Vorwort zu „Unordnung und spätes Leid“ von Akoluth
2004
Erschütternde Klage, beißende Rache, grübelndes Verstehenwollen und eine brennende Hoffnung auf Versöhnung kennzeichnen diesen Bericht über eine schmerzhaft gescheiterte Psychoanalyse von fast elfjähriger Dauer. Zuweilen ist der Text qualvoll zu lesen, zuweilen spannend, zur Identifizierung einladend, und dann wieder den Leser in die Distanzierung drängend, weil er die Seelenpein nur schwer aushält oder weil er sich weigern möchte, die hilflose Mischung aus enttäuschter Liebe und diffamierendem Bloßstellen zu ertragen. Aber schließlich überwiegt die Einfühlung, wenn man auch mit dem Schicksal der Patientin hadert, sich nicht rechtzeitig aus der Umklammerung und Verstrickung zu lösen und sich in endlosem Werben immer neue Abfuhren zu holen.
Wie kam es dazu? Es ist nicht ganz leicht, sich ein Bild von der Verstrickung zu machen, wenn man nur den einen, den schwächeren Teil zu hören bekommt, der einem aber in der Mischung aus erwachsener Hellsicht und Kampfgeist und kleinkindhafter Hilflosigkeit und symbiotischer Anbindung auch wieder stark vorkommen will. Der Therapeut hatte sich ihrer Bitte, seinerseits das Geschehen zu kommentieren, verweigert. Am Schluss sieht sie, neben dem gepanzerten Riesen, auch nur noch den kleinen Jungen, der sich aus Angst vor seiner eigenen Mutterübertragung verbarrikatiert. Sie ist zur Verfolgerin geworden.
Die ersten eineinhalb Jahre liefen wohl ganz gut. Was sie nicht wissen konnte: ihr Therapeut war in den ersten Zügen einer körpertherapeutischen Fortbildung. Und eines Tages entschloss er sich (kaum geübt, wie er später bekannte), einiges von seinen (vielleicht auch noch missverstandenen) „Techniken“) bei ihr anzuwenden. Aber eben: ohne Vorbereitung, unvermittelt, gleichsam sanft überrumpelnd, ergriff er von seinem Sessel hinter ihr ihre Hand und legte seine Rechte auf ihre Schulter. Dieses plötzliche Eindringen in ihren leib-seelischen Raum erschütterte die Patientin so, dass sie sich davon, wie sich zeigen würde, nie mehr erholte. Innere Grenzen, die bereits durch einen frühen Missbrauch verletzt worden waren und nur durch eine tief vergrabene „Kapsel“ zusammengehalten worden waren, brachen zusammen.
Der analytische Körpertherapeut ist verpflichtet, die seelische Landschaft, in der er Berührung anbietet, zu kennen: die Regressionsstufe, die Ichstärke, die Situation der Übertragung. Und er ist verpflichtet, seine Berührungsphantasien aus der Gegenübertragung anzukündigen, ihre Wirkung vorausphantasieren zu lassen, bevor er sie, mit dem Einverständnis des Patienten, aktualisiert.
Aber davor, vor dem Umschlag in die Katastrophe, standen jene großartigen Flitterwochen, in denen es vor dem Liegen auf der Couch zu vielen Berührungen, Umarmungen, Ermutigungen zum Ausleben ihrer vorher tief verborgenen Sehnsüchte gekommen war. Es ist ohnehin fraglich, ob man bei älteren Patienten, die ohne Partner, ohne libidinöse Zufuhr von außen leben, mit Berührung arbeiten soll: Sie können leicht Lebensersatz werden und zu schwer kontrollierbaren Bindungen, zu Dankbarkeit und Erlösungsvorstellungen führen. So auch in diesem Fall.
Die Patientin lebte in einem Rausch, fühlte sich durch nie gekannte Nähe beglückt, genoss Liebesgefühl und Verschmelzung, und verdrängte unter seinen fast drängenden Rechtfertigungen die leise mahnenden Stimme, die ihr sagten: Das darf doch nicht sein. Der Analytiker versicherte später, er habe damit doch immer nur die „kleine Margret“ gemeint. Er bekam wohl gar nicht mit, dass sie in diffuse Leidenschaft, Verwirrung und Angst geriet. Außerdem wurde ihr zunehmend deutlich, dass es auch sehr eigene Bedürfnisse nach unklarer Nähe waren, die den Therapeuten drängten, ihr immer wieder ein Zuviel an verschmelzender Nähe anzubieten. Auch in seinem stets drängenden Bedürfnis, ihr viel aus seinem Leben zu erzählen, was sie begreiflicherweise, in ihrem Zustand, als eine große Gunst erlebte, trat er ihr zu nahe.
Das Weib erwachte in ihr, das sich selbst nicht mehr vom Baby zu unterscheiden vermochte, es kam zu jener berühmten Verwirrung zwischen Zärtlichkeit und Leidenschaft, über die Sandor Ferenczi schon früh geschrieben hatte. Es wurde deutlich, dass auch der Analytiker eine wenn auch nicht sexuelle, so doch eine fühlbare Liebesübertragung entwickelte und ihr seine Gegenliebe gestand. Nicht umsonst wurde seine Frau erheblich eifersüchtig.
Als ihm das alles zuviel wurde (die Patientin forderte eines Tages, als Siegel der erlösenden, bestätigenden Zuneigung, einen Kuss), zog er sich hinter den von ihr so genannten „Mauern und Barrieren“, ja in seinen „Bunker“ zurück.
Aber das schreiende Baby war nun gebunden an eine auch körperlich verwöhnende Mutter, die hundertprozentiges Annehmen gewähren sollte, was er ja auch, in der unklaren Rolle des umarmenden Mutter-Vaters, gewährt hatte. Sie war süchtig danach geworden, und die restlichen Jahre sind nur noch ein Kampf um Nähe und Distanzierung, von Qual, Vorwürfen und Beschuldigungen, Erpressung, Bettelei.
Sie lässt sich jede Demütigung, jede noch so „kalte Deutung“ gefallen, nur um ihm nahe zu bleiben. Das ist wohl die tiefste Demütigung: unfähig zu sein, sich von etwas tief Schädlichem zu trennen. Damit ist sie über die Wiederholung ihrer schlimmen Kindheitsgeschichte nicht mehr hinausgekommen.
Als ihre seelischen Kräfte dennoch wuchsen, geht sie zum Angriff über, fängt ihrerseits an, zunächst liebevoll, dann ätzend zu deuten, entwertet ihn, verhöhnt ihn, lässt kein gutes Haar an seinen Entschuldigungen, sehnt sich immer noch nach Versöhnung, arrangiert Supervision zu dritt, die sie wiederum verletzt zurücklässt. Sie bedrängt ihn, doch für sich selbst Supervision zu nehmen, um die Analyse zu retten, und wirft ihre Rettungshoffnungen auf die Ethikkommission des Analytikerverbandes und fühlt sich dort zerschmettert, abgewiesen oder missverstanden. Denn, wer beschreibt ihr Erstaunen: Der Analytiker ist an hervorgehobener Stelle selbst Mitglied jener Ethikkommission und gilt als hervorragendes und zu schützendes Mitglied des Gremiums.
Der Analytiker hat schon während der langen Therapie Angst, sie könnte ihn denunzieren, er fleht gerade zu, es nicht zu tun, weil es seine Existenz vernichten könne, und sie gibt innerlich wie äußerlich ein Gelübde ab, es niemals zu tun. Am Ende des mehr als zehnjährigen Stellungskrieges entschließt sie sich, unter schweren Schuldgefühlen, und mit der Mithilfe eines neuen und offensichtlich verständnisvollen Therapeuten, das Gelübde aufzulösen und dieses faszinierende Buch zu schreiben.
Der Analytiker, der in Körperarbeit dilettiert, gleicht jenem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr bändigen und nicht mehr einfangen kann. Er ist bei ihr eingebrochen in jene Ursehnsucht nachVerschmelzung, die fest verdrängt, ja vielleicht ur-verdrängt im Herzen der Patientin schlummerte. Die Berührungen waren nicht mehr ichstärkend und strukturbildend, nicht verabredet, vorbesprochen, in der seelischen Altersstufe lokalisiert, sonderen sie glichen einem Dammbruch, und er war auch nicht mehr in der Lage, sich und ihr zu erklären, was geschehen war.
Sie wusste fortan um seine Angst „verraten“ zu werden, und sie stellte sich um auf Schonung eines Verletzbaren, wie sie es von Mutter und Vater kannte.
Eine frühe Verführungs- und Missbrauchsszene durch einen Pastor kam hinzu, von der sie nicht kurierte worden war, und bei der der Überraschungseffekt und das plötzliche Eindringen in einen intimen Bezirk ebenfalls vorgegeben war.
An manchen Stellen des Buches scheint es zwingend, auch eine religiöse Vorgeschichte anzunehmen, weil das Vokabular von Gnade und Erlösung durch den „Heilsbringer“ fast den Text überbordet. Und gelegentlich fragt man sich, ob der Ausdruck „symbiotische Verschmelzung“ oder Sehnsucht danach noch ausreicht: die Bindung mutet fast siamesisch an, so als ob sie mit seinem Blutkreislauf verbunden bleiben wollte, so stark reagiert sie körperlich auf Veränderungen in der Wärme und Nähe der Beziehung. Dabei war ihr ursprüngliches Analyseziel ja ganz gegenläufig: aus ihren frühen symbiotischen Bindungen heraus zu Freiheit und Autonomie zu gelangen.
Der Analytiker glaubt noch an die Macht der Deutungen; sie aber ist in einem Zustand, wo sie sie entweder nicht versteht oder sie als Trockengemüse ausspeit, weil sie sich verhöhnt fühlt durch eine ihr unverständliche Kälte und einen Rückzug des Analytikers in einen unerreichbaren Bereich der wissenden, aber verletzenden Klugheit.
Mir scheint, und ich weiß das aus eigener schmerzlicher Erfahrung mit einzelnen Patieten, dass der Analytiker in einem Zustand der undurchschaubaren Verfahrenheit der therapeutischen Unternehmung war, in dem man sich nur noch höchst ungern einem Supervisor anvertraut, weil die Scham zu groß geworden ist. Dadurch nimmt aber der Verlust der eigenen Kompetenz zu statt ab. Ich habe aber bereits früher dafür plädiert, dass der Patient seinerseits ein Recht hat, Supervision zu suchen, wenn er das schmerzliche Gefühl hat, es laufe etwas gründlich und auf seine Kosten schief. Die Angst vor dem „Verrat“ hat die Patientin lange davor zurückgehalten, und lange war das Ziel der seiner Schonung stärker als die Impulse zur eigenen Rettung. Vorsichtshalber hatte er ihr schon zu Beginn der Analyse abverlangt, sie dürfe „mit niemand, wirklich mit niemand“, über die Therapie reden.
Es ist nur allzu leicht, sich bei der Lektüre ganz mit der Patientin zu identifizieren. Für den Analytiker war die Therapie, nach dem Bruch der „körpertherapeutischen“ Flitterwochen auch kein Zuckerschlecken mehr, weil er mit der maßlosen Enttäuschung und den Vorwürfen nicht mehr umgehen konnte. Vor einer früheren Beendigung, die wohl ein Segen gewesen wäre, hatte er sicher aus verschiedenen Gründen Angst: Scham vor dem Folge-Therapeuten, vor rächendem Gerede, vor einem aufsehenerregenden Suizid(-Versuch). Das beste wäre vielleicht gewesen, sie an eine ihm vertraute Kollegin zu überweisen, mit dem Eingeständnis, dass er mit seinem Latein am Ende sei. Aber er scheint sich an seine Deutungskunst geklammert zu haben, wurde selbst kühl, aggressiv oder gar zynisch, wurde seiner Gegenübertragung nicht mehr Herr.
Das Buch wirft erneut das Problem einer Ethik der Trennung in verfahrenen Therapien auf, ein Thema, das noch der empathischen und wissenschaftlichen Bearbeitung harrt. Es müsste weniger beschämend sein, eine verquere Unternehmung aufzugeben, als sie, aus Scham oder Angst oder falschem Ehrgeiz, fortzuschleppen.
Als eine späte Selbstheilung kann man die Niederschrift dieses Buches bezeichnen, ein Nachholen des Verstehens, das den beiden Partnern während ihres Kampfes nicht mehr möglich war. Sie scheint gute therapeutische Hilfe gefunden zu haben, und so sieht es aus, als ob die lange und schmerzliche Reise zur Autonomie doch noch glücken könnte.