Tilmann Moser

Über politisch induziertes Trauma

Vortrag von Tilmann Moser beim 3. internationalen Kongress für Pesso-Therapie vom 29. bis 31. August 1996 in Basel.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

über einige Probleme im therapeutischen Umgang mit politisch induziertem Trauma spreche ich am Beispiel eines Patienten aus meiner Praxis. Die Verbindung zur Pesso-Therapie möchte ich später herstellen anhand einer Diskussion mit Al Pesso über seine Erfahrungen mit Deutschen der 2. Generation nach Krieg und Holoccaust.

Ich möchte Ihnen über einen Patienten berichten, der sich nach zwei langen Psychoanalysen jetzt mit der traumatisierenden Tatsache beschäftigt, dass sein Vater Mitglied der SS war. Dieser war 1939-1941 in der Verwaltung der Krankenstation des Konzentrations-Lagers Sachsenhausen beschäftigt, später fast bis zum Kriegsende bei der SS-Verwaltung eines von den Deutschen besetzten osteuropäischen Landes. Es ist schwer vorstellbar, dass dieser Vater nicht viel wusste von den Verbrechen. Eher darf man annehmen, dass er an manchen Vorgängen beteiligt war: Verhöre, Deportationen, Erschießungen, oder mindestens deren verwaltungstechnischer Bearbeitung. Dies bleibt jedoch ungewiß. Im Tagebuch des Vaters und in seinen Briefen finden sich nur relativ belanglose Ereignisse, während über alle politischen oder militärischen oder verfolgerischen Aktivitäten strikt geschwiegen wird. Der Sohn weiß fast nichts über seinen Vater aus der Zeit vor seiner Geburt. Denn er schwieg auch über sein vor seiner SS-Zeit liegendes Leben. Nur durch die Mutter weiß er, dass der Vater früher Cello und Trompete spielte. Als der Sohn später selbst Cello lernte, führte dies nicht zu einem emotionalen Band zwischen den beiden. Es war, als sei die frühere Identität des Vaters abgestorben. Er schien sich für die emotionale und intellektuelle Entwicklung des Sohnes nicht zu interessieren. Gefühle und Worte mit Gefühl wurden kaum ausgetauscht.

Der Vater fand nach Krieg und Gefangenschaft und mehrjähriger Gefangenschaft eine gehobene Stellung in einem privaten Betrieb. Die Familie wirkte nach außen vollkomen korrekt.

In seiner Lehranalyse war von dieser politischen Vegangenheit des Vaters nicht die Rede gewesen. In einer zweiten Analyse bei einem Kollegen, der sich mit dem NS-Thema intensiv auseinandergesetzt hatte, konnte Herr F. endlich darüber sprechen. Aber die traumatischen wie die verfolgerischen Aspekte durften nicht in die Übertragung kommen. Der Therapeut war endlich ein "guter" Vater, der sich für eine Idealisierung eignete. Über das Böse wurde nur gesprochen, es trat kaum in der Übertragung auf. Vielleicht ist der Raum von Übertragung und Gegenübertragung überhaupt nur wenig geeignet, die terroristischen Dimensionen der NS-Zeit zu bearbeiten. dassich in dieser dritten Therapie des Patienten nicht abwarten wollte, bis bei mir sich auch die destruktiven politischen Traumata in Form von Übertragung zeigen, arbeitete ich viel mit Rollenspiel und Elementen von Pesso- und Gestalt-Therapie.

Dieser Patient macht sich auf die Suche nach seinem realen Vater, weil er auch die abgründigen Seiten kennenlernen und verstehen will. Auf dieser Suche fährt er eines Tages auch in das KZ Sachsenhausen. Zuvor aber besucht er auf der Reise seine Cousine, die er lange nicht gesehen hat, weil zwischen den Familien der Brüder kaum Kontakte stattfanden, aufgrund von Verdächtigungen, die ebenfalls mit der NS-Zeit zusammenhängen. Er erfährt zu seinem Schrecken, dass die Cousine Krebs in einem späten Stadium hat, was sie aber nicht einmal ihrem Mann mitgeteilt hatte. "Mein Vater ging nicht einmal zur Beerdigung seines Bruders. So viel Angst vor Gefühlen! Mir fiel plötzlich auf, wie still, wie beziehungslos, wie versunken im Schweigen dieser ganze Clan doch ist." (231)

Um Ihnen etwas von der Traumatisierung und der tief missglückten Vaterbeziehung des Patienten zu zeigen, gebe ich Ihnen einen Ausschnitt aus dem Protokoll einer Stunde, das in voller Länge in meinem Buch "Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie" (Frankfurt 1996) abgedruckt ist.

