe und Hass, Begehren und Drohung, Angst und Eifersucht, das ist der gängige Kosmos der klassischen Psychoanalyse. Wo sie nach Vertiefung rief, wurde ihr die ebenfalls weitgehend ahistorische Mythen- und Märchenwelt an die Seite gestellt, die von Terror und Propagandass, Arbeitslosigkeit und Not, Massentaumel und Erlösung durch Revolution, Völkervernichtung und Kollektivschuld, aber auch von den Gegenprozessen der Entwirklichung und der Verleugnung wenig weiß. Erst die Rezeption des Werkes von Melanie Klein, auf die ich hier nicht eingehe, hat die Dimension der politischen Verrücktheit begrifflich fassbarer gemacht.

In Westdeutschland steht die Psychoanalyse am Übergang von der Behandlung der zweiten zur Behandlung der dritten Generation der NS-Opfer, -täter und -mitläufer. Bei vielen Patienten ist der historische Hintergrund ihrer Störungen nahezu unkenntlich geworden, wenn man sich nicht sensibilisert für die unterirdische Traditionen der Destruktivität. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks wurde das Thema in Ostdeutschland auf ungeahnte Weise aktualisiert. Sehr viel gesichertes Wissen steht uns noch nicht zur Verfügung. Nur an einer gewissen Mitschuld der Psychoanalyse an der Ausblendung der Historie habe ich keinen Zweifel. Der Eid auf ein einziges Setting und die Dominanz der Übertragungsanalyse haben im politisch-therapeutischen Bereich zu einer Stagnation geführt, die ich beinahe als schuldhaft bezeichnen möchte. Allerdings mehren sich die Zeichen, dass die politisch-historische Dimension vieler Störungen wieder mehr ins Bewusstsein rückt.

 

1) Eckstaedt, Anita: Nationalsozialismus in der 'zweiten Generation'. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt 1989.

2) Zwiebel, Ralf: Der Schlaf des Psychoanalytikers. Die Müdigkeitsreaktion in der Gegenübertragung. Stuttgart 1992.

3) Kittel, Manfred: Die Legende von der 'Zeiten Schuld'. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer. Frankurt 1993.