Tilmann Moser

Übertragung und Gegenübertragung in der psychoanalytischen Körperpsychotherapie

Vortrag von Tilmann Moser bei der Wissenschaftlichen Arbeitstagung der AFA "Der eigene und der fremde Körper" vom 29. bis 31. Oktober 1994 in Wiesbaden.

Meine Damen und Herren, liebe Kollegen,

lassen Sie mich von einem Stück Selbsterfahrung mit Atemsitzungen, meinem langsamen Verstehen der Differenz von Atempädagogik und Atemtherapie ausgehen, und von einigen Beobachtungen über Orthodoxie und integratives Verstehen und Handeln in der Therapie.

Ich verdanke sehr viele Einsichten einer jahrelangen Zusamenarbeit in Intervision und Diskussion von schwierigen Patienten einem Ihrer Kollegen, der heute nicht hier sein kann: Stefan Bischof. Es begann mit einer Reihe von Atemsitzungen bei ihm, die wir in angespannter Atmosphäre und wechselseitiger Enttäuschung beendet haben. Er hat sehr konzentriert mit mir gearbeitet. Doch ich hatte das Gefühl, ich solle Schularbeiten des Spürens machen und mich nach einer bestimmten Theorie und bestimmten Erwartungen entfalten. Mein Erleben im Körper stimmte nicht überein mit meinen Gefühlen in der Beziehung. Ich erlebte ihn unter Demonstrationsdruck und mich in bockiger Verweigerung, aber auch in Not. Ich konnte mich seinen Händen nicht überlassen: die körperliche Prüderie meiner Familie war plötzlich im Raum, die Dissoziation zwischen Körper und seelischem Innenraum, also eine Familienübertragung, und daneben eine Übertragung auf einen jüngeren Bruder, dem ich mich anvertrauen oder mich ausliefern sollte, und der mir etwas beweisen wollte.

Nun mögen Sie sagen, dass Beweisdruck ohnehin keine gute Basis bildet, aber weder Therapeut noch Patient können sich die Grundübertragungen aussuchen, in die sie geraten. Der Einwand, der Freund habe keine "gute" Atemarbeit mit mir gemacht trägt nicht: es war verabredet, dass wir ohne viel Vorgespräch zur Berührung übergehen. Rückblickend meine ich: wir sind zielstrebig auf einen der schwierigsten Punkte zugesteuert und haben unter Schmerzen viel gelernt.

Wie viele charismatischen Persönlichkeiten, die eine geniale Intuition in seelische Prozesse ihrer Klienten haben, scheint auch Ilso Middendorf, in Abgrenzung von der Psychoanalyse, ihre eigene Einbettung der Vorgänge in das Unbewußte beider Partner postuliert und vielleicht gelehrt zu haben. Auf jeden Fall gehört die Wahrnehmung von Übertragung und Gegenübertragung als erlebte und reflektierte und gezielt angewendete Dimension nicht zur klassischen Atempädagogik. Die Phänomene existieren zwar, aber sie scheinen mir aufgehoben in der Aura der großen Mutter, die über die seelischen Geheimnisse ihrer Wirk-mächtigkeit nicht zu sprechen braucht. Das Vertrauen in die Ausstrahlung, die Regression des Klienten, die energetischen Veränderungen in einem tragenden Setting scheinen ausreichend als Beschreibung der Vorgänge. Der Atempädagoge wäre ein also Katalysator für die von ihm ausgelösten Prozesse, die der Klient in eigener Regie weiter einüben kann.