Texteile aus Kap. VIII, Patient

In der Rolle eines idealen Vaters kann ich ihm körperlichen Halt geben beim Weinen, und ihm sagen, dass ich mit ihm geredet hätte. Als er einmal eine ganze Stunde lang meine Hand hält und mir immer wieder in die Augen schaut, sagt er einige Wochen später: Das wäre bei meinem Vater undenkbar gewesen. Und ich war in Gefahr, dass Handhalten für unmännlich zu halten und mich zu schämen, dass ich so etwas brauche.

Ein Gespräch mit Al Pesso (März 1996)

Diesen kurzen Bericht möchte ich nun verknüpfen mit einem Gespräch mit Al Pesso. Er sprach über seine Erfahrungen zum NS-Thema mit deutschen Teilnehmern an seinen Seminaren. Ich fasse summarisch zusammen:

Viele Deutschen haben Mühe, neben Reinheit und Idealismus auch Unreinheit und Bipolarität zuzulassen. Inbegriff des Unreinen wurden die Juden. Außerdem herrscht eine extreme Geschlechterdifferenz. Ist der Vater krank, schwach oder abwesend, so verschärft sich das Thema der Macht. Macht kann verherrlicht werden bis zu Todesnähe, während die Omnipotenzgefühle abgespalten bleiben und nicht integriert werden. Höchstens werden sie ins Gegenteil verkehrt, durch Identifizierung mit den schwachen Opfern. Nach dem Krieg sind eine Reihe von Therapeuten in die Schweiz gezogen, vielleicht mit dem Ziel einer Desidentifizierung mit ihren Familien oder mit Deutschland. Vielleicht ging es darum, sich sogar von den eigenen Wurzeln abzuschneiden.

Entsprechend dem Identifizierungsverbot mit NS-Vätern kommt es zu größen Beträgen von nicht ausgedrückter Liebe. Der Wunsch nach Teilhabe an ihrer früheren, wie an aller Macht, muss verhüllt bleiben. Die Seele bleibt aufgespalten in ihr Bedürfnis nach Bewunderung der Väter, und dem unvermeidlichen Eintauchen in Schuld bei diesem Verlangen. Eine Lösung war Verleugnung der Zugehörigkeit zu den NS-Eltern, die Suche nach einer ganz konträren Identität.

Sensibilität und Verletzbarkeit werden leicht der Sphäre des Unreinen zugerechnet. Das Zurückhalten von primitiver Aggressivität verbraucht viel Energie; deshalb kommt es manchmal zu einer Ästhetisierung der Unterwerfung, zu einer heimlichen, verborgenen Begeisterung für Macht. Bei Frauen kommt es zur Ausbildung eines magischen Vaters in sich, der alle Männer ihrer eigenen Generation an Macht überragt, besonders dann, wenn er im Krieg oder lange in Gefangenschaft geblieben ist.

Ist der zurückkehrende Vater dann brutal, so bietet sich eine Identifizierung mit den Opfern an, die Kinder fühlen sich als die Juden ihrer Eltern, oder es kommt zu einer regressiven Bindung an die Großeltern, vor denen die Eltern selbst als unzureichend, zu brutal, zu schwach oder zu schuldig erscheinen. Auch werden Spuren eines geleisteten oder behaupteten politischen Widerstandes idealisiert und ausgebaut, um doch noch von "positiven Helden" abzustammen. Ein beliebter Mythos der Rettung der Achtung ist: der Vater oder die Eltern haben Verfolgten geholfen oder Juden gerettet.

Al Pesso spricht wiederholt - angesichts der Schwierigkeit, diese Konflikte seelisch zu strukturieren - von somatisierter Panik und von Angstattacken, die als Strafe für die heimliche Bewunderung der tödlichen Macht der Nazis angesehen werden können. dasses in den Familien keine Gespräche über die Seelengeschichte der Eltern gab, kommt es nicht zu einfühlender Nähe oder zu einer partiellen realistischen Distanzierung von den Eltern. Die phantasierten Fragmente von Macht, mit denen es zu einer unbewussten Identifizierung kommt, können nicht angemessen limitiert werden, weil sich alles außerhalb des eigenen wie des öffentlichen Bewusstseins abspielen muss. Unintegrierte Machtfaszination flottiert also in der Seele, und daneben die Angst vor extremer Schwäche, die Al den terror of receptivity nent. Die extreme Verwundbarkeit hinter dem Machtpanzer kann nur als Heldentod phantasiert werden; dort ist der Mann penetrated by death.

Die Dreiheit von Liebe, Autonomie und seelische Offenheit (openness), die in der psychmotorischen Therapie als menschliches Ideal angestrebt wird, ist umgewandelt in eine Verstrickung von feeding, fucking and killing.

Die Frau wurde einerseits idealisiert, andererseits sozial entwertet, bis in die Kriegszeit, wo sie in der Industrie und Landwirtschaft gebraucht wurde. Ihre einseitige Bewertung als Gebärerin, die Dominanz der Männer, die überwältigend zahlreichen "phallischen Zeichen", von den Türmen bis zur Pickelhaube, den Säulen wie der steilaufgerichteten Heldenkörpern, ließen den NS-Müttern als Ausweg oft nur, die Söhne als Selbstobjekte in Form von protuberances zu behalten: also sich mit ihrem Kampfwert und ihrem Fanatismus zu identifizieren anstatt mit ihrer eigenen Individualität.

Dies führt zu der Schwierigkeit, für deutsche Angehörige der zweiten Generation mit NS-verstrickten Eltern überhaupt ideale Eltern zu wählen. Am Beispiel einer Struktur mit einem deutschen Teilnehmer kommt Al auf die dringende Bitte des Klienten zu sprechen, auf keinen Fall "deutsche ideale Eltern" zu wählen.

Aber Al besteht gerade darauf, der eigenen Abkunft nicht zu entfliehen. Die jüdische Analytikerin Anna Maria Jokl, die wenige Jahre nach dem Krieg in Berlin sowohl Opfer- wie Täterkinder behandelte, kommt zu dem Schluss, dass die Lücke, die die kompromitierten Väter und Mütter hinterlassen haben, durch unzerstörbare Inhalte von deutscher Kultur aufgefüllt werden sollte; teilweise durch einen Rückgriff auf die Großväter, teilweise durch einen psychischen AnSchluss an die posotiven kulturellen Werte der Väter, die diese verraten haben, also eine die Väter überragende Welt des Geistigen.

Al Pesso besteht darauf, dass die idealen Eltern eines deutschen "negativen Nationalisten" eben Deutsche sind, die trotz der NS-Bedrohung den Zugang zu den kulturellen Werten nicht verloren haben.

Er schildert als Beispiel einer somatisierten Panik die initiale Geste eines deutschen Pädagogen in einer Struktur. Sein Vater war ein höherer Nazi-Funktionär und kam erst nach einigen Jahren Gefangenschaft nachhause. Der Protagonist Fred Sagt: er wollte Vorbild für eine neue Jugend sein, konte aber selbst nicht recht erwachsen werden. Er fühlt eine tiefe, schmerzhafte Leere in der Brust zu Beginn der Struktur, betont: "Ich musste immer mein eigener Vater sein." Er konnte sich weder identifizieren, noch gegen ihn kämpfen. Er beneidete Mitschüler, die in den letzteen Kriegsjahren lieber wegrannten als den Arm zum Hitler-Gruß zu heben. Deshalb verachtet er sich auch, will gar kein Deutscher mehr sein, idealisiert das als "negativen Idealismus".

Während dieser Sätze greift er wie blind suchend mit den Händen in die Luft, dann formt er mit den Händen einen Hohlraum. Al deutet es als Geste der Sehnsucht und von receptivity. Es stellte sich später heraus, dass die Geste die hoffnungslose Suche des Patienten nach "guten", als nicht durch NS-Gewalt verdorbenen Eltern repräsentierte. Aber die Geste ahnt noch nichts von der Suche nach idealen Eltern. Das Bewusstsein lehnt die realen Eltern als Vorbild ab; dassdie kindliche Seele trotzdem nach ihnen sucht und sich festhalten will, entsteht immer von neuen Schuldgefühl und auch Scham über die Unreinheit der eigenen Abstammung. Sie bestimmt auch das zum Extremismus neigende politische Engagement des Patienten.

Er presst im weiteren Verlauf die Finger beider Hände gegen das Brustbein (sternum). Al verweist auf die Rolle des Vaters bei der Internalisierung von Identität und Werten über die Brust. Fred berichtet über eine Erwärmung der Burst. Al fürchtet jedoch, dass dies auf der intensiven Übertragungsbeziehung zu Al beruht, und er wäre als idealer Vater sowohl Amerikaner wie Jude. Es würde also die latente Panik, nicht Deutscher sein zu können, nicht mildern.

Al läßt ihn einen "deutschen" idealen Vater wählen, stellt den "mächtigen Nazi-Teil" des Vaters ebenfalls als Kissen auf. Fred äußert sofort: "Ich kann kein erwachsener und ernsthafter Mann werden, wegen ihm, dem Nazi-Vater."

Als eine Zeugenfigur sagt: "Ich sehe, wie beschämt du warst, als du nicht vor dem Hitler-Gruß weggelaufen bist", entsteht keuz eine Art Schickzustand und ein trauriges Weinen. Später berichtet er, als Kind und Jugendlicher habe er sich nur stark fühlen können mit der heimlichen Phantasie, eine Uniform zu tragen, orientiert am Heldenbild des Vaters vor dem Zusammenbruch des Dritten Reichs.

Es beginnt nur die Suche nach einem idealen Vater, der Fred nicht zu einer Fragmentierung oder zu einem Verlust der eigenen Wurzeln als Deutscher zwingt. Obwohl Fred zu Beginn fast flehend um einen nicht-deutschen idealen Vater bat, macht sich Al mit ihm auf die gemeinsame Suche.

Er darf kein Nazi sei, aber auch kein Emigrant, weil dies zu viel Schmerz durch Zerrissenheit mit sich brächte. Auch ein Held des Widerstands scheint bedrohlich, angesichts von Todesnähe und späterer Glorifizierung, die ebenfalls zu schwierigen Biographien geführt hat. Bei dieser schwierigen Suche sagt Fred resigniert: "Ich finde keinen Ort mehr, um Deutscher zu sein." ABer er hatte vorher betont, wieviel ihm die Literatur der deutschen Aufklärung und Klassik bedeuten.

Al schlägt schließlich als idealen Vater vor: einen Deutschen, der diese Ideale in sich bewahrt hat und sie nicht verriet. "Sonst bleibst du ein Baum, der entwurzelt auf einem Fluß treibt", womit er eine Formulierung von Fred aufgreift.

Als dieser Vater ihm die Hand auf die Brust legt und versichert, dass er die Ideal von Aufklärung und Klassik in sich bewahrt hat, ohne sie zu verraten, kommt ein tiefes Weinen. Der ideale Vater und seine Erweiterung (extension) halten die Hände auf der Brust und limitieren gleichzeitig sein Fäuste, die Fred in archaischer Aggression nach vorne recken will.

Damit endet die Struktur.

Hier zeigt sich ein quasi politische Grenze des Konstrukts der idealen Eltern: sie sollen ursprünglich eine ideale Konstruktion sein, die nichts mit dem Bild der realen Eltern zu tun haben. Wo aber die Realität der eigenen Eltern durch eine kollektive Ideologie wie durch kollektives Verbrechen, also über ihre individullen Mängel hinweg, gezeichnet sind, darf doch der Raum der Geschichte nicht verlassen werden. Die idealen Eltern müssen hier eine Konstruktion innerhalb des historischen Rahmens darstellen, in dem das Kind aufgewachsen ist. Sie repräsentieren das fehlende Gute, das dem Patienten am meisten Gefelht hat, auf dem Fundament einer nationalen Identität mit spezifischen kulturellen und ehtischen Kategorien.

Dies scheint mir eine ganz tiefe Antwort auf den ahistorischen Charakter so vieler aus den USA importierter Therapieformen, die von der geschichtlichen Wirklichkeit abgelöst erscheinen. Deshalb hat die Übernahme dieser Therapieformen die Deutschen auch lange davor bewahrt, die NS-Wirklichkeit und ihre Folgen kollektiven Unbewussten wie in der individuellen Therapie deutlicher zu erkennen. Die Wirkung war ähnlich wie in der klassischen Psychoanalyse, deren Standards nach 1945 wiederum aus dem Ausland übernomen werden mussten: die NS-Zeit blieb weitgehend ausgeblendet, und erst über den langen Weg der Opfer-Forschung können heute auch die Biographien von Täter-Kindern ohne Verdacht der Schuldminderung diagnostiziert und therapiert werden.

Vielleicht hat sogar die Tatsache, dass Al Pesso Jude ist, dazu beigetragen, dass er selbst lange gezögert hat, diese Fakten zu entdecken und zu benennen. Es hätte vielleicht ein großes Stück missionarischen Hasses dazugehört, die Deutschen, die sich ihm anvertrauten, auf ihre ideologische und politische Erbschaft hinzuweisen. Aber die Pessos kamen, wie mir scheint, nach einigem Zögern ohne Haß nach Deutschland, nachdem sie sich in der deutschsprachigen Schweiz auch deutschen Teilnehmern allmählich angenähert hatten. Auf jeden Fall habe ich in gemischten deutsch-schweizerischen Gruppen mit Pesso die tiefsten Eindrücke von der Jahrzehnte überdauernde Wirkung von Gewalt- und Kriegstraumata bekommen. Für diese Hilfe, den Blick nicht mehr abzuwenden von den politisch induzierten Traumen bin ich ihm oder ihnen beiden sehr dankbar. Ich brauchte etwas von ihrem Mut, auf die oft auch körperlichen Zeichen der wahren Szene zu achten, um vor dem Ausmaß des verborgenen Elends in den deutschen Patienten meines Alters nicht mehr die Augen zu verschließen.