Dass Sie nun das Übertragungsthema gleich in mehreren Vorträgen auf dieser Tagung angehen, scheint mir, dass das Problem sichtbar und diskussionsfähig geworden ist, wie in anderen körpertherapeutischen Schulen auch. Exemplarisch habe ich das Problem anhand der Biodynamik von GerdassBoyesen diskutiert in dem Taschenbuch "Vorsicht Berührung" unter dem Thema "Was sollte die Körpertherapie von der Psychoanalyse lernen?" Es ist selbstverständlich, dass mir die umgekehrte Richtung des Lernens voneinander als genauso wichtig erscheint. Aber ich weiß auch, dass schon der Begriff "Körpertherapie" für manche von Ihnen ein Reizwort ist. Doch die Übergänge sind fließend, und oft genug wird ja Atemarbeit interdisziplinär - etwa in Kliniken - bereits als wichtiger Teil einer integrativen Arbeit angewandt, und auch in der Ambulanz wird das Modell der Kooperation zunehmend wichtig.

Nun verfolge ich in allen körpertherapeutischen Schulen, die kennenzulernen ich durch solche Vorträge Gelegenheit habe, den Kampf zwischen Treue zum Gründer, Methodenreinheit, und den individuellen Weiterentwicklungen durch begabte Schüler, die andere Erkenntnisse und innere Schritte in die einmal gelernte Methode zu integrieren versuchen. Es wird Sie nicht wundern, dass ich, meiner eigenen therapeutische Biographie nach, auf der Seite der methodischen Flexibilität und der Priorität der individuellen Entfaltung, des menschlichen und behandlungs-technischen Wachstums von Therapeuten stehe, und nicht auf der Seite schulspezifischer Abgrenzung und den überall zu leistenden Eiden auf die fundamentalen Glaubenssätze.

Deshalb gehe ich davon aus, dass ein so potentes Instrument wie der geschulte Umgang mit dem Atem die Basis für eine Fülle von Haltungen sein kann, die von reinem Üben bis hin zu einer Identität als Therapeut gehen kann, der den Umgang mit dem Atem als einen Zugang zu unbewußten Verspannungen und Einengungen wählen kann, vielleicht den primären, aber doch einen, der nicht zum Monopol werden soll, und der die gezielt eingesetzte Beziehung mitenthält.

Dies beruht auf meiner leidvoll erworbenen Erkenntnis, dass Eingriffe von solch intimer Intensität, wie es das helfende Berühren beim Atmen darstellt, in der Regel zu massiven Übertragungen führen, ob sie nun wahrgenommen und genutzt werden oder nicht. Es wäre gefährlich, wenn diese Übertragungen und Gegenübertragung sich weitgehend undurchschaut durch die gemeinsame Arbeit zögen. In vielen Fällen mag das zu Verstrickung, Erschwerung oder Abbruch führen. dassich eine eigene therapeutische Selbsterfahrung beim nahen pädagogischen, beraterischen und therapeutischen Umgang mit Menschen für wünschenswert, wenn nicht für erforderlich halte, dürfte es also vermehrt in naher Zukunft zu inneren Rollenspannungen - von den kassenrerchtlichen Fragen ganz abgesehen - kommen, weil das Bedürfnis nach kohärenter Identität für den Einzelnen oft stärker ist als die reine Anwendung einer Methode ohne Einbeziehung seiner eigenen Gefühle und Bilder wie der des Klienten.

Zum Ausgang meiner kurzen Überlegungen möchte ich deshalb das genial gewählte Umschlagsbild "Georgette" Ihres Programms von Magritte nehmen, den ich sehr schätze, weil er Grundformen menschlicher Beziehungen oder Nicht-Beziehungen gestaltet, die zum Rätselhaften, Absurden oder Unheimlichen tendieren. In diesem Bild scheint nicht nur eine tiefe Abwesenheit thematisiert, vermutlich die der unsichtbaren Frau "Georgette". Aber diese Abwesenheit führt zu einem Verlust der Beziehung nicht nur zu einem erkennbaren oder ansprechbaren Gegenüber, sondern auch zum Verlust des eigenen Selbst oder dem des eigenen Spiegelbildes. Damit stehen wir vor einen vielfachen Antwortlosigkeit, die durchaus auch eine religiöse Dimension zu enthalten scheint. Wir finden, um es psychopathologisch auszudrücken, einen Autisten vor, der nur noch seinen eigenen Rücken sieht und der außer der Verdoppelung seiner Einsamkeit und seiner Sehnsucht und einem leeren Raum vor ihm mnichts mehr wahrnimmt. Das Bild wirkt so stark, dass auch der Betrachter in den Sog dieser Leere hineingerissen wird. Allerdings spricht nichts dafür, dass der Mann auch die Empfindung für seinen Körper verloren haben könnte. Aber zumindest ist der Körper nicht mehr zu einem anderen beseelten Körper in Beziehung gesetzt.

Nun könnten wir uns vorstellen, der Mann käme wegen unangenehmer Verspannungen und Einengungen an seinem Büroarbeitsplatz zum Atemlehrer oder -therapeuten. Das Thema einer Relation zu einem Anderen stünde sofort im Vordergrund, auch wenn die hinspürende Zuwendung zu Körper und Atem durchaus noch im - sehr vereinfacht angenommenen - Raum der Einpersonen-psychologie stattfände. Ich weiß, dass ich vereinfache: es geht um die Thematisierung der zwischenmenschlichen, oft unbewußten Vorgänge bei einer Beziehungsaufnahme, die viele Menschen im Zustand von Beziehungsverlust oder Beziehungsstörung oder- verhärtung antrifft. Entweder die Atempädagogik müßte in subtiler Diagnostik herausfinden, bei welchen Klienten Atemarbeit ohne Thematisierung der Übertragung möglich ist, und dann hat sie den Raum therapeutisch-klinischer Überlegungen bereits betreten; oder sie müßte ihre Arbeit im Geflecht der Übertragungen lokalisieren und diese berücksichtigen. Oder sie würde, durch befragende Probesitzungen, herausfinden, welcher Empfindungs- oder Fühl- oder Denktyp sich hinter einem Klienten verbirgt. Also: das klingt regelrecht nach einer Sackgasse, und für eine Reihe von Kollegen, so habe ich mir sagen lassen, sind die Verstrickungen mit einzelnen Klienten der Ausgangspunkt für eine eigene Therapie oder für andere Formen der zusätzlichen Fortbildung geworden.

Was die Pionniere intuitiv können, und was sie sich oft sogar zu thematisieren weigern, muss für die Schüler und neuen Lehrer thematisierbar und lehrbar gemacht werden, wenn sie nicht, sind sie erst einmal in oft einsamer Praxis, an unerwarteten Schwierigkeiten leiden sollen.

Doch zurück zu "Georgette" auf dem Programmtitel. Wer sich so verloren hat wie der Mann auf dem Bild: Wie findet der den Rückweg in menschliche Beziehungen, die den Atem als Kraftquelle und Zentrum des unbewußten Selbsterlebens einschließen. Im Umgang mit Kindern und in der zärtlichen oder sexuellen Begegnung ist die Wahrnehmung des oder das Lauschen auf den Atem des Anderen ein Moment besonderer Nähe. Was der dichterische Satz über Verschmelzung: "Ich teile mit Dir den Atem", über das Ausmaß von Nähe besagt, erfahre ich gerade wie ein Geschenk im Umgang mit meinem knapp zweijährigen Sohn. Er ist nur in ganz offenen, zutraulichen Situationen bereit, mit mir den Atem zu teilen: wenn wir getobt haben und gemeinsam ausruhen; wenn er oder wir nahe am Einschlafen sind und uns das Geräusch des Atmens der Nähe versichert; und wenn er in Furcht und Schrecken geweint hat und sich im Teilen des Atems von der Angst befreit, wenn sein stoßweiser und eingeschnürter Atem sich an meinem Rhythmus beruhigt. Über das Teilen des Atems in erwachsenen Situationen der Liebe brauche ich Ihnen nichts zu erzählen. Aber dies sind doch die äußersten Beziehungspole, zwischen denen das Erleben des Klienten und auch unser eigenes sich seinen Ort sucht während unserer Arbeit.

Ich überlasse mich einigen weiteren Einfällen über die möglichen Reaktionen des unbekannten Mannes auf unseren Vorschlag von Arbeit mit dem Atem. Obwohl mir seine Einsamkeit fast außerpsychologisch, sozusagen anthropologisch tief vorkommt und das Jackett auch seinen Atemraum einzuschnüren scheint, entsteht doch auch ein "interaktioneller" Eindruck: wir scheinen es mit der Beziehungs-Vermeidungs-Technik des schizoiden Menschen zu tun zu haben, der sich äußerlich oder noch mehr innerlich mit vertrauten Techniken des Rückzugs abwendet. Er ist dann von Wiederannäherungs-Angst umgeben, und zwar sowohl vor der Annäherung des Partners wie vor den eigenen Wünschen nach Nähe. dassim Hintergrund der Nähe-Angst des schizoiden Menschen, wie vor allem Alexander Lowen mit seiner bioenergetischen Analyse herausgearbeitet hat, Vernichtungsangst steckt, müssen wir also damit rechnen, dass unser Klient, den uns Magritte überwiesen hat, mit dieser Vernichtungangst in Beziehungen lebt. Wir wollen ihm aber mit einem recht intimen Beziehungsangebot helfen. Sie könnten seine Angst aber auch mit der klassischen psychoanalytischen Studie von Martin Riemann über die "Grundformen der Angst" zu deuten versuchen.

Mir ist nur schwer vorstellbar, mit diesem Menschen sofort und ohne vorausgehenden Aufbau einer emotionalen und diagnostischen Beziehung, den Raum des Atmens zu betreten. In der Psychoanalyse ist die Situation des Patienten auf der Couch, ohne Berührung, ja ohne Sicht des Therapeuten, und der eigenen Regresion ausgesetzt, immer wieder als ein Schock beschrieben worden, der viele Sicherungsmaßnahmen auslöst. Etwas ähnliches nehme ich an, wenn ein nicht geübter Patient rasch mit Berührung konfrontiert wird. Viele können diesen Schock gar nicht verarbeiten ohne die Techniken der Spaltung, des partiellen Rückzugs von der Körperoberfläche, ja einer Trennung von Spüren und Fühlen, oder von Fühlen, Spüren und Denken. Das ist Ihren geschulten Händen natürlich alles vertraut, und aus ihrem empathisch mitschwingenden Körper werden die richtigen Siganle kommen, die zu einer Angstminderung führen. Aber Sie sind eben auf Ihre Intution angewiesen, oder Sie erleben es in den Störungen der eigenen Arbeitsfähigkeit, wenn der Klient etwa zu viel Magrittischen Autismus und Angst mitbringt.

In vielen Diskussionen, die ich mit Stefan Bischof hatte, spielten immer wieder Patienten eine Rolle, bei denen das Spüren und Mitgehen mit der Atemarbeit zwar gelang, und die dennoch aus ihrer Spaltung nicht herausfanden: Sie teilen sozusagen den psychosomatischen Lebensraum auf und entwickeln einen Spür-Körper, obwohl sie sich nicht trauen, die eingefrorenen Affekte, die auch den Körper versteinern ließen, wieder zuzulassen. Die Folge ist eine Wirkungslosigkeit unserer Arbeit, die sich aber erst nach längerer Zeit bewußt benennen lässt, weil durch die partielle Kollusion des Patienten (Brav sein bei gleichzeitiger tiefer Angst, Widerstand, Erstarrung, Trotz oder Bockigkeit) wir lange den Eindruck des Erfolges haben. Die analoge Variante, auf die eher der Analytiker stößt, die die Kollusion im intellektuell-symbolischen oder sogar emotionalen Raum, die aber den Körper als lebendigen Raum abspaltet. Hier ist eine Beziehung zwar spürbar, aber sie schließt einen wichtigen anderen Bereich von Gefahr, nämlich Berührung aus. Das Gefühl der Störung oder Erfolglosigkeit meldet sich ebenfalls oft erst nach langer Zeit, und manchmal gelingt es erst in kollegialer Supervision, die Stagnation zu verstehen und zu lösen. Deshalb hier ein klares Bekenntnis zur wechselseitigen Supervision in kleinen Gruppen, vor allem auch über die engen Grenzen der eigenen Disziplin hinaus.

Aber überlassen wir uns noch einem anderen Einfall, den das Bild Magrittes zulässt, das macht ja seinen Reichtum aus: Ich kann, je nach eigener Stimmung, den Rücken des Mannes auch so erleben, als habe er sich in maßlosem Zorn abgewandt, sodass er ebenfalls mich, oder einen Partner, u n d sich selbst aus dem Blick verloren hätte. Wenn er sich spontan umdrehen würde, erschräken wir über sein von Haß entstelltes Gesicht, die mörderischen Augen, einen fast angehaltenen Atem. Nun kommt es häufig vor, dass Klienten in unbewußtem Zorn leben, ja sogar im Haß, auf Elternfiguren, auf Lehrer, Vorgesetzte, Partner. Sie müssen ihn nicht einmal unbedingt fühlen, deshalb sind sie ja gezwungen, rein körperliche Mechanismen der Hemmung und Einengung zu wählen. Aber ihre Wut - es könnte aber auch Verschmelzungssehnsucht, eine aufgestaute Verliebtheit und vieles mehr sein - sucht einen Partner, auf den sie diese Wut übertragen können, oder ihr Mißtrauen, und es müßten Heroen der Höflichkeit oder der Ab-Spaltung sein, wenn sie ihre Grundgefühle nicht bei dem Menschen anlagern würden, zu dem sie um Hilfe kommen. Hier wäre, wenn der bewußte oder unbewßte Haß stark wäre, das Fühlen auf der Beziehungsebene so dominant, dass das sogenannten Spüren davon ganz übeschattet ist. Was macht dann der Atemtherapeut mit einem Körper, der randvoll ist mit Gefühl, das aber vom Spüren und vom Atem abgeschnitten ist? Der Therapeut wird dann ganz im Raum der Affekte angesiedelt, und der Klient braucht wieder eine Spaltung oder eine Kollusion, um die Erwartungen des Therapeuten zu erraten und zu erfüllen.

Oder eine weitere Variante, die Magritte zulässt: der Mann hat sich extrem aufs Nachdenken konzentriert und blendet alles andere aus. Dann wäre nicht nur das Fühlen, sondern auch das Spüren stillgelegt, weil die Aufmerksamkeitsenergie ganz im Kopf gebunden ist. Nun könnte man ihm sagen, er möge sich auf die Hände des Therapeuten und seinen Atem sozusagen umkonzentrieren, aber dabei müßte er, was ängstigend ist, Phasen des inneren Zerfalls, der Desorientierung, ja des Kontaktverlustes zu sich selbst durchschreiten. Bei kleinen Kindern wie bei regredierten Patienten beobachten wir, wie sie den Rückweg zu sich selbst, wenn sie sich zu sehr konzentriert haben, nur über die Beziehung zu einem Dritten wiederfinden, der ihre affektive Ganzheit für sie aufbewahrt hat und sie ihnen zurückgeben kann.

Vertraut man nach klasisscher Atempädagogik darauf, dass die begleitenden Bilder und Gedanken wie von selbst wieder verschwinden, wenn man ihnen nicht zu viel Aufmerksamkeit schenkt, dann betrachtet man Gedanken und Gefühle als sekundäre Phänome, als bloßen Überbau für ein als "eigentlich" angesehenes leib-seelisches Substrat. Dabei ist es ja möglich, und dies ist ein universelles menschliches Phänomen, dass e i n Seelen- oder Gedanken- oder Spürinhalt auch zur Abwehr eines anderen dienen kann. Es ist also eine Illusion zu glauben, dass das, was die Hand spürt, nur deshalb immer authentisch und das Ganze sei, weil der Körper doch spricht, und der Körper könne ja nicht lügen. Der Körper wie der Atem können aber genauso gut einer Selbstentfremdung unterliegen oder vom Kern der Person entfernt oder abgespalten sein, wie andere seelische Phänomene auch, selbst wenn die Körperzeichen weniger leicht entstellte Botschaften geben mögen.

Deshalb ist es wichtig - und ich sage dies als Analytiker immer wieder den Analytikern über ihre Fixierung auf die Sprache - sich dem Klienten sozusagen mehrsprachig zu nähern, oder auf verschiedenen modalen Wegen, wie es die Säuglingsforschung ausdrückt: Atem, Blick, Sprache, Bilder, Träume, Beziehungsanalyse, Deutungen, Bewegung und so weiter. Wir hören mit zwei Ohren und sehen mit zwei Augen, und erst beide Organe setzen ein perspektivisches Bild zusammen, das den Gegenstand im Raum ortet.

Unser seelisches und unser körperliches Mitschwingen stellen, neben dem Spüren, Kanäle zur Erhellung des Zustandes des Anderen dar. Unzählige Familiensituationen nötigen uns schon als Kinder, die affektive Wahrheit über uns zu verhüllen oder sie nur gebrochen zu fühlen oder erkennen zu lassen. Dennoch will sie in einer sicheren therapeutischen Umgebung wieder ans Licht. Zwingt man sie aber, sich nur auf einem einzigen Bildschirm, etwa dem der spürenden Hände, zu erscheinen, so verdichten sich im Zwang zur Eindimensionalität auch die frühen Ängste, sich auszuliefern und den Fluß der Wahrheit nicht mehr kontrollieren zu können. Der Grad der Auslieferung erscheint vielen zu groß, wenn der Therapeut über die berührenden Hände alles erfassen will. Jedes Kind macht schon Gebrauch von der Mehrstimmigkeit und Mehrdimensionalität seiner Mitteilungen an die Welt. Es ist ein Zeichen von Autonomie, nicht nur mit einer Zunge oder einem Organ oder über einen sensorischen Kanal zu sprechen.

Ich kehre noch einmal zu meiner eigenen Atemerfahrung zurück mit dem Freund, mit dem ich inzwischen auf so vielen verschiedenen Kanälen kommuniziere. Seine hohe spürende Konzentration auf meinen Atem, die mich unter einen gewissen Leistungsdruck setzte: nämlich zu spüren, wo ich doch auch fühlen und denken wollte, hatte nämlich noch einen ganz unterwarteten Effekt. Es entstand eine Mischübertragung aus Mutter und Gottheit, die zu einem teilweisen Sich-Verschließen führte. Es wäre natürlich genau das umgekehrte denkbar gewesen, wie ich es bei Ilse Middendorf oder GerdassBoyesen vermute: Es gelingt ihnen oder I­hnen, sich als Archetyp der haltenden Mutter oder gar als gute Muttergottheit zu inthronisieren, denen das Kind in uns sich total öffnen kann oder könnte. Der hinzugefügte Konjunktiv enthält eine ganze Theologie der Übertragung oder der Übertragung von Theologie auf die Berührung. Die Bibel, unsere Erziehung und die Kunst ist durchzogen von Bildern des heilenden Handauflegens, und sie prägt in vielen Fällen unsere kindliche Bilderwelt. Beim Vortrag von Dorothe Gutknecht über das "Schwingen" habe ich gemerkt, dass es auch den Archetyp der ermutigenden jungen Fee gibt, der die Thematisierung von so komplizierten Fragen wie Übertragung und Gegenübertragung vielelicht überflüssig macht.

Die Psychoanalyse hat nach langem Widerstand nach der Übertragung auch die Gegenübertragung, also die gefühlshaften Reaktionen des Therapeuten als wichtige Quelle der Erkenntnis wie der Einfühlung akzeptiert, während sie zunächst als Störfaktor galt. Ich hoffe, dass die Atempädagogik und -therapie nicht die Übertragung als Störfaktor betrachtet, sondern als komplizierte und auch komplizierende Quelle des Reichtums in der Begegnung. Die Gegenübertragung ist in der Psychoanalyse mutig durchgesetzt worden von einer Frau, Paula Heimann, die das extrem männliche Denken der Freudschen Psychoanalyse um wichtige Aspekte bereichert hat.

In der Atempädagogik scheint mir das Umgekehrte der Fall, wenn meine Intutition, nicht mein Wissen richtig ist: ihr bisheriger Reichtum beruht weitgehend auf weiblicher Intutition, die dem männlichen Denken und dem dritten Pol der affektiven, symbolhaften und gedanklichen Durchdringung mißtraute. Aber der Reichtum und die Fruchtbarkeit liegt in der Ergänzung. Die Zeit des Kampfes um die Reinheit der Schulen und der Eide auf die exklusive Essentials sollte auch hier vorbei sein. Denn wie weit jemand mit seinen Klienten kommt, liegt nicht so sehr an der puristisch gehandhabten Methode, als an seiner eigenen Reife, der Art seiner Fortbildung und der kreativen Annäherung an seine persönliche Gleichung und sein emotionales und geistiges Temperament. Wir sind dafür verantwortlich, unsere eigene Kreativität zu entfalten und sie nicht ganz in den Dienst methodischer Reinheit zu stellen. Ich glaube sogar, der Klient spürt, wenn wir bei unseren Tun eher gehorchen als schöpferisch tätig sind.

Es fiel mir leider zu spät ein, dass ich mich auf einen Halbstundenvortrag ohne Diskussionszeit nicht hätte einlassen dürfen bei einem so komplexen Thema. Deshalb kann ich nur empfehlen, falls das Problem Sie weiter beschäftigt und Sie wissen wollen, wie ein Psychoanalytiker sich mit Ihren Themen herumschlägt, sich bei der Lektüre des "Stundenbuches" oder des gerade erschienenen Fallberichtes von mir mit dem Titel "Der Erlöser der Mutter auf dem Weg zu sich selbst" in die behandlungstechnischen Fragen zu vertiefen. Dort sind die Schwierigkeiten, in die der Therapeut geraten kann, wenn er sich als Person auf eine nahe Beziehung einlässt, dargestellt.

Ich erlebe Sie in Ihrer berufliche Identität in einer Schwellensituation. Der Glaube an die offenbarende und heilende Kraft des Atems ohne weitere Zugänge zum Menschen trägt nicht mehr vollständig. Indem ich betone, dass auch der Körper sich verstellen und uneindeutige Signale senden kann, die zudem noch vom seelischen Gesamtorganismus abgespalten sein können, mute ich Ihnen zu, mehr Ihrer eigenen Weiterbildung und Ihrem Wachstum zu trauen als nur dem, was Ihnen beigebracht worden ist. Einige Kollegen sprachen von der Trauerarbeit beim Abschied von der Illusion, mit dem Atem schon den für immer tragfähigen und untrüglichen Königsweg zum Menschen gefunden zu haben. Viele Pioniere haben schon von vielen Königswegen geschwärmt und versucht, uns einzuschwören auf alleinseligmachende Einbahnstraßen. Es gilt, den Pionier in uns zu entdecken, der behutsam versucht, die Offenbarungen der Meister mit der eigenen Wahrnehmung und der eigenen Kreativität zu verbinden